Verantwortlich leben - selbstbestimmt sterben? Dr. Heinz Rüegger ev.-ref. Kirchgemeinde Muri Gümligen 27. Oktober 2015 1
Geschichtlicher Wandel im Umgang g mit Medizin und Sterben Es gibt immer mehr Möglichkeiten medizinischer Interventionen zur Lebensverlängerung > Sterben wandelt sich vom Schicksal zum Machsal Machsal (Odo Marquard) Frank Nager: Im (20. Jh.) hat sich die moderne Heiltechnik zu einer gigantischen Veranstaltung gegen Sterben und Tod entwickelt. Von Berufs wegen ist der Tod unser Feind, um nicht zu sagen unser Todfeind. Krankenhäuser wollen nicht Sterbehäuser sein. 2
Medikalisierung, Institutionalisierung, Professionali- sierung des Sterbens ( medizinisch kontrolliertes Sterben ) Angst vor - technischer Verfremdung des Sterbens - professioneller Fremdbestimmung beim Sterben - Leidensverlängerung durch Lebensverlängerung - lange Phase der Pflegebedürftigkeit (Demenz, Koma) - Verlust der Würde beim Sterben - Verunmöglichung, rechtzeitig sterben zu dürfen. 3
Ethischer und rechtlicher Paradigmenwechsel vom Ärztepaternalismus zur Patienten-Autonomie (medizinisch-therapeutische Interventionen müssen medizinisch und individuell indiziert sein!) Forderung nach einem - Recht auf ein selbst bestimmtes Sterben - Recht auf den eigenen Tod Diese Forderung ist ambivalent! Ich behandle - zuerst den problematischen Aspekt - dann den legitimen Aspekt 4
Selbstbestimmung als Voraussetzung für Sterben in Würde? Zunehmend sich ausbreitende Vorstellung, ein würdiges Sterben sei nur dann gegeben, g - wenn der Sterbende über Zeitpunkt, Ort und Art des Sterbens selbst bestimme, - wenn das Sterben geplant und kontrolliert t werde, - wenn das Sterben bei Bewusstsein und ohne lange vorangehende Leidenszeit erfolgt, - wenn der Sterbende anderen möglichst wenig zur Last fällt. 5
Daniel Callahan: Die Forderung nach Kontrolle und die Ablehnung eines Todes, wie er sich ereignet, wenn wir ihn unmanipuliert geschehen lassen, sind nicht nur stark, sie sind für viele eine Leidenschaft geworden. Das einzige Übel, das grösser scheint als der persönliche Tod, wird zunehmend der Verlust der Kontrolle über diesen Tod. Joseph Fletcher: Die Kontrolle des Todes ist wie die Geburtenkontrolle eine Frage menschlicher Würde. Ohne solche Kontrolle werden Personen zu Marionetten. USA: death control movement 6
Dadurch wird das Sterben zur letzten grossen Gestaltungsaufgabe des Menschen, die er eigenverantwortlich und würdig zu leisten hat. Und die Würde des Sterbens wird abhängig - von eigener Leistung des Sterbenden - von empirischen Faktoren des Sterbens - von der Plan-, Kontrollier- und Machbarkeit des Sterbeprozesses. 7
Kritik: - aus dem Recht auf den eigenen Tod wird ein gesellschaftlicher h Zwang/Leistungsdruck zu einem guten / würdigen /selbst bestimmten/verantworteten Sterben - Überforderung des Sterbenden (physisch-psychisch und moralisch) - Druck in Richtung rechtzeitiges Sterben/assistierten Suizid ( sozialverträgliches Frühableben ) - Kontroll- und Machbarkeitswahn als Kehrseite der Unfähigkeit, sich auf die passive/rezeptive/ unverfügbare Dimension des Lebens einzulassen 8
Selbstbestimmung beim Sterben als Konsequenz aus gegebener Menschenwürde Anderer Ansatz bei normativem Würdeverständnis: Menschenwürde ist jedem Menschen unverlierbar gegeben. Er kann sie auch durch einen noch so schwierigen Sterbeprozess nicht verlieren. Würde beinhaltet u.a. - den Anspruch auf Selbstbestimmung (Autonomie) - im Sinne eines Abwehrrechts im Blick auf Fremdbestimmung in persönlichen Angelegenheiten. g 9
Dieser Anspruch auf Selbstbestimmung gilt grundsätzlich auch beim Sterben! Bundesgerichtsentscheid vom 03.11.06: Zum Selbstbestimmungsrecht im Sinne von Art. 8 Ziff. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention gehört auch das Recht, über Art und Zeitpunkt der Beendigung des eigenen Lebens zu entscheiden. Selbstbestimmung als Konsequenz aus gegebener Menschenwürde, nicht als Bedingung für eine herzustellende Würde des Sterbenden! 10
Anspruch auf Selbstbestimmung beim Sterben meint primär - die Forderung an das (v.a. medizinische) Umfeld, sich in der Betreuung des Sterbenden soweit wie möglich an dessen Willen zu orientieren - nicht die Forderung an den Sterbenden zu eigenverantwortlicher Gestaltung seines Sterbens! Theologisch: Gott schenkt uns Freiheit zum Leben, es zu verlängern oder zu beenden. Wir dürfen selber verantwortlich entscheiden > keine Pflicht zu leben! 11
