Medizinische Versorgung von Flüchtlingen und geflüchteten Kindern Dialog Versorgungsforschung 24.02.2016 Dr. Victoria Ulrich, Kinderärztin am Evangelischen Krankenhaus, Bielefeld Bethel
Gliederung Medizinische verschiedener Akteure fälle
http://www.unhcr.org/55df0e556.html UNHCR viewpoint: 'Refugee' or 'migrant' - Which is right? News Stories, 27 August 2015
Kurzübersicht: Asylverfahren in Deutschland Informationen und Grafiken u.a. aus dem Flyer Erstorientierung für Asylsuchende des BAMF 28.01.2016 http://www.bamf.de/shareddocs/anlagen/de/publikationen/flyer/flyer-erstorientierung-asylsuchende.html Erstregistrierung und Erhalt der BÜMA Notunterkunft = Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender Verteilung in Bundesländer nach EASY = Erstverteilung von Asylbegehrenden an eine Erstaufnahmeeinrichtung wenige Tage Tage Wochen EAE =Erstaufnahme - einrichtung Zweite EAE ZUE = Zentrale Unterbringungs - einrichtung Asylantragsstellung beim BAMF = Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Interview beim Bundesamt (BAMF) mit Anhörung und Befragung Entscheidung nach etwa 3 Monaten nach etwa 12 Monaten Kommune
Perspektive Flüchtling in Deutschland kompliziertes Meldeverfahren mehrfache Ortswechsel Antragsbearbeitung langwierig prekäre Unterbringung Fremde Unsicherheit über Fortgang Leerlauf, Sinnlosigkeit, Frustration Ausbremsung und Brechen von Persönlichkeiten Ausgrenzung in zunehmend rassistischer Umwelt
UN Kinderrechtskonvention Artikel 24 Gesundheitsvorsorge Jedes Kind hat das Recht auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit, sowie auf Inanspruchnahme von Einrichtungen zur Behandlung von Krankheiten und zur Wiederherstellung der Gesundheit. Keinem Kind ist das Recht auf Zugang zu derartigen Gesundheitsdiensten vorzuenthalten.
medizinische Versorgung Asylsuchender in Dtl. Deutsches Ärzteblatt Jg. 112 Heft 42 16. Oktober 2015 Dr. phil. nat. Sandra Beermann, Dr. Ute Rexroth, Dr. Markus Kirchner, Dr. Anna Kühne, Dr. Sabine Vygen, Dr. Andreas Gilsdorf Asylsuchende grundsätzlich durch gleiche Infektionskrankheiten gefährdet, wie ansässige Bevölkerung Vulnerabler gegenüber Infektionen (aufgrund Migration unter belastenden Bedingungen, weniger Impfschutz, enger Unterbringung) Asylsuchende eher gefährdete Gruppe als gefährdend Erstaufnahmeuntersuchung gemäß 62 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) und 36 Infektionsschutzgesetz (IfSG) als Momentaufnahme, zum Erkennen akuter Infektionen (wie offene Lungentuberkulose). Niedrigschwelliger Zugang zur Gesundheitsversorgung für Asylsuchende notwendig, um Infektionen früh zu erkennen, zu behandeln und die Übertragung zu verhindern.
Erstuntersuchung ( 62 Satz 1 Asylgesetz) Ziel: Übertragung ansteckender Krankheiten in Gemeinschaftsunterkünften vermeiden und ihre Behandlung einleiten. Relevant sind insbesondere schwer verlaufende Erkrankungen oder Krankheiten mit hoher Kontagiosität. Bsp: Tuberkulose, Masern, Windpocken, Gastroenteritis durch Noroviren, Skabies, Läuse Inhalt: offen, kann durch Bundesländer bestimmt werden Empfehlungen über Mindeststandard vom Robert Koch Institut Stellungnahmen von Fachgesellschaften Zunächst unabhängig von individualmedizinischer Versorgung.
Erstuntersuchung Mindeststandard RKI Seite 1 Vorscreening: nach Ankunft in Deutschland durch medizinisch geschultes Personal (nicht ärztlich) um akute Behandlungsnotwendigkeiten zu erkennen, dabei Inaugenscheinnahme und Temperaturmessung Erstuntersuchung 1. Aufklärung 2. Demographische Angaben 3. Impfausweiskontrolle, Impfangebot (STIKO-Empfehlung) 4. Anamnese Vorscreening und Erstaufnahmeuntersuchung für Asylsuchende. Robert Koch Institut. Stand 20.11.2015
Erstuntersuchung Mindeststandard RKI Seite 2 5. Allgemeine orientierende körperliche Untersuchung, Temperaturmessung, Inspektion Gesicht/Hals auf Exantheme (Masern, Windpocken), Inspektion der Hände (interdigital Skabies), ggf. weitere Inspektion (Ausschluss Läuse) 6. Untersuchung auf infektiöse Lungentuberkulose - gesondert unter Tuberkulose Screening Vorscreening und Erstaufnahmeuntersuchung für Asylsuchende. Robert Koch Institut. Stand 20.11.2015
Erstuntersuchung DGPI, GTP, BVKJ Empfehlung Seite 1 Ziel: unvollständigen Impfschutz frühzeitig erkennen und rasch vervollständigen zum individuellen Schutz und um Ausbreitungen von Infektionen zu verhindern übliche Infektionskrankheiten im Kindes- und Jugendalter, auch vor dem Hintergrund von Sammelunterkünften, Sprachbarrieren und unterschiedlichen kulturellen Auffassungen, diagnostizieren und behandeln in Deutschland seltene Infektionskrankheiten (z. B. Tuberkulose, Malaria, Dengue-Fieber, kutane Leishmaniose) frühzeitig erkennen und therapieren Empfehlungen zur infektiologischen Versorgung von Flüchtlingen im Kindes- und Jugendalter in Deutschland. Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie, der Gesellschaft für Tropenpädiatrie und Internationale Kindergesundheit und des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte Monatsschrift Kinderheilkunde 2015 163:1269-1286 J. Pfeil, R. Kobbe, S. Trapp, C. Kitz, M. Hufnagel
Erstuntersuchung DGPI, GTP, BVKJ Empfehlung Seite 2 Empfehlungen zur infektiologischen Versorgung von Flüchtlingen im Kindes- und Jugendalter in Deutschland. Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie, der Gesellschaft für Tropenpädiatrie und Internationale Kindergesundheit und des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte Monatsschrift Kinderheilkunde 2015 163:1269-1286 J. Pfeil, R. Kobbe, S. Trapp, C. Kitz, M. Hufnagel
Was zuerst impfen? Epidemiologisches Bulletin 41/2015 STIKO-Empfehlung zur Priorisierung von Imfpungen
Tuberkulose Screening ( 36 Absatz 4 Infektionsschutzgesetz) Ziel: Ausschluss ansteckungsfähiger Lungentuberkulose Rationale: relativ höheres Erkrankungsrisiko, epidemiologische Entwicklung (leicht steigende Fallzahlen), Fallfindungsraten Methode: >15J und nicht schwanger -> Röntgen Thorax 5-15J -> IGRA (Quantiferon) oder Tuberkulin Haut Test <5J -> Tuberkulin Haut Test, wenn nicht möglich IGRA Tuberkulosescreening bei asylsuchenden Kindern und Jugendlichen < 15 Jahren in Deutschland. Stellungnahme der Arbeitsgruppe AWMF-Leitlinie Tuberkulose im Kindes- und Jugendalter: Diagnostik, Prävention und Therapie unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie Monatsschrift Kinderheilkunde 2015 163:1287-1292 N. Ritz, F. Brinkmann, C. Feiterna-Sperling, B. Hauer, W. Haas, Arbeitsgruppe AWMF-Leitlinie Tuberkulose im Kindes- und Jugendalter: Diagnostik, Prävention und Therapie; Thorax-Röntgenuntersuchungen bei Asylsuchenden1 gemäß 36 Absatz 4 IfSG Stellungahme des Robert Koch-Instituts vom 05.10.2015
Versorgung Individualmedizin und Bevölkerungsgesundheit unter Berücksichtigung von Besonderheiten Modelle: Aufsuchender Gesundheitsdienst, z. B. als örtliche Sprechstunde/ Poliklinik in der Gemeinschaftsunterkunft Integration in bestehende Strukturen
Beobachtungen aus Bremen Flüchtlinge im Regelsystem versorgen Monika Lelgemann Zahra Mohammadzadeh vom Bremer Gesundheitsamt zur Gesundheitsversorgung von Flüchtlingen. Soziale Sicherheit 11/2015 S400-404 Zahnschmerzen, Karies, grippale Infekte, Erkältungskrankheiten, Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Krätze, Hautkrankheiten, natürlich auch einige chronisch Erkrankte, entsprechend der deutschen Alterskohorte, tendenziell aber gesünder, Erschöpfung und schlechte Unterbringung haben Auswirkungen, in der ersten Phase spielt das Thema Traumatisierung eine weniger große Rolle
Beobachtungen aus Halle (Saale) Verloren im Räderwerk: Eine interdisziplinäre Studie zur Gesundheit und medizinischen Versorgung von Asylsuchenden in Halle (Saale). Amand Führer, Friederike Eichner. 1. Auflage Dezember 2015
Pilotstudie mit 102 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in Bielefeld Marquardt, L., Krämer, A., Fischer, F. and Prüfer-Krämer, L. (2016), Health status and disease burden of unaccompanied asylum-seeking adolescents in Bielefeld,Germany: cross-sectional pilot study. Tropical Medicine & International Health, 21: 210 218. doi: 10.1111/tmi.12649 hohe Prävalenz für Infektionen (58,8%), wobei auch parasitäre Erkrankungen häufig sind (19,6%), Eisenmangelanämie (17,6%), psychiatrische Erkrankungen (13,7%), dabei Mädchen häufiger (25,0%) betroffen als Jungen (10,3%)
fehlen Gesundheitsberichtserstattung meldepflichtige Erkrankungen Abrechnungsdaten bei Landesbehörden Krankenversicherungdaten Sentinel-Ebene mit ausgewählten -übermittelnden Praxen / Gesundheitsämtern Kontinuität von Patientendokumentation Gesundheitsversorgung von Geflüchteten. Zu gesicherten kommen Deutsches Ärzteblatt 2016; 113(4): A-130 / B-111 / C-111 O. Razum, A. Bunte, A. Gilsdorf, T. Ziese, K. Bozorgmehr
Mögliche fälle 1 Junger Mann mit Freunden in Deutschland. Flucht über Italien. Dort Registrierung erfolgt. Gesundheitliche Probleme in Deutschland. Keine Papiere. Registrierung würde zur Feststellung führen, dass Italien sein Asylgesuch bearbeiten muss. Bei Inanspruchnahme des Gesundheitswesens droht namentliche Meldung. Trotz Abwartens wird gesundheitliche Versorgung dann notwendig. Diese wird über Verein finanziert. Ressourcen: Freundschaften vor Ort, unterstützende Menschen Barrieren: Illegalität, Angst vor Entdeckung, Angst vor Abschiebung,
Mögliche fälle 2 Junge Frau aus einem refugee producing country, schwanger. Partner war auch auf der Flucht, nun getrennt. Entstehung der Schwangerschaft? Erleidet Frühgeburt. Unterbringung dezentral, eigenes Zimmer, aber Durchgangszimmer. Rassismuserfahrung (auch im Kontakt mit anderen Geflüchteten). Ressourcen: Freunde ihres Kulturkreises, Gemeinde, Ehrenamtliche Barrieren: Unkenntnis über Gesundheitswesen, Sprachbarriere, kulturelle Missverständnisse, schlechterer Service des Dienstleisters,
Mögliche fälle 3 Krebskrankes Kind mit Familie. Fluchtgeschichte teilweise anhand von Arztbriefen auf türkisch und griechisch nachvollziehbar. Versorgung im Krankenhaus. Familie in guter Gemeinschaftsunterkunft untergebracht. Registrierung, Termine. Sind die Transporte von der Unterkunft in die Klinik zu Besuchen mit Taschengeld bezahlbar? Umverteilung nach Detmold. Wird die Behandlung fortgesetzt? Ressourcen: Familienzusammenhalt, Vertrauen in Versorger und System, viele Konsultationen und (Teil-)Therapien geben Sicherheit, Barrieren: nur Teiltherapien, viele Konsultationen geben Unsicherheit, viele bürokratische Aufgaben, ständige Ortswechsel,
Fazit Probleme und Fragen: Was sind die medizinischen Bedarfe von Geflüchteten? Wie sind diese am besten zu decken? Werden alle erreicht? Herrscht Gleichbehandlung? Welches System und Modell ist am besten geeignet? Perspektiven: Öffnung der Gesellschaft. Versorgunssysteme neu denken. Integration in bestehende Systeme, die sich hinsichtlich ihrer Flexibilität (u.a. bzgl. Interkulturalität) beweisen müssen. Barrieren abbauen, Hilfen zur Realisierung von Gleichbehandlung bereitstellen.