Bedroht Big Data Grundprinzipien der Versicherung?

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Transkript:

Prof. Dr. Peter Albrecht Bedroht Big Data Grundprinzipien der Versicherung? 1. Ausgangspunkte Der digitale Wandel schreitet in allen Lebensbereichen unaufhaltsam voran. Die Digitalisierung gilt als Schlüsseltechnologie der Zukunft. Wie jede technologische Entwicklung ist jedoch auch die Digitalisierung nicht nur mit Chancen verbunden, sondern auch mit Risiken echten oder auch nur vermeintlichen. Im Kontext versicherungswirtschaftlicher Anwendungen wird hier neben der fundamentalen Frage des Datenschutzes (Gefahr des gläsernen Kunden ) vor allem thematisiert, dass Big Data (oder auf gut deutsch: Massendaten) als eine 1 der zentralen digitalen Technologien in letzter Konsequenz sogar Grundprinzipien der Versicherung bedrohen könne. Im Weiteren seien einige symptomatische Aussagen zu dieser These wiedergegeben. Versicherung nach dem Prinzip der kleinen Zahl kann nicht funktionieren. Big Data & Analytics ermöglichen zwar eine bessere Erfassung von Risiken, doch daraus abgeleitete Produkte... bedrohen das Fundament der Solidarität bis hin zu einer Atomisierung der Kollektive. Die Unternehmen müssen sich der Bedrohung des Versicherungsgedankens stellen und nicht technikeuphorisch die Entwicklung als unweigerlich akzeptieren. 2 Wenn wirklich das Risiko jedes Einzelnen bewertet wird, dann teilen wir diese Risiken nicht mehr. 3 Wenn alle an ihre Gesundheit angepasste Prämien zahlen, wird das Solidarsystem ausgehebelt, das Prinzip einer Versicherung. 4 Mit Big Data droht gerade denen, die eine bezahlbare Absicherung am dringendsten nötig haben, das Aussieben aus dem Kollektiv. Denn wenn die guten Risiken mit niedrigeren Preisen belohnt werden, müssen die schlechten Risiken bestraft werden. 6 Eine der wesentlichen Herausforderungen von Big Data liegt in der Gefahr einer schleichenden Entsolidarisierung in der Versicherung. 6 Zwar haben passgenaue Versicherungsangebote einen großen Charme für viele Verbraucher, doch dürfe dieser Trend nicht zum Ende der Solidargemeinschaft führen. Denn ansonsten würden nur noch gesunden und jungen Menschen attraktive Prämien angeboten und Ältere sowie Kranke wären die Verlierer der digitalisierten Welt. Gesundheitsverträge auf Einzelfallbasis statt des funktionierenden Solidarprinzips sind nicht im Interesse der Mehrheit der Verbraucher. 7 Die immer weitergehende Individualisierung stelle das Grundprinzip von Versicherungen als einer Institution zur Übernahme von Risiken des Lebens durch einen Ausgleich im Versichertenkollektiv in Frage. 8 Die vorstehend dargestellten Argumente werden vorgebracht von führenden Vertretern der Versicherungsaufsicht, der Vorsitzenden des deutschen Ethikrates, einem Moralphilosophen, dem Präsidenten des Verbandes Deutscher Versicherungsmakler, Vertretern der Versicherungswissenschaft, einem Staatsekretär sowie dem Vizepräsidenten des BVK. Die Diskussion ist somit offenkundig keine Außenseiterdiskussion. Umso mehr belegt dies die Notwendigkeit, sich mit den vorgebrachten Argumenten aus versicherungswissenschaftlicher Sicht fundamental auseinanderzusetzen. Dies ist das Ziel des vorliegenden Beitrags. Aus unserer Sicht kann man aus den vorstehend angeführten Zitaten die folgenden zentralen Grundprinzipien der Versicherung destillieren, die im Rahmen der weiteren Diskussion zu adressieren sind: Kollektiv, Solidarität und Gesetz der großen Zahl. Im Hinblick auf die hier im Mittelpunkt stehende Diskussion gehen mit Big Data in der Versicherungswirtschaft zwei Entwicklungen einher. Zum einen wächst die Menge der zur Verfügung stehenden Daten rasant. Insbesondere können auf der Basis neuer Technologien auch neuartige Daten, beispielsweise individuelle Verhaltens- und Gesundheitsdaten, erhoben werden. Zum anderen erlaubt es die zunehmende Leistungsfähigkeit von Computern neuere Verfahren 9,10 ( Big Data Analytics ) zur Analyse und Auswertung dieser Daten einzusetzen. Beide Entwicklungen verstärken sich gegenseitig und erlauben es, versicherte Risiken besser bewerten und Prämien risikogerechter (und damit quasi automatisch auch individueller) festsetzen zu können. Dem Grunde nach kann man aber die geführte Diskussion