Vermeidbare Risiken der Arzneimitteltherapie: Beispiele aus der klinischen Praxis, praxistaugliche Vermeidungsstrategien Symposium Patientensicherheit - Risikomanagement, Vorbeugung und Umgang mit Fehlern im Krankenhaus Sarstedt 01.12.2008 Apothekerin Verena Stahl Verena Stahl 1 Schlechte Rahmenbedingungen? Arzneimittel- Therapie rettet Leben, doch birgt sie auch enorme Risiken! Zeit- und Kostendruck Mangel an Fachkräften Ausbildung zum Thema Arzneimittel (-risiken) Hochwirksame Medikamente, Komplexe Therapieregime Mangelndes Zusammenspiel der Beteiligten (intra- und intersektoral) Gesundheitspolitische Vorgaben Verena Stahl 2 1
Was kann resultieren? Patientin wird aus Krankenhaus in Rehaklinik verlegt. Im Entlassungsbrief: 10 mg Methotrexat Angabe der Dosierungshäufigkeit fehlt! 21.08.2003 Methotrexat wird in Rehaklinik täglich statt wöchentlich gegeben!! Patientin verstirbt an den unerwünschten AM-Wirkungen. Verena Stahl 3 Arzneimittelbezogener Besuch in der Notaufnahme - Notaufnahme des Vancouver General Hospitals - prospektive Studie über 12 Wochen - 1017 Patienten der Notaufnahme eingeschlossen 122 Besuche waren arzneimittelbezogen (= 12 % )!! Diese zu 68 % vermeidbar! Verena Stahl 4 Zed et al, CMAJ, 178(12) 2008 2
Schäden durch Arzneimittel- therapie haben vielfältige Ursachen Verordnungsrelevante Informationen fehlen Zum Patienten Zum Arzneimittel Nichtanwendung notwendiger Arzneimittel Fehlende Verordnung durch den Arzt Fehlende Einnahme durch den Patienten Medikation nicht verfügbar, z.b. aus ökonomischen Gründen Inadäquate Anwendung von Arzneimitteln Inadäquate Verordnung durch den Arzt Fehler bei der Distribution von Arzneimitteln Einnahmefehler durch den Patienten Unzureichende Kontrollen Ärztlich nicht veranlasst Vom Patienten nicht wahrgenommen Verena Stahl 5 Arzt als wandelndes Buch Können Sie das auswendig lernen? 56000 in Deutschland zugelassene Präparate bei 2400 Wirkstoffen; neue Zulassungen: 40/Jahr Dazu kommen pro WS: Angaben zu Indikationen & Kontraindikationen, Interaktionen, Nierenhinweise, Altershinweise Die Verfügbarkeit des für eine sichere Verordnung notwendigen Faktenwissens ist ohne Hilfsmittel nicht zu gewährleisten! Verena Stahl 6 3
Dilemma Informationsbeschaffung Befragung von 15990 Ärzten in Deutschland: 88 %... verfügbare Informationen sind nicht praxistauglich aufbereitet 80 %... benötigte Informationen sind nicht dort verfügbar, wo ich sie brauche 78 %... die Zeitdauer für adäquate Informationsbeschaffung ist zu lang Verena Stahl 7 MedicDAT Projekt des BMBF Reng et al., Medizinische Klinik, 98:648-55; 2003 Sektorgrenzen: Entlassung aus dem KH Zeitdruck beim Arzt Entlassbriefschreibung ist lästig! Nicht alle Unterlagen (Aufnahmemedikation) liegen vollständig vor. Gesetzl. geforderte Angabe von Generikanamen entfällt häufig ( 115c SGB V). Verena Stahl 8 4
Werden Medikationsänderungen im Entlassungsbrief begründet? 60 50 Angaben in % n= