Das Partizipationsdilemma: Entscheidungsteilhabe von sozial Benachteiligten

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Transkript:

Forschungsgruppe Public Health Das Partizipationsdilemma: Entscheidungsteilhabe von sozial Benachteiligten Hella von Unger Susanne Kümpers Partizipation und Gesundheit Abschlusstagung der Forschungsgruppe Public Health, Berlin, 22.3.2012 Welches Dilemma meinen wir (nicht)? 2

Übersicht Soziale Ungleichheit, Gesundheit und Beteiligung Präventionsdilemma Partizipationsdilemma Beispiel 1: Vulnerable Migrant/innen in der HIV Prävention Beispiel 2: Benachteiligte Ältere im Stadtteil Schlussfolgerungen und offene Fragen 3 Soziale Ungleichheit, Gesundheit und Beteiligung Gesundheitschancen sind sozial ungleich verteilt Partizipationschancen sind sozial ungleich verteilt (z.b. politische Teilhabe, ehrenamtliches Engagement) Förderung der Gesundheitschancen von sozial und gesundheitlich benachteiligten Gruppen durch Beteiligungsprozesse welche Herausforderungen stellen sich? 4

Präventionsdilemma Partizipationsdilemma Präventionsdilemma: gerade diejenigen Gruppen, die von Vorbeugung besonders profitieren können, [werden] von ihr am schwierigsten erreicht (Hurrelmann et al. 2010) Partizipationsdilemma: Möglichkeiten der Entscheidungsteilhabe funktionieren besonders gut für solche Gruppen, die sie am wenigsten benötigen und weniger gut für die Gruppen, die am meisten von ihnen profitieren würden. 5 Beispiel 1: Beteiligung vulnerabler Migrant/innen an HIV Prävention Migration und Migrationshintergrund nicht grundsätzlich mit gesundheitlichen Nachteilen verbunden Heterogenität der Gruppe der Migrant/innen HIV/Aids: bestimmte Migranten Gruppen haben erhöhte Infektionsrisiken Strukturelle Prävention: Konzepte, Angebote und Interventionen (auf der Ebene von Verhalten und Verhältnissen) durch Beteiligung und Stärkung der Zielgruppen und Communities Wielassensichdie Erfolge der HIV Prävention auch für Migrant/innen nutzen? 6

PaKoMi Projekt Partizipation und Kooperation in der HIV Prävention mit Migrant/innen (PaKoMi) Kooperationspartner: Deutsche AIDS Hilfe e.v. (DAH) Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin (WZB) Einrichtungen und Akteure in vier Städten: Dortmund, Berlin, Hamburg, Osnabrück Afrikanische, bulgarische, türkisch und russisch sprachige Communities Laufzeit: 2008 2011 Partizipativer Forschungsansatz Wissenschaftliche Begleitung gefördert vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) 7 Zielsetzung PaKoMi 1. Lebenswelten und Bedürfnisse der vulnerablen Zielgruppen mit Migrationshintergrund besser verstehen 2. Gemeinsam HIV Prävention entwickeln: partizipativ (mit Migrant/innen) kooperativ (mit verschiedenen Anbietern) 3. Förderliche und hemmende Bedingungen von Partizipation und Kooperation untersuchen 8

Partizipationserfolge Beteiligung von unterschiedlichen Gruppen mit Migrationshintergrund Inter /transkulturelle Zusammenarbeit: Communities, Praxis, Wissenschaft Neue Akteure und Zugangswege in der HIV Prävention Verbesserte Kenntnis der Zielgruppen und Communities ihrer Bedürfnisse und Ressourcen Empfehlungen zur Weiterentwicklung der HIV Prävention für und mit Migrant/innen in Deutschland 9 Partizipationsdilemma Beteiligung besonders erfolgreich: akademisch gebildete Personen (z.b. Studierende afrikanischer, bulgarischer, türkischer Herkunft oder Personen mit Abschlüssen aus den Herkunftsländern) Mitarbeiter/innen der Einrichtungen Beteiligung weniger erfolgreich/problematisch: Sexarbeiterinnen ohne Schulabschluss Menschen ohne Papiere, Personen im Asylverfahren Menschen ohne deutsche Sprachkenntnisse Wenig ausgebildete Community Strukturen und Bezüge 10