weitgehend von der Big Data-Thematik loslösen. Big Data verleiht der Diskussion um die Notwendigkeit und die Konsequenzen risikogerechter Prämien, die in der Literatur immer wieder geführt worden ist, nur eine neue Aktualität (wenn auch sicherlich mit einer neuen Dimension, da das Ausmaß der Prämiendifferenzierung verstärkt werden kann und verhaltensbezogene Daten einbezogen werden können). Insofern sind die im Weiteren dargelegten Gedankengänge und Argumente zumindest teilweise bereits seit Langem in der Literatur zu finden 11. Aber daneben bietet die vorliegende Ausarbeitung auch ergänzende, erweiternde und vertiefte Ausführungen. Aus unserer Sicht sind bei der Erörterung der Thematik zwei Themenkomplexe zu unterscheiden: 1) Themenkomplex 1: Die risikogerechte Prämie und ihre Wirkungen. Dieser Themenkomplex betrifft die Ebene der Prämienkalkulation und der Prämiendifferenzierung. 2) Themenkomplex 2: Die Schätzung der risikogerechten Prämie und ihre Wirkungen. Dieser Themenkomplex betrifft die Ebene der Tarifkalkulation und der Tarifdifferenzierung. Dabei verstehen wir im Weiteren die Tarifprämie als Schätzung der Risikoprämie auf der Grundlage von Schadendaten und auf der Basis mathematischstatistischer Verfahren. Diese auf den ersten Blick vielleicht etwas künstlich anmutende Differenzierung zwi- Prof. Dr. Peter Albrecht Geschäftsführender Direktor des Instituts für Versicherungswissenschaft der Universität Mannheim. Zeitschrift für Versicherungswesen 05 2017 157

schen Risikoprämie einerseits und Tarifprämie andererseits wird unseres Erachtens im weiteren Verlauf der Erörterung dienlich sein, da sie hilft, unterschiedliche Aspekte der Debatte besser separieren zu können. Die Behandlung der Themenkomplexe 1 und 2 erfolgt in den Abschnitten 3 und 4 dieses Beitrags. Für diese Erörterungen ist jedoch zunächst eine tragfähige Grundlage zu schaffen und diese besteht in der Diskussion der Zwecke und der Notwendigkeit einer risikogerechten Prämiengestaltung. Dies geschieht in Abschnitt 2. 2. Der Ausgangspunkt: Die risikogerechte Prämie Ausgangspunkt der weiteren Überlegungen ist das Kerngeschäft der Versicherungsunternehmen, das Risikogeschäft. Das Risikogeschäft als Kern des Versicherungsgeschäfts lässt sich als Transfer einer Schadenverteilung vom Versicherungsnehmer auf den Versicherer erklären. Der Transfer von Schadenverteilungen ist entgeltlich, der Versicherer erhält für seine Risikoübernahme eine Prämie 12. Risikotransfer beinhaltet somit die Übertragung von Schadenverteilungen von Wirtschaftseinheiten auf das Versicherungsunternehmen gegen Entgelt. Der Preis für die Risikoübernahme besteht in der sog. Risikoprämie (als kalkulatorischer Bestandteil der gesamten Versicherungsprämie 13 ). Der Bemessung der Risikoprämie kommt dabei entscheidende Bedeutung zu, die Prämienpolitik ist ein zentrales Instrument der Risikopolitik des Versicherungsunternehmens. Zunächst ist hier das kollektive Äquivalenzprinzip zu beachten. Die erforderliche kollektive Risikoprämie muss (mindestens 14 ) den Erwartungswert der Gesamtschadenverteilung ( kollektiver Schadenbedarf ) des Versicherungsbestands decken. Darüber hinaus wird in der Literatur das individuelle Äquivalenzprinzip betrachtet. Es besagt entsprechend, dass die erforderliche individuelle Prämie (wiederum: min-destens) dem Erwartungswert der individuellen Schadenverteilung ( individueller Schadenbedarf ) entspricht. Zugleich ist dies der Beitrag, den das einzelne Risiko (das einzelne individuelle Versicherungsverhältnis) zur Deckung des kollektiven Schadenbedarfs leistet. Risiken mit einem relativ höheren individuellen Schadenbedarf tragen entsprechend mehr an Risikoprämie zum Kollektiv bei als Risiken mit einem relativ niedrigeren individuellen Schadenbedarf. Während die Gültigkeit des kollektiven Äquivalenzprinzips einen entscheidenden Einfluss darauf nimmt, dass das Versicherungsunternehmen ein Sicherheitsniveau aufweist, das so hoch ist, dass die Finanzierung des kollektiven Gesamtschadens als sicher erfüllbar angesehen werden kann ( Bedingung des tragbaren Risikos als zentrales Kriterium für Versicherbarkeit 15 ), bedarf die Forderung des individuellen Äquivalenzprinzips einer weitergehenden Begründung. Die Gültigkeit des individuellen