Klinische Entscheide beim Sterben Selbstbestimmung im Sterben wird immer wichtiger, weil in CH in 51 % der Fälle ärztlich begleiteten Sterbens erst nach entsprechenden Entscheiden gestorben wird: - Passive Sterbehilfe: Verzicht auf lebensverlängernde lä Massnahmen - Indirekte Sterbehilfe: Schmerzbekämpfung unter Inkaufnahme allfälliger lebensverkürzender Effekte - Assistierter Suizid: Suizidbeihilfe à la EXIT G. D. Borrasio geht davon aus, dass sogar in ca. 75 % der Sterbefälle in CH solche Entscheide anstehen! 12
Das Sterben unterliegt heute in vielen Fällen nicht mehr einfach - dem Wirken der Natur - dem Walten des Schicksals - dem Willen des Herrn über Leben und Tod (= Gott) - dem Entscheiden des Arztes, sondern richtet sich nach dem Willen des Betroffenen! Klinische i Entscheidungsgrundlage: dl - medizinische Indikation/Nutzen - plus bei urteilsfähigen Patienten: ihr aktueller Wille - plus bei urteilsunfähigen Patienten: ihr mutmasslicher Wille 13
Während Jahrtausenden mussten nur Selbstmörder über ihr Sterben entscheiden heute müssen wir immer häufiger über unser Sterben selber entscheiden, auch wenn wir eines natürlichen Todes sterben wollen! Unsere Selbstbestimmung gilt also auch im Sterben ob wir wollen oder nicht Diese Situation ist etwas Neues wir wollen oder nicht. Diese Situation ist etwas Neues. 14
Es ist gar nicht immer so einfach, sich einen autonomen Willen im Blick auf das eigene Sterben zu bilden: - Sterbesituationen sind nur begrenzt existenziell antizipierbar (Grenzen von Patientenverfügungen!). - In schwierigen Entscheidungssituationen gehen wir oft durch eine Phase starker Ambivalenzen. - Wir brauchen klärende Gespräche mit kompetenten/ vertrauten Personen, um einen autonomen Willen zu bilden. 15
Selbstbestimmung zwischen Hinnahme und Gestaltung Wir stehen heute in einer Spannung zwischen - fragwürdigen Forderungen an den Einzelnen, jeder müsse ein gutes Sterben selbstbestimmt, eigenverantwortlich und würdig gestalten, und - dem legitimen Anspruch jedes Einzelnen, dass sein Wille im Blick auf sein eigenes Sterben vom medizinischen und sozialen Umfeld respektiert werde (im Sinne der Patientenautonomie). 16
Wir stehen heute im Blick auf unser Sterben vor einer doppelten Herausforderung. Erste Herausforderung: Lernen, uns so mit dem Sterben auseinanderzusetzen, dass wir uns im Blick auf anstehende Entscheidungen eine eigene Meinung bilden können (= Aspekt des Gestaltens). Dazu brauchen wir das Gespräch mit nahestehenden Bezugspersonen, ev. mit medizinischen Fachleuten. Hilfreich kann sein, im Blick auf die medizinischen Aspekte die Punkte einer Patientenverfügung durchzugehen, z.b. die 4-seitige Version von FMH+SAMW (www.fmh.ch > Patientenverfügung). 17
Zweite Herausforderung: Lernen, einen Zugang zu den passiven Seiten des Lebens zu gewinnen: dass es Dinge wie das Sterben gibt, die wir nicht selber bis ins Letzte kontrollieren, verantworten und bestimmen müssen, denen wir uns einfach offen und vertrauensvoll stellen können (= Aspekt des Hinnehmens). Sozial, psychisch und spirituell gehört es zu menschlicher Reife, sich aus der eigenen Hand geben und anderen Händen anvertrauen zu können. 18
Beide Aspekte das aktive Gestalten und das passive Hinnehmen gehören zu einem humanen, selbst bestimmten t und verantworteten t t Sterben jenseits von Verantwortungslosigkeit und Kontrollzwang. Es muss alles Mögliche getan werden, damit Menschen in der Spannung von Gestaltung und Hinnahme ihr eigenes Sterben als zentrales existenzielles Widerfahrnis aushalten und durchleben können, - ohne unerwünschte Lebensverlängerung - und wenn immer möglich ohne den letzten Ausweg (ultima ratio) eines Suizids nehmen zu müssen. - Wenn Menschen für sich einen Suizid wählen wollen, ist ein assistierter Suizid in jedem Fall vorzuziehen. 19
Es kann durchaus Ausdruck menschlicher Selbstbestimmung und Reifung sein, wenn jemand sein eigenes Sterben, auch wenn es mühsam ist, erträgt. t Monika Renz spricht von der Würde des Aushaltens. Auch darin können Menschen die Erfahrung ihres eigenen Todes machen. 20
Besten Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Dr. Heinz Rüegger MAE Institut Neumünster Neuweg 12, 8125 Zollikerberg E-Mail: heinz.rueegger@institut rueegger@institut-neumuenster.ch 21