Wirtschaftsfreiheit
Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit Art. 94 BV als «grundlegendes Ordnungsprinzip einer auf marktwirtschaftlichen Prinzipien beruhenden Wirtschaftsordnung» (BGE 138 I 378) Art. 27 BV als «individualrechtlicher Gehalt» dieses Prinzips Art. 27 BV Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit als Individualrecht Wirtschaftsverfassung Art. 94 BV ff Art. 94 BV Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit als Ordnungsprinzip Seite 2
Funktion der Wirtschaftsfreiheit Individualrechtliche Funktion (Art. 27 BV): Anspruch auf wirtschaftliche, insb. berufliche Entfaltung Wirtschaftspolitisch-institutionelle Funktion (Art. 94 BV): Bund ist verpflichtet, Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit zu wahren und den freien Wettbewerb zu schützen Bundesstaatliche Funktion (Art. 95 Abs. 2 BV): Bund schafft einheitlichen schweizerischen Wirtschaftsraum Seite 3
Persönlicher Schutzbereich Inländische natürliche und juristische Personen Ausländische Personen: o Natürliche Personen mit uneingeschränkter Zulassung auf dem Arbeitsmarkt (z.b. wegen Niederlassungsbewilligung, Ausländergesetz, Staatsvertrag etc.) o Ausländische juristische Personen, wenn aufgrund eines Staatsvertrags Anspruch auf wirtschaftliche Tätigkeit besteht Nicht jedoch Gemeinwesen und staatliche Angestellte (z.b. Notare, Ärzte in öffentlichen Spitälern etc.) Art. 27 BV schützt nur privatwirtschaftlich tätige Personen Seite 4
Sachlicher Schutzbereich Schutz der gewerbsmässigen privatwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit o BGE 109 Ia 116 E. 4b: Eine solche Tätigkeit liegt vor, wenn Privatrechtssubjekte Güter oder Dienstleistungen zu einem Markt- oder Geldwert herstellen, anbieten, erwerben oder weitergeben. o o o o o Nicht: staatliche Tätigkeiten Ausschlaggebend für Gewerbsmässigkeit ist Austauschverhältnis Keine Gewinnerzielung notwendig, Kostendeckung reicht aus Unerheblich ob Gewerbe gesellschaftlich akzeptiert Irrelevant: Selbstständig oder unselbstständig; haupt- oder nebenberuflich; dauernd oder gelegentlich Seite 5
Sachlicher Schutzbereich Schutz des Einzelnen in seiner wirtschaftlichen Entfaltung o Freie Wahl und Ausübung des Berufes o Freier Marktzugang o Freie Ausübung der Berufstätigkeit o Vertragsfreiheit o Werbefreiheit o Freie Wahl der Unternehmensform, der Mitarbeitenden und der Gestaltung der Betriebsverhältnisse Seite 6
Sachlicher Schutzbereich Ansprüche auf staatliche Leistung? o Bedingter Anspruch auf Benutzung des öffentlichen Grundes o Vgl. BGer., 8C_930/2015, E. 6.2: «[Art. 27 BV] verschafft unter Vorbehalt des bedingten Anspruchs auf gesteigerten Gemeingebrauch jedoch grundsätzlich keinen Anspruch auf staatliche Leistungen.» o Anspruch auf Gleichbehandlung von direkten Konkurrenten Seite 7
Sachlicher Schutzbereich Ansprüche auf staatliche Leistung? o Kein Anspruch auf höhere Bildung o Zulassungsbeschränkungen und Studiengebühren zulässig o Vgl. BGer., 8C_930/2015, E. 6.2: «Art. 27 Abs. 2 BV gibt keinen Verfassungsanspruch darauf, dass bestimmte Berufe von allen Personen ungeachtet ihrer individuellen Fähigkeiten (Vermögen, Gesundheit, Begabung) ergriffen und ausgeübt werden dürfen.» Seite 8
Einschränkung Prüfungsschema 1. Grundsatzkonformität (Art. 94 BV) 2. Schranken nach Art. 36 BV o Gesetzliche Grundlage (Art. 36 Abs. 1 BV) o Öffentliches Interesse (Art. 36 Abs. 2 BV) o Verhältnismässigkeit (Art. 36 Abs. 3 BV) o Kerngehalt (Art. 36 Abs. 4 BV) 3. Gleichbehandlung von direkten Konkurrenten Seite 9
Einschränkung Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit (Art. 94 BV) Verbot wettbewerbsverzerrender, wirtschaftspolitischer Eingriffe o Bspw.: Förderung einzelner Gewerbezweige, Behinderung des freien Wettbewerbs, planmässige Wirtschaftsordnung o Dem öffentlichen Interesse (öffentliche Sicherheit, Ordnung, Gesundheit) dienende Massnahme ist grundsatzkonform, die primäre Zielsetzung muss aber wettbewerbsneutral sein Abweichungen von diesem Grundsatz sind zulässig, wenn in der Verfassung vorgesehen oder durch kantonale Regalrechte begründet (Art. 94 Abs. 4 BV) Seite 10