Äquivalenzprinzips für alle Verträge im Kollektiv sichert zwar die Gültigkeit des kollektiven Äquivalenzprinzips, es gilt jedoch nicht die Umkehrung. Der kollektive Schadenbedarf kann auch auf vielfältige alternative Weisen auf die einzelnen Risiken aufgeteilt werden. Die Gültigkeit des individuellen Äquivalenzprinzips ist nach herrschender versicherungswissenschaftlicher Meinung als ein wesentliches Merkmal der Privatversicherung anzusehen und stellt insbesondere einen fundamentalen Unterschied zur Sozialversicherung dar. So führt beispielweise bereits Helten (1973, S. 88) aus: Die Versicherung bzw. das Kollektiv gleicht lediglich die Zufallsschwankungen aus, die in einer Periode bzw. der gesamten Versicherungszeit anfallen. Die systematischen Unterschiede in der Schadenproduktion zwischen den einzelnen versicherungstechnischen Einheiten sollen in der Individualversicherung im Gegensatz zur Sozialversicherung grundsätzlich nicht ausgeglichen werden. Aufgabe der Individualversicherung ist somit der Ausgleich zufälliger Schwankungen im Schadenverlauf, nicht jedoch der Ausgleich systematischer Unterschiede in der Schwere der einzelnen Risiken (d.h., unterschiedlicher individueller Schadenbedarfe). Letzteres würde, wie Farny (2011, S. 69) ausführt, konsequenterweise auf eine Subventionierung der Risiken mit überdurchschnittlichem Schadenerwartungswert durch diejenigen mit unterdurchschnittlichem Schadenerwartungswert hinauslaufen. Der Ausgleich zufälliger Schwankungen im Schadenverlauf stellt zugleich ein erstes Element (weitere werden wir in den Abschnitten 3 und 4 herausarbeiten) der Solidarität in der Privatversicherung dar. Intuitiv formuliert besteht dieses solidarische Element darin, dass in einer fixierten Versicherungsperiode Policen ohne Schäden (allgemeiner Policen mit Schäden unterhalb des individuellen Schadenerwartungswerts) durch ihre Prämien Policen mit Schäden (allgemeiner Policen mit Schäden oberhalb des individuellen Schadenerwartungswerts) mitfinanzieren. Während also die Privatversicherung durchaus solidarische Elemente enthält, haben diese aber einen anderen Charakter als in der Sozialversicherung (insofern ist das pauschale Argument einer Entsolidarisierung auch unscharf). In der Sozialversicherung richtet sich die Prämie nicht primär nach der Schwere des Risikos, sondern orientiert sich an der Leistungsfähigkeit des Versicherten. Über das vorstehend Dargelegte hinaus gibt es weitere gewichtige Gründe, im Rahmen der Privatversicherung die Gültigkeit des individuellen Äquivalenzprinzips zu beachten. So führt beispielsweise Farny (2011, S. 70) aus: Die betriebswirtschaftlich wichtigste Wirkung der Prämiendifferenzierung ist die Unabhängigkeit der Prämien von der Zusammensetzung des Versicherungsbestands; denn es gilt unabhängig von Größe und Mischung des Kollektivs immer die Formel Summe der differenzierten (Risiko-)Prämien = kollektiver Erwartungswert der Schäden. Bei undifferenzierten Prämien ist dieses Gleichgewicht ständig gefährdet, wenn Risiken in den Bestand gelangen oder diesen verlassen, deren (Risiko-)Prämien größer oder kleiner sind als der durchschnittliche Erwartungswert der Schäden. Damit spricht Farny die Gefahr einer Antiselektion, d.h. einer negativen Risikoauslese, an, die dadurch verursacht wird, dass Risiken mit unterdurchschnittlichem Schadenerwartungswert und im Verhältnis dazu überhöhter (d.h. nicht risikogerechter) Prämie zu einem konkurrierenden Versicherungsunternehmen wechseln bzw. Risiken mit überdurchschnittlichem Schadenerwartungswert und im Verhältnis dazu zu geringer (also ebenfalls nicht risikogerechter) Prämie neu in das Kollektiv eintreten. Nicht risikogerecht differenzierte Prämien können in transparenten Märkten somit zu schwerwiegenden Problemen im Hinblick auf die finanzielle Solidität des nicht risikogerecht tarifierenden Versicherers führen. Nach Farny (2011, S.71) ist die Forderung risikogerechter Prämien jedoch nicht nur 158 Zeitschrift für Versicherungswesen 05 2017

ein betriebswirtschaftlich zweckmäßiger Grundsatz, sondern wird im System der deutschen Aufsicht als ein allgemeingültiger Grundsatz im Versicherungsgeschäft angesehen. Farny leitet diese These aus dem aufsichtsrechtlich verankerten 16 Gebot der Gleichbehandlung der Versicherten ab. Das Gebot der Gleichbehandlung besagt, dass bei gleichen Voraussetzungen Prämien und Leistungen nur nach gleichen Grundsätzen bemessen werden dürfen. Im Umkehrschluss bedeutet dies auf die Prämien bezogen, dass bei ungleichen Voraussetzungen die Prämien ungleich sein müssen. Das Gebot der Gleichbehandlung führt damit unmittelbar zur risikogerechten Prämiendifferenzierung, denn nur so lässt sich das Gebot erfüllen. Die vorstehende Diskussion zusammenfassend, ist festzuhalten, dass die Forderung einer risikogerechten Prämie und damit auch die hieraus resultierende Prämiendifferenzierung nach herrschender versicherungswissenschaftlicher Meinung als wesentliches Merkmal der Privatversicherung anzusehen ist und dies durch fundamentale betriebswirtschaftliche sowie aufsichtsrechtliche Argumente untermauert wird. Damit haben wir die Zwecksetzung und die Notwendigkeit einer risikogerecht differenzierten Prämie in der Privatversicherung begründet. Das Argument einer hieraus möglicherweise resultierenden Entsolidarisierung ist insofern nicht valide, als diese Art von Solidarität kein Element der Privatversicherung ist. Dies umfasst auch die gegen eine Prämiendifferenzierung vorgebrachten Argumente, dass die hieraus resultierenden Prämien im Einzelfall unsozial seien oder für Risiken mit einem hohen Schadenerwartungswert zu einem Versicherungsnotstand führen könnten. Diese Argumente vermischen in unzulässiger Weise Elemente der Sozialversicherung mit den Prinzipien der Privatversicherung. Ausschlaggebend für die Beurteilung von differenzierten Prämien in der Privatversicherung ist alleine das Kriterium, ob die Prämien risikogerecht differenziert sind. Auch die These, dass risikogerecht differenzierte Prämien letztlich dazu führen würden, dass jeder Versicherte seine Schäden selbst finanziert ist nicht valide. Zielsetzung einer risikogerechten Prämie ist nur, dass der Versicherte im Rahmen seiner Prämie (mindestens) seinen individuellen Schadenerwartungswert deckt. Die angesprochene letztliche Selbstfinanzierung Das Gebot der Gleichbehandlung führt damit unmittelbar zur risikogerechten Prämiendifferenzierung, denn nur so lässt sich das Gebot erfüllen. kann auch nicht die Wirkung einer risikogerecht differenzierten Prämie sein, da der realisierte Schaden nur in zufälliger Weise und nicht systematisch mit dem individuellen Schadenerwartungswert übereinstimmen kann. Abschließend sei noch angemerkt, dass in unseren Augen die substitutive private Krankenversicherung als ein separat zu betrachtender Fall anzusehen ist, denn die substitutive Krankenversicherung soll per constructionem den im Sozialversicherungssystem vorgesehenen Kranken- oder Pflegeversicherungsschutz ersetzen 17. Die vorstehenden Argumente gegen eine risikogerechte Prämiendifferenzierung sind aber auch hier nicht valide, da gerade in der privaten Krankenversicherung Solidaritätselemente, wie etwa der Basistarif, etabliert wurden, die einen Schutz vor unsozialen Prämien bieten. 3. Prämiendifferenzierung: Ausgleich im Kollektiv und Gesetz der großen Zahl Aufgrund der im Rahmen der Diskussion in Abschnitt 2 gewonnenen Einsicht, dass eine risikogerecht differenzierte Prämie aus ökonomischer und rechtlicher Sicht ihre Berechtigung und Notwendigkeit hat und in der Literatur sogar als wesentliches Merkmal der Privatversicherung angesehen wird, erscheint es naheliegend, dass die Vornahme einer risikogerechten Prämiendifferenzierung keine negativen Folgewirkungen auf Grundprinzipien der Versicherung haben sollte. Gleichwohl soll im Weiteren aus Gründen der Vollständigkeit der Argumentation auch im Hinblick auf diesen Themenkomplex eine Klärung herbeigeführt werden. Nach der traditionellen Bedarfstheorie der Versicherung besteht Versicherung in der 18 Deckung eines im Einzelnen ungewissen, insgesamt geschätzten Mittelbedarfs auf der Grundlage des Risikoausgleichs im Kollektiv und in der Zeit. Schließlich führt der durch Erich Prölss begründete Kommentar 19 des Versicherungsaufsichtsgesetzes aus: Ein Versicherungsgeschäft im aufsichtsrechtlichen Sinne liegt nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung vor, wenn gegen Entgelt für den Fall eines ungewissen Ereignisses bestimmte Leistungen übernommen