Hemmende Bedingungen für Partizipation Gesellschaft Eingeschränkte gesellschaftliche Teilhabe von Migrant/innen Negative Bilder, Klischees, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit Länder, Kommunen Mangelnde Steuerung Konkurrenz um Gelder und Zuständigkeiten Einrichtungen Mangelnde Interkulturelle Öffnung Knappe Ressourcen Arbeitsweisen teilweise nicht partizipativ 11 Interaktion und Zusammenarbeit Communities Tabus, Stigma von HIV/Aids Knappe Ressourcen Andere Prioritäten Mangelndes Vertrauen Scheinpartizipation Kommunikationsprobleme Fehlende inter /transkulturelle Kompetenzen Konflikte Zwischenfazit Erreichte Beteiligung im Projekt spiegelt ungleiche gesellschaftliche Teilhabe der Gruppen. Stärker benachteiligte Gruppen können über Mittler einbezogen werden. Es ist mehr Partizipation möglich, als viele für möglich halten. Strukturelle Benachteiligung setzt Grenzen. Verschränkung verschiedener Dimensionen von Benachteiligung: rechtlicher Status, soziale Schicht, Gender, Sexualität, etc. (Intersektionalität) 12

Beispiel 2: Sozial benachteiligte und pflegebedürftige Ältere Sozial benachteiligte Ältere sind von Krankheit und Behinderung stärker und früher betroffen Mobilitätseinschränkungen erschweren soziale Teilhabe, damit auch die Partizipation an kollektiven (Entscheidungs )prozessen Pflege und Hilfebedürftigkeit befördern Abhängigkeiten und erschweren Entscheidungsteilhabe Positive gesellschaftliche Rollenzuschreibungungen hingegen fokussieren auf aktives Altern 13 Neighbourhood: Untersuchung der Selbstbestimmungschancen benachteiligter und hilfebedürftiger älterer Menschen Subprojekt im Verbund AMA (Autonomie trotz Multimorbidität im Alter), gefördert durch das BMBF Kooperation WZB IGF Erhebung und Analyse der Wechselwirkungen sozialräumlicher und individueller Ressourcen im Hinblick auf den Erhalt von Selbstbestimmung 3 sozialräumliche Fallstudien (Moabit, Marzahn Hellersdorf; Landkreis Oder Spree) Zielsetzungen Potentiale und Einschränkungen der Selbstbestimmungschancen benachteiligter und pflegebedürftiger Älterer verstehen; Empfehlungen für Handlungsstrategien in Politik und Praxis erarbeiten 14

Wie gestalten sich Entscheidungsteilhabe und Gestaltungsspielräume sozial benachteiligter und hilfebedürftiger Älterer? 15 Gesellschaftliche und sozialräumliche Barrieren und Ressourcen für Entscheidungsteilhabe Alter(n)spolitik Pflegeversicherung: Strukturelle Unterversorgung und konzeptionelle Engführung Kommunale Alter(n)spolitik: Begrenzte Reichweite Bauliche und soziale Eigenschaften benachteiligter Wohnquartiere Physische Barrieren Sicherheitsdefizite Einschränkungen individueller Gestaltungsfreiheiten Isolation Abhängigkeit Aber auch: Engagierte Fachleute und (sektorübergreifende) Netzwerke, altersbezogene Stadtteilprojekte (z.b. Soziale Stadt) 16

Individuelle Barrieren und Ressourcen für Entscheidungsteilhabe Gesundheit ermöglicht Mobilität und Teilhabe, Krankheit und Behinderung erschweren sie. Geringes ökonomisches Kapital: wenig Möglichkeiten, Behinderung zu kompensieren Geringes kulturelles und soziales Kapital: schlechtere Chancen auf Zugang zu und Nutzung von Informationen Marginalisierte Lebensläufe: eingeschränkte Chancen zur Entwicklung von Selbstwirksamkeit und Autonomiekompetenz (Meyers, 1989) Aber auch: im Lebenslauf erworbene Fähigkeiten, widrigen Umständen zu trotzen, eigene Interessen auf spezifische Weise durchzusetzen, eigene reziproke Netzwerke zu erhalten und zu pflegen 17 Rollenerwartungen fokussieren Passivität Mobilitätseinschränkung Krankheit & Behinderung Barrieren in benachteiligten Wohnquartieren Einschränkungen für soziale Teilhabe und Mitgestaltung Benachteiligung im Lebenslauf Marginalisierung verhindert Selbstwirksamkeit 18

Schlussfolgerungen Soziale Benachteiligung, fehlende Teilhabemöglichkeiten und schlechte Gesundheit sind vielfach miteinander verwoben Partizipation / Entscheidungsteilhabe / Mitgestaltung ist voraussetzungsvoll, und für Menschen in benachteiligten Situationen vielfältig behindert Beteiligungsprozesse als Lernprozesse anlegen Partizipationschancen sind nicht per se gut sie müssen anschlussfähig sein Die Generierung von Teilhabechancen muss die Perspektiven der (unterschiedlichen) Beteiligten reflektieren Erfolgreiche Partizipationsprozesse können Benachteiligungen in begrenzten Bereichen ein wenig kompensieren nicht mehr, aber auch nicht weniger. 19 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Kontakt: Susanne.Kuempers@pg.hs fulda.de unger@wzb.eu 20