Einschränkung Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit Eingriffe - Grundsatzkonform = nicht wirtschaftspolitisch motiviert «die polizeilichen oder sozialpolitischen Massnahmen sowie durch die Erfüllung anderer öffentlicher Interessen gebotenen Massnahmen, mit Ausnahme namentlich der wirtschaftspolitischen Massnahmen» und zwar auch dann, wenn sie faktisch wettbewerbsbeschränkend wirken - Grundsatzwidrig: Massnahmen, die von der Zielsetzung her den freien Wettbewerb beeinträchtigen oder behindern sollen, um gewisse Gewerbezweige oder Bewirtschaftungsformen zu sichern oder zu begünstigen oder die privatwirtschaftliche Tätigkeit oder die Wettbewerbsordnung auszuschalten bzw. das Wirtschaftsleben nach einem festen Plan zu lenken Grundsatzwidrige Eingriffe gem. Art. 94 Abs. 1 BV unzulässig; aber ausnahmsweise gem. Abs. 4 zulässig wenn Voraussetzungen gem. Abs. 4, dann Zulässigkeit gem. Art. 36 BV ermitteln 06.10.2016 Seite 11
Einschränkung Grundsatz der Wirtschaftsfreiheit Beispiele für explizite Abweichungen in der BV: Konjunkturpolitik (Art. 100 Abs. 3 BV) Aussenwirtschaftspolitik (Art. 101 Abs. 2 BV) Landwirtschaft (Art. 104 Abs. 2 BV) Beispiele für implizite Abweichungen durch Monopole des Bundes: Eisenbahnen, Seilbahnen, Schiff-, Luft- und Raumfahrt (Art. 87 BV) Kernenergie (Art. 90 und 118 Abs. 2 lit. c BV) Beispiele für kantonale Regalrechte: Historische Regale, z.b. Jagd- und Fischereiregal Neuere Monopole, z.b. im Bereich Elektrizitätsversorgung Seite 12
Einschränkung Art. 36 BV Gesetzliche Grundlage o Für schwerwiegende Einschränkungen Grundlage im formellen Gesetz erforderlich Verbot einer Erwerbs- oder Geschäftstätigkeit Einführung einer Bewilligungspflicht Einführung eines Monopols o Für nicht schwerwiegende Einschränkungen Rechtsgrundlage auf Verordnungsstufe ausreichend o Bei system- oder grundsatzwidrigen Eingriffen ist zusätzlich zur gesetzlichen Grundlage eine Grundlage in BV oder kantonalem Regalrecht erforderlich Seite 13
Einschränkung Art. 36 BV Grundsatzkonform Öffentliches Interesse o Sozialpolitische Interessen Verbot von Geldspielautomaten o Öffentliche Sicherheit Kampfhundeverbot o Öffentliche Gesundheit Rauchverbote o Öffentliche Ordnung o Raumplanerische Interessen o Kultur-, Umwelt-, Energie-, Gesundheitspolitik Quelle: www.landbote.ch Quelle: www.aargauerzeitung.ch Quelle: www.srf.ch Seite 14
Einschränkung Art. 36 BV Öffentliches Interesse o Für systemkonforme/grundsatzkonforme Eingriffe (d.h. solche, die auf grundsatzkonformen öffentlichen Interessen beruhen) gelten die allgemeinen Bestimmungen gemäss Art. 36 BV o Systemwidrige/grundsatzwidrige Eingriffe (d.h. solche, denen eine wirtschafts- oder standespolitische Zielsetzung zugrunde liegt) erfordern eine Grundlage in BV oder kantonalen Regalrechten (Art. 94 Abs. 4 BV) Seite 15
Einschränkung Art. 36 BV Verhältnismässigkeit o Verhältnismässig: Generelles Tabak- und Alkoholwerbeverbot auf öffentlichem Grund (BGE 128 I 295) Bewilligungspflicht für Ausübung der Reflexologie (BGE 109 Ia 80) o Unverhältnismässig: Quelle: www.nzz.ch Verbot der Verteilung von Werbung auf öffentlichem Grund (BGE 131 I 223) Kantonales Plakatmonopol, das auch privaten Grund erfasst (BGE 128 I 3) Seite 16
Einschränkung Art. 36 BV Kerngehalt o Individualrechtlicher Kerngehalt Anspruch auf Ausübung eines Berufes Freie Wahl des Berufes Verbot der Zwangsarbeit Berufsverbote verletzen Kerngehalt nicht o Wirtschaftspolitisch-institutioneller Kerngehalt Schutz der marktwirtschaftlichen Ordnung Vertragsfreiheit Seite 17
Einschränkung Gleichbehandlung der direkten Konkurrenten Wettbewerbsneutralität des Staates Einzelne Marktteilnehmer dürfen grundsätzlich nicht begünstigt oder benachteiligt werden Gerichtlich einklagbarer Individualanspruch auf Gleichbehandlung (BGE 131 II 271) Als Konkurrenten gelten «Angehörige der gleichen Branche, die sich mit dem gleichen Angebot an dasselbe Publikum richten, um das gleiche Bedürfnis zu befriedigen.» (BGE 125 I 431) aktuell: Taxi/Uber Gilt nicht absolut, aus öffentlichen Interessen kann eine gewisse Ungleichbehandlung gerechtfertigt sein o Z.B. öffentliche Sicherheit oder Umweltschutz Seite 18
Einschränkung - Übersicht Prüfung der Grundsatzkonformität (Art. 94 Abs. 4 BV) Führt Massnahme zu Verzerrung oder Ausschaltung des Marktes? Wenn ja, ist der Eingriff selber das Eingriffsmotiv oder dient er einem grundsatzkonformen öffentlichen Interesse? Massnahme weicht nicht vom Grundsatz ab Massnahme weicht vom Grundsatz ab Besteht eine Grundlage in der BV oder gibt es ein entsprechendes kantonales Regalrecht? Ja Sind die Einschränkungsvoraussetzungen nach Art. 36 BV gegeben? Ist die Gleichbehandlung der direkten Konkurrenten erfüllt? Nein Ja Nein Massnahme ist zulässig Massnahme unzulässig Schema nach BIAGGINI, ius.full 2003, S.10 Seite 19