Sozialstaat Spielball der Finanzmärkte?

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Transkript:

Sozialstaat Spielball der Finanzmärkte? MEDEL-Konferenz Vortragsthema: Europäische Grundrechtecharta als Bollwerk gegen Sozialabbau? Prof. Dr. Jens M. Schubert, Berlin 21. Juni 2013 1

Haben wir etwas nicht verstanden? NZA-Editorial 9/2013 schreibt Rechtsanwalt Dr. Thomas Ritter: Die GRCh schützt im Unterschied zum Grundgesetz die Interessen der Unternehmer durch ein eigenes Grundrecht (Art. 16 GRC). Zudem: Bei der europäischen Eigentumsgewährleistung (Art. 17 GRC) fehlt der Zusatz Eigentum verpflichtet. Es muss schließlich berücksichtigt werden, dass die sozialen Rechte in Art. 27 bis 34 GRCh nur schwach ausgestaltet wurden. Müssen wir uns damit abfinden und ist mein Vortrag damit sogleich beendet? Nein, und nein! 2

Inhalt 1. Einführung: Ein ernstes Thema für Gewerkschaften und der Kampf um die Deutungshoheit 2. Die Ausgangslage: Grundfreiheiten im Verständnis des EuGH, EU- und Völkerrecht zur Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise in Europa, dogmatische Probleme 3. Beschreibung eines Bollwerks : Die EU-Grundrechtecharta a) Anwendungsbereich b) Die Charta Normen Grundsätze, Grundrechte oder was genau? c) Drittwirkung 4. Der unterschätzte Flankenschutz : Die EMRK (und weiteres Sozial-Völkerrecht) 5. Versuch einer Antwort auf die Frage 6. Was ist zu tun? 3

1. Die Ausgangslage a) Die Grundfreiheiten in der Auslegung des EuGH Der EuGH zu Viking, Laval, Rüffert, Luxemburg statt Fortführung von Schmidberger, Omega Spielhallen, Beetjes und Albany Der EuGH zur Entgeltumwandlung (Kontrolle von Tarifinhalten) Der EuGH zur Dogmatik der Richtlinie (Rüffert und ASNEF) Der EuGH und seine Unkalkulierbarkeit b) Regelungen zur Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise Sekundärrecht mit Einfluss auf die Lohnpolitik sowie auf das kollektives Arbeitsrecht (z. B. VO 1176/2011; Europäisches Semester etc.) Völkerrecht (Fiskalpakt mit Schuldenbremse) c) Worauf wir achten müssen: Argumentationslinien bei der Kollision sozialer Grundrechte (z. B. Tarifautonomie vs. Diskriminierungsschutz) d) Und vielleicht das größte Problem: Das ungeklärte Mehrebenensystem 4

3. Beschreibung eines Bollwerks : Die EU-Grundrechtecharta Eignet sich die Charta überhaupt als Bollwerk? Was oft nicht gesehen wird: Art. 51 Abs. 1 S. 2 GRC enthält Förderungspflicht der Union hinsichtlich der Grundrechte und Grundsätze Kriterien der Ausgestaltung der Förderungspflicht finden sich: - in der Präambel zur Charta - in den einzelnen Artikeln (z. B. einzelstaatliche Gepflogenheiten - in den Verträgen: Art. 3 Abs. 3 EUV (Markt ist kein Selbstzweck, sondern verknüpft mit sozialer Fortschrittsklausel); Art. 9 AEUV - Förderung im Sinne des Völkerrechts (Brücken sind: Art. 6 Abs. 3 EUV, Art. 151 AEUV, Art. 52 Abs. 3 und Art. 53 GRC). Mögliche Folgen der Förderungspflicht - Stärkung sozialer Elemente gegenüber wirtschaftlichen Erwägungen - Änderung der Dogmatik bei Kollisionen hin zu praktischer Konkordanz 5

3. Beschreibung eines Bollwerks : Die EU-Grundrechtecharta Anwendungsbereich Der schwierige Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRC nunmehr neu konturiert: - Das bisherige Verständnis (Wortlautauslegung) - EuGH in Sachen Kücükdeveci - EuGH in Sachen Akerberg Fransson und Melloni Da folglich die durch die Charta garantierten Grundrechte zu beachten sind, wenn eine nationale Rechtsvorschrift in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, sind keine Fallgestaltungen denkbar, die vom Unionsrecht erfasst würden, ohne dass diese Grundrechte anwendbar wären. Die Anwendbarkeit des Unionsrechts umfasst die Anwendbarkeit der durch die Charta garantierten Grundrechte. - Wiss. Dienst des Dt. Bundestags: empfiehlt es sich, nationale Maßnahmen im Zweifel stets auch am Maßstab der EU- Grundrechte zu messen - Was folgt daraus? 6

3. Beschreibung eines Bollwerks : Die EU-Grundrechtecharta Die Charta-Normen Ausgangslage: Art. 51 Abs. 1 S. 2; 52 Abs. 5 GRC Grundrechte in der Charta ungeschriebene Grundsätze in der Charta ungeschriebene Unterschiede echte / vermeindliche Mischformen Rückgriff auf nationales Verfassungsrecht ( Gepflogenheiten ) Sortierung für den Titel IV. Solidarität, insbesondere Art. 28, 31 GRC 7

3. Beschreibung eines Bollwerks : Die EU-Grundrechtecharta Drittwirkung Echte und mittelbare Keine gefestigte Dogmatik dazu (keine Lüth-Entscheidung [BVerfG], keine Entscheidung Verein gegen Tierfabriken/Schweiz [EGMR]). Alternativstrukturen: grundrechtscharta-konforme Auslegung von Sekundärrecht, die durchschlägt auf die ggf. durchzuführende richtlinienkonforme Auslegung; Wirkungsweise des Art. 157 AEUV; Mangold- und Kücükdeveci-Rechtsprechung; Vorrangprinzip Sonderfall Art. 28 GRC; echte Drittwirkung über Gepflogenheitsbrücke (umstritten). 8

4. Flankenschutz durch EMRK Art. 52 Abs. 3 GRC: Lex specialis zu Art. 52 Abs. 1 GRC; Auflistungen in den Erläuterungen des Präsidiums entscheidend Art. 53 GRC: Günstigkeitsprinzip bei Grundrechten? Art. 6 Abs. 3 EUV Art. 151 AEUV: Relevant für Auslegung ----------------- Wechselwirkungen / Einflüsse von ESC und ILO Folgen des Beitritts der EU zur EMRK 9

5. Versuch einer Antwort auf die Frage Allgemeine Grenzen des Sozialabbaus durch GRC Maßstab Art. 31, 28, 21, 30 GRC Prüfung des Bollwerks an drei Beispielen (Chancen und Grenzen) - EU-Grundrechtskonformität des sixpacks - EU-Grundrechtskonformität des Europäischen Semesters - EU-Grundrechtskonformität des Fiskalpakts Neue Kollisionsdogmatik erforderlich? - GRC vs. Grundfreiheiten - GRC vs. Wirtschaftsgrundsätze der Charta - mehrpolige Grundrechte 10

6. Was ist zu tun? Soziale Fortschrittsklausel im Primärrecht Deutungshoheit gewinnen durch - Fachkonferenzen - Veröffentlichungen (Bessere) grenzüberschreitende Zusammenarbeit Lobbyarbeit 11

Vielen Dank 12