Erbrecht 8. Doppelstunde, 23. November 2011 8 Die mangelhafte Verfügung
I. Auslegung Die Verfügungen von Todes wegen sind grundsätzlich nach dem Willensprinzip auszulegen. Eine Besonderheit bildet die Auslegung des Erbvertrags. Aus dem Grundsatz der Auslegung nach Willensprinzip ergeben sich folgende Regeln: => Massgebend ist in erster Linie der wirkliche Wille des Erblassers (Vgl. Formulierung in Art. 469 Abs. 3 ZGB, vgl. auch Art. 18 OR). Folie 2/19
I. Auslegung => für die Eruierung des wirklichen Willens ist primär der Wortlaut auszulegen, weil vermutet wird, das das Gesagte auch dem Gewollten entspricht. => für die Auslegung dürfen ausserhalb der Testamentsurkunde liegende Umstände berücksichtigt werden (Entwürfe, Anwaltskorrespondenz, widerrufene Testamente, Briefe, persönliche Situation bei Testamentserrichtung, Ort der Aufbewahrung, Zustand der Urkunde etc.). Folie 3/19
I. Auslegung => aus der Formbedürftigkeit des zu erklärenden Willens leitete das BGer die Andeutungsregel und die Eindeutigkeitsregel ab (vgl. BGE 127 III 529; 133 III 406; Andeutungsregel für Erbverträge aufgegeben, für Testamente offen gelassen). Vgl. auch BSK ZGB II-Breitschmid, Art. 469 N 24 ff.; Raselli, AJP 1999, 1262 ff. => entscheidend sei alleine, ob der Erblasser mit der von ihm gewählten Formulierung dieses Auslegungsergebnis beabsichtigt hat. => weil dem Willen des Erblassers entsprochen werden soll, ist möglichst ein Auslegungsergebnis vorzuziehen, welches die Aufrechterhaltung der Verfügung von Todes wegen ermöglicht => favor testamenti sowie Konversion. Folie 4/19
I. Auslegung => Umstritten ist, ob eine Lücke im Testament ergänzend ausgelegt werden darf, also nach dem hypothetischen Erblasserwillen gefragt werden kann (Lehre eher dafür; BGer eher ablehnend, in BGE 127 III 529 offen gelassen). Das Gesetz stellt verschiedene Auslegungs- bzw. Vermutungsregeln auf: => Zuwendung einer Quote ist im Zweifel eine Erbeinsetzung, nicht Legat (Art. 483 Abs. 2 ZGB). Folie 5/19
I. Auslegung => Zuweisung eines Nachlassobjekts an einen Erben ist im Zweifel Teilungsregel und nicht zusätzliches Legat (Begriff?), Art. 608 Abs. 3 ZGB, vgl. auch Art. 522 Abs. 2 ZGB. => Vermutungen betreffend Ausgleichungspflichten in Art. 626 ff. ZGB. => Zuwendung eines nicht im Nachlass befindlichen Objekts gilt nicht als Verschaffungsvermächtnis (Art. 484 Abs. 3 ZGB). => Zuwendung an Tier gilt als Auflage, für das Tier zu sorgen (Art. 482 Abs. 4 ZGB). Folie 6/19
I. Auslegung => Zeitpunkt des Nacherbfalls ist der Tod des Vorerben, Art. 489 Abs. 1 ZGB. => Vermutung betreffend lediger Anfall, Art. 496 ZGB. => Erbeinsetzung und Vermächtnisse fallen vermutungsweise ersatzlos dahin bei Wegfall des eingesetzten Erben oder Legataren, vgl. Art. 543 Abs. 2 ZGB, Art. 542 Abs. 1 ZGB. Folie 7/19
II. Arten der Mängel Es sind verschiedene Mängel, welche die Ungültigkeit der Verfügung von Todes wegen begründen: => die Hauptanwendungsfälle sind in Art. 519, 520 und Art. 469 ZGB erwähnt => es sind deshalb folgende Mängel denkbar: a) Verfügungsunfähigkeit Folie 8/19
II. Arten der Mängel b) mangelhafter Willen, Art. 469 ZGB => grundsätzlich jeder Irrtum wesentlich, wenn anzunehmen ist, bei Kenntnis der Sachlage hätte der Erblassers anders verfügt => bei Erbverträgen allerdings Grundlagenirrtum erforderlich c) unsittlicher oder rechtswidriger Inhalt oder Bedingung d) Formmangel, Art. 520 und 520a ZGB Folie 9/19