werden, wobei das übernommene Risiko auf eine Vielzahl durch die gleiche Gefahr bedrohter Personen verteilt wird und der Risikoübernahme eine auf dem Gesetz der großen Zahl beruhende Kalkulation ( Planmäßigkeit) zugrunde liegt. Planmäßigkeit bedeutet einen Ausgleich der Risiken im Kollektiv auf der Grundlage des Gesetzes der großen Zahl. Ausgleich im Kollektiv 20 und Gesetz der großen Zahl gelten entsprechend sowohl in der Versicherungswissenschaft als auch in der Versicherungspraxis als grundlegende Produktionsgesetze der Versicherung, d.h. als konstitutiv für den Versicherungsvorgang. Allerdings sind in der Literatur durchaus unterschiedliche Konzeptionen des Risikoausgleichs dokumentiert und auch im Hinblick auf das Gesetz der großen Zahl gibt es unterschiedliche Sprachgebräuche und mögliche Interpretationen. Ohne zu sehr in die Details der wissenschaftlichen Diskussion einzutauchen, sollen im Weiteren einige aus unserer Sicht wesentliche Tatbestände und Aspekte erläutert und im Hinblick auf die diesem Beitrag zu Grunde liegende zentrale Fragestellung untersucht werden. In einem ersten elementaren Verständnis lässt sich der Risikoausgleich im Kollektiv nach Farny (2011, S. 47) wie folgt charakterisieren: Individuelle Über- und Unterschäden der Einzelrisiken gleichen sich teilweise oder ganz aus. Dieser Ausgleich zufälliger Schwankungen im Kollektiv ist offenbar unberührt von der Art der Prämienkalkulation, da er sich auf die reine Schadenseite bezieht. Insofern kann eine Zeitschrift für Versicherungswesen 05 2017 159

wie auch immer geartete Prämiendifferenzierung keinerlei Auswirkungen auf dieses elementare Verständnis von Risikoausgleich besitzen. In einer weiterführenden Konzeption von Ausgleich im Kollektiv, der auch die Prämienseite mit einbezieht, erörtert Albrecht (1992, S. 6, S. 20ff.) einen Versicherungseffekt zweiter Ordnung (von Albrecht auch als Risikotransformation bezeichnet, um diesen Aspekt von einem bloßen Risikotransfer abzuheben), der im Kern darin besteht, dass bei wachsenden Kollektiven der versicherte Gesamtschaden bei gleichem Risikoniveau günstiger getragen werden kann. Im Kern äußert sich dies darin, das bei wachsendem Kollektiv der notwendige Sicherheitszuschlag in der kollektiven Risikoprämie intuitiv gesprochen weniger schnell zunimmt als der kollektive Schadenerwartungswert. In einer leichten Verschiebung der Perspektive (Sicherheitskapital statt Sicherheitszuschlag) beschreibt dies die bekannte (und etwa auch im Rahmen von Solvency II berücksichtigte) Tatsache (auch als Merger-of-Risks-Effekt bezeichnet), dass bei wachsenden (oder zusammengelegten) Kollektiven das notwendige Sicherheits- bzw. Risikokapital Ausgleichseffekten (Effekten der Risikodiversifikation) unterliegt und damit einen degressiven Charakter besitzt. Der vorstehend skizzierte Versicherungseffekt zweiter Ordnung stellt einen weiteren Solidaraspekt der Privatversicherung dar, da er unmittelbar an die Bildung von Versichertenkollektiven geknüpft ist. Für die Zwecke der zentralen Fragestellung des vorliegenden Beitrags ist dabei nur festzuhalten, dass es bei dieser erweiterten Variante von Risikoausgleich im Hinblick auf die Tarifierung um die Wahrung der Nicht jede Prämiendifferenzierung ist auch eine risikogerechte Prämiendifferenzierung Angemessenheit der kollektiven Risikoprämie geht, und nicht um Fragen der individuellen Prämienfestlegung. Eine wirklich risikogerecht kalkulierte Individualprämie muss diese kollektive Wirkung mit einbeziehen. Bei dem Ansatz, der in diesem Beitrag im Vordergrund steht (und der Standardvorgehensweise der Praxis entspricht), die Forderung des individuellen Schadenerwartungswerts als (Mindest-)Risikoprämie, muss diese kollektive Wirkung nicht separat berücksichtigt werden, da die Summe der individuellen Schadenerwartungswerte stets zum kollektiven Schadenerwartungswert als kollektive (Mindest-)Risikoprämie führt. Allerdings beinhaltet die vorstehende Restriktion der Angemessenheit der kollektiven Risikoprämie noch eine wichtige Erkenntnis für unsere Diskussion. Nicht jede Prämiendifferenzierung ist auch eine risikogerechte Prämiendifferenzierung. Eine einseitige Rabattierung guter Risiken in dem Sinne, dass bei Umsetzung des Prinzips einer risikogerechten Tarifierung nur Risiken mit unterdurchschnittlichem Schadenerwartungswert eine geringere Risikoprämie zahlen, Risiken mit einem überdurchschnittlichen Schadenerwartungswert hingegen keine entsprechend höhere Risikoprämie, ist auf der Kollektivebene nicht mehr risikogerecht. Eine solche einseitige Rabattierung kann nicht in unbegrenztem Ausmaß erfolgen, sondern findet ihre Grenzen in der Angemessenheit der kollektiven Risikoprämie. Bezogen auf die reine Schadenseite korrespondiert der bei Albrecht (1992) im Vordergrund stehende degressive Charakter des Sicherheitszuschlags in der kollektiven Risikoprämie mit der folgenden Charakterisierung 21 des Risikoausgleichs im Kollektiv in Nguyen/Romeike (2013, S. 39): Die absoluten Schadenschwankungen nehmen zwar mit wachsendem Portfolio zu, jedoch weniger stark als der zu erwartende Gesamtschaden. Die relative Schadenschwankung nimmt ab. Es wird ein besserer Ausgleich im Kollektiv geschaffen. Wiederum betrifft der Ausgleich im Kollektiv hier die reine Schadenseite und die Art der Prämiengestaltung spielt keine Rolle. Im Hinblick auf das Verständnis des Gesetzes der großen Zahl stellt Farny (2011, S. 47) klar: Der Effekt einer abnehmenden relativen Streuung der Gesamtschadenverteilung eines wachsenden Kollektivs versicherter Risiken wird in der Versicherungsliteratur und -praxis häufig als Wirkung der mathematischen Gesetze der Großen Zahlen bezeichnet. Dies entspricht nicht dem Sprachgebrauch der Wahrscheinlichkeitstheorie. Zunächst halten wir fest, dass dieses von Farny dokumentierte Verständnis des Gesetzes der großen Zahl übereinstimmt mit dem vorstehend angeführten Verständnis des Ausgleichs im Kollektiv nach Nguyen/Romeike, d.h. Gesetz der großen Zahl und Ausgleich im Kollektiv werden teilweise als Synonyma verwendet. So oder so ist die abnehmende relative Streuung der Gesamtschadenverteilung rein auf die Schadenseite bezogen, d.h. ist unberührt von der Art der Prämienkalkulation. Kommen wir damit zum Gesetz der großen Zahl im Sprachgebrauch der Wahrscheinlichkeitstheorie. Das mathematische Gesetz der großen Zahl formalisiert eine Erfahrungstatsache, nämlich, dass bei einer Vergrößerung der Anzahl der Beobachtungen bestimmte Kennziffern (wie bspw. Erwartungswert oder Varianz) einer betrachteten Zufallsgesetzmäßigkeit deutlicher zu Tage treten. Standardanwendungen im Versicherungsfall bestehen bspw. darin, dass Sterbehäufigkeiten einer homogenen Gruppe von Personen bei wachsender Zahl an Beobachtungen immer besser die zugrundeliegenden Sterbewahrscheinlichkeiten approximieren oder, dass das arithmetische Mittel der Gesamtschäden einer homogenen Tarifklasse (im Sprachgebrauch der Praxis: der Schadenbedarf) bei wachsender Größe der Tarifklasse den individuellen Schadenerwartungswert immer besser approximiert. Beim Gesetz der großen Zahl im Sinne der Wahrscheinlichkeitstheorie geht es also dem Grunde nach um die Ermittlung von Kennziffern einer Zufallsgesetzmäßigkeit auf der Basis von empirischen Beobachtungen, d.h. um eine Fragestellung der Statistik 22. Wiederum ist dies auf die reine Schadenseite bezogen, d.h. berührt nicht die Art der Prämienkalkulation 23. Als Fazit der vorstehenden Ausführungen können wir somit festhalten: Risikogerechte Prämien und die damit verbundene Prämiendifferenzierung haben keinerlei adverse Auswirkungen auf die in der Literatur diskutierten Standardkonzeptionen von Ausgleich im Kollektiv und Gesetz der großen Zahl. 160 Zeitschrift für Versicherungswesen 05 2017

Damit bestätigt sich unsere zu Beginn dieses Abschnitts formulierte These, dass es eher befremdlich wäre, wenn risikogerechte Prämien als grundlegendes Element der Privatversicherung negative Konsequenzen für Grundprinzipien der Versicherung haben sollten. Aber damit sind noch nicht alle Argumente gegen differenzierte Prämien widerlegt. Ein Teil der Debatte um die Wirkungen einer immer feineren Prämiendifferenzierung beruht nach unserer Einschätzung auf dem folgenden Sachverhalt. Die risikogerechte (Mindest-)Risikoprämie entspricht dem individuellen Schadenerwartungswert. Der bisher noch nicht behandelte Aspekt besteht nun darin, dass dieser Schadenerwartungswert in der Realität der Versicherung nicht bekannt ist. Er muss auf der