II. Arten der Mängel Achtung: Liegt die Rechtswidrigkeit in der Verletzung der Pflichtteile, so ist dies nicht mir Ungültigkeitsklage, sondern mit Herabsetzungsklage geltend zu machen. Die erbrechtliche Herabsetzbarkeit kann im Gegensatz zur erbrechtlichen Ungültigkeit auch Verfügungen unter Lebenden betreffen. Es gibt auch Mängel, welche die Nichtigkeit zur Folge haben (vgl. unten). Folie 10/19
III. Folgen der Mangelhaftigkeit Grundsätzliche Folge der Mangelhaftigkeit ist die Ungültigkeit und nicht die Nichtigkeit! Ungültigkeit bedeutet, die Verfügung von Todes wegen ist deshalb so lange als gültig zu betrachten, als sie nicht durch Urteil rechtskräftig für ungültig erklärt wurde (Schwebezustand). In Ausnahmefällen kann Nichtigkeit (absolute Unwirksamkeit) vorliegen, z.b. (vgl. Riemer, in FS Max Keller, 245 ff.): Folie 11/19
III. Folgen der Mangelhaftigkeit => fehlender animus testandi (gar nicht Anwendungsfall von Art. 519 ff. ZGB) oder Verletzung der materiellen oder auch formellen Höchstpersönlichkeit. => widerrufene Testamente, bedingte Verfügungen (vgl. auch Art. 120 ZGB) => Klare Verletzung des numerus clausus der Verfügungsformen und -arten (z.b. gemeinschaftliches Testament, reine Unterhaltsstiftung, Verpflichtung zum Abschluss eines Erbvertrags). Folie 12/19
III. Folgen der Mangelhaftigkeit => Verfügungen über dem Erblasser nicht zustehende Sachen oder Rechte (ausser Verschaffungsvermächtnis) oder zu Gunsten im Todeszeitpunkt nicht existierender jur. oder natürlicher Personen oder erbunwürdiger Personen. => extreme Fälle des Formverstosses (z.b. mündliches Testament ohne jegliche Notsituation, ev. auch rein maschinengeschriebenes Testament). => umstritten bei Art. 508 ZGB (Schicksal des Nottestaments bei Wegfall der Notsituation). Folie 13/19
III. Folgen der Mangelhaftigkeit => umstritten auch bei zweifacher Nacherbeneinsetzung, Art. 488 Abs. 2 ZGB. => vexatorische Auflagen oder Bedingungen (Art. 482 Abs. 2 ZGB), nicht aber nur unsittliche oder rechtswidrige Auflagen! Im Zweifelsfall ist von Ungültigkeit und nicht von Nichtigkeit auszugehen, damit keine Fristen verpasst werden. Ungültigkeit muss von den Parteien innert bestimmter Fristen geltend gemacht werden, kann nicht von Amtes wegen ohne Antrag der Parteien berücksichtigt werden. Folie 14/19
III. Folgen der Mangelhaftigkeit Nichtigkeit kann jederzeit geltend gemacht werden und ist von den staatlichen Behörden von Amtes wegen zu berücksichtigen. Speziell geregelt sind die Folgen, wenn der Formmangel darin liegt, dass beim eigenhändigen Testament das Datum unvollständig oder unrichtig angegeben wurde (Art. 520a ZGB): => nur Ungültigkeit, wenn der Zeitpunkt der Errichtung gültigkeitsrelevant ist (z.b. für Verfügungsfähigkeit Reihenfolge versch. Verfügungen, Art. 120 Abs. 2 ZGB), und Folie 15/19
III. Folgen der Mangelhaftigkeit => Zeitpunkt der Errichtung nicht auf andere Weise feststellbar ist. Besteht ein offenbarer Irrtum des Erblassers in Bezug auf Personen oder Sachen (Erklärungsirrtum), dann kann gemäss Art. 469 Abs. 3 ZGB eine Richtigstellung erfolgen, wenn der wirkliche Wille festgestellt werden kann. Es handelt sich letztlich nicht um eine Frage der Ungültigkeit, sondern der Auslegung. Folie 16/19
IV. Geltendmachung der Mängel Grundsätzlich sind die Mängel durch Ungültigkeitsklage geltend zu machen. Die Ungültigkeit kann auch im Rahmen einer Teilungsklage geltend gemacht werden. Kontrovers diskutiert wird in der Lehre namentlich wie die Anfechtung von Erbverträgen zu Lebzeiten durch den Erblasser und den Vertragskontrahenten zu erfolgen hat, sowie die Frage, welche Irrtümer bei Erbverträgen zuzulassen sind (vgl. Übersicht). Folie 17/19