Grundlage von Schadendaten und unter Verwendung von mathematisch-statistischen Verfahren geschätzt werden. Dies geschieht in praxi unter Einbezug von Risikomerkmalen und von Tarifmodellen. Infolge der immanenten Grenzen statistischer Verfahren kann aber die Bestimmung des individuellen Schadenerwartungswerts niemals frei von Zufallsfehlern sein, d.h. die Ermittlung des individuellen Schadenerwartungswerts ist in praxi immer nur approximativ möglich. Aufgrund dieser (zwar reduzierbaren, aber nicht gänzlich vermeidbaren) Approximationsfehler ist es daher nicht auszuschließen, dass es im Rahmen einer Tarifdifferenzierung quasi zu unerwünschten Nebenwirkungen kommen könnte, d.h. die geschätzte risikogerechte Prämie könnte Aspekte aufweisen, die die risikogerechte Prämie (und nur diese haben wir bisher erörtert) selbst nicht aufweist. Insofern eröffnet sich damit ein neuer Themenkreis, der sorgfältig zu untersuchen ist. Dies geschieht im folgenden Abschnitt. Eine wesentliche Erkenntnis wird dabei sein (und damit wird zugleich ein weiteres Solidaritätselement der Privatversicherung identifiziert), dass auch die Tarifierung in der Versicherung einen kollektiven Charakter besitzt. Dieser Aspekt ist in der in Abschnitt 1 dargelegten Debatte nach unserem Dafürhalten bisher nicht angemessen berücksichtigt worden. Schluss folgt in ZfV 6/2017 Literatur Albrecht, P. (1982): Gesetze der großen Zahlen und Ausgleich im Kollektiv, ZVers- Wiss 71, 501-538. Albrecht, P. (1990): Zur Anwendung der Deckungsbeitragsrechnung in der Schadenversicherung, ZVersWiss 79, 205-250. Albrecht, P. (1992): Zur Risikotransformationstheorie der Versicherung: Grundlagen und ökonomische Konsequenzen, Karlsruhe. Breiman, L., J.H. Friedman, R.A. Olshen, C.J. Stone (1984): Classification and Regression Trees, Wadsworth/Monterey. DAV-Arbeitsgruppe Tarifierungsmethodik (2015, Hrsg.): Aktuarielle Methoden der Tarifgestaltung in der Schaden-/Unfallversicherung, 2. 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7 8 9 10 11 Vgl. o.v. (2016b). Vgl. o.v. (2016c). Man vgl. beispielsweise den Beitrag von Frey et al. (2016) zur Anwendung von Verfahren des maschinellen Lernens auf die Tarifierung und den Beitrag von Verbelen et al. (2016) zur Tarifierung auf der Basis von Telematikdaten. Dabei sind die Verfahren nicht notwendigerweise wirklich neu. So geht beispielsweise das in Frey et al. (2016) eingesetzte CART-Verfahren in den Grundprinzipien zurück auf Breiman et al. (1984) und die in Verbelen et al. (2016) verwendeten verallgemeinerten additiven Modelle auf Hastie/Tibshirani (1990). Neu ist aber der Einsatz dieser Verfahren auf Massendaten und dies wird ermöglicht durch die Fortschritte in der Computertechnologie. Vgl. etwa Helten (1973, Abschnitt 5.1), sowie Farny (2011, Kapitel II, Abschnitt 1544). Des Weiteren werden eine Reihe von Strukturierungen und Argumenten aus Albrecht (1992, Abschnitt 3.3.9) aufgegriffen. Einen aktuellen Beitrag im Kontext von Telematiktarifen liefern Schwarzbach/Weidner (2015). 12 Vgl. hierzu Farny (2011, S. 34). 13 14 15 16 Die gesamte Versicherungsprämie enthält weitere Komponenten, insbesondere Zuschläge für Betriebskosten und Unternehmensgewinn. Im Sinne einer risikopolitischen Preisuntergrenze. Weitergehende Aspekte der Kalkulation des Sicherheitszuschlags blenden wir zwecks Vereinfachung der Argumentation im Weiteren aus. Die im vorliegenden Beitrag in Bezug auf den Schadenerwartungswert vorgetragenen Argumente lassen sich jedoch in direkter Weise auch auf den Sicherheitszuschlag übertragen. Vgl. hierzu beispielsweise Albrecht (1992, 18 f.). Vgl. hierzu Par. 177 (1) VAG n.f. generell für Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit, Par. 138 (2) VAG n.f. für die Lebensversicherung sowie Par. 146 (2) VAG n.f. für die substitutive Krankenversicherung. 17 Vgl. Par. 146 VAG n.f. 18 19 20 Vgl. hierzu Farny (2011, S. 8 f.). Vgl. Kollhosser (2005, 38 u. 40). Ebenso der Ausgleich in der Zeit, der im Rahmen des vorliegenden Beitrags aber keine Rolle spielt und daher nicht weiter verfolgt wird. 22 23 21 Auch die in Mack (2002, Abschnitt 1.2.2) gegebene Charakterisierung des Ausgleichs im Kollektiv stellt auf die Entwicklung der relativen Streuung ab. Deswegen hat das Gesetz der großen Zahl auch zunächst einmal keine direkte Verbindung zur Konzeption des Ausgleichs im Kollektiv, worauf bereits Albrecht (1982) hinweist. Wohl aber besteht ein Zusammenhang zur Frage der Schätzung der risikogerechten Prämie. Hierauf kommen wir zurück in Abschnitt 4. Dr. Michael Erdmann / Dr. Christoph Schwarzbach Telematiktarife und der Ruf nach Solidarität Ein (Rück-) Besinnungsaufsatz (III.) Ein Versicherer, der nur noch die Kfz- Kunden versichern wollte, die sich freiwillig den telematischen Vermessungsmöglichkeiten unterwerfen, wäre schnell dem Vorwurf des Rosinenpickens ausgesetzt. Was in Kraft aufgrund gesetzlicher Vorgaben nicht funktionieren würde, ist aber in anderen Versicherungssparten nicht unüblich. Eine Konzentration auf risikoarme Geschäftsfelder sowie die Minimierung der Risiken für das Versichertenkollektiv, per Ausschlussverfahren oder Annahmebeschränkungen, ist längst Geschäftsstrategie. Fragmentierungen in den Tarifen zementieren unterschiedliche soziale Zugänge. All dies ist Geschäftspolitik, die gesellschaftlichen Zielsetzungen und Funktionalitäten von Versicherung zuwider laufen kann (nicht muss). Umso erstaunlicher ist, dass Soziologen in versicherungswissenschaftlichen Diskursen über Themen wie Risiko/Gefahr/Solidarität nicht teilnehmen, obwohl neuerdings konzediert wird, dass sich das Versicherungswesen als symbolhafte Institution der Neuzeit durchgesetzt hat. 1 Begriffe aber wie Gefahrengemeinschaft, Kollektiv und Solidargedanke verweisen auf Sozialität und lassen erahnen, dass auch die simple Umverteilung von Geldmitteln in Schadenfällen von nicht Betroffenen an Betroffene ein sozialer Prozess ist und nicht allein betriebswirtschaftlichen und juristischen Kalkülen unterliegen sollte. Solidarität, Versicherung und andere Sichtweisen Es ist auffällig, dass in einem politikwissenschaftlichen Sammelband zum Thema Solidarität das private Versicherungswesen nicht vorkommt, obwohl dieser Branche trotz privatwirtschaftlicher Verfasstheit attestiert werden kann, dass sie für das politische Gemeinwesen relevante Solidarität bereithält und dadurch die Kohäsion innerhalb des Gemeinwesens stabilisiert. 2 Als funktionales gesellschaftliches Prinzip von Solidarität würde das private Versicherungswesen selbst in der Politikwissenschaft Akzeptanz finden können. Es wird argumentiert, dass der Solidaritätsbegriff zumeist nur als soziales, mit moralischen Wertaufladungen verbundenes Gruppenphänomen gesehen wird, sofern er sich nicht zu einer rein tugendethischen und individuellen Moralität verdünnt hat. 3 Insofern muss Solidarität nicht unbedingt als bewusstes individuelles Handeln verstanden werden. Angesichts heutiger Individualisierungen und Ausdifferenzierungen in Versicherungstarifen würden Politologen vermutlich zu Recht die spezifischen Schwächen des vertragstheoretischen Denkens kritisieren und mit dem Methodenarsenal aus individuellem Selbstbestand, rationalem Eigeninteresse und strikter Tauschrationalität heutige schwere Plausibilitätskrisen 4 erklären. Gemäß diesen Ausführungen, hätte eine Rückbesinnung auf Solidarität hochbrisante Aktualität. Denn die Selbstverständniskrise der Branche, die von ihr selbst nicht gesehen wird, wird besonders in den aktuellen Digitalisierungsbestrebungen deutlich. Hier wird die Zukunft anscheinend nur noch in effektiverer Marktbearbeitung gesehen. Perspektiven wie die, dass aufgrund der Verarbeitungsmöglichkeiten riesiger Datenmengen bald Kfz-Versicherungspreise wie an der Tankstelle mit täglich wechselnden Preisen generiert werden können 5, zeugen nicht von beruflicher Empathie und der Bereitschaft, sich grundlegend mit der eigenen gesellschaftlichen Rolle als Sicherheitsgenerator zu beschäftigen. Das Risiko ist stets kollektiv? Es scheint daher unerlässlich, dass für eine Selbstverständnisdiskussion der Branche Dr. Michael Erdmann Billerbeck Unabhängige Versicherungsmakler GmbH, Versicherungskompetenzzentrum Hannover, langjähriger Generalagent eines großen Versicherungskonzerns und ehemaliger Vorsitzender des BVK-Bezirksverbandes Niedersachsen Süd Dr. Christoph Schwarzbach Versicherungskompetenzzentrum Hannover, Institut für Versicherungsbetriebslehre an der Leibniz Universität Hannover 162 Zeitschrift für Versicherungswesen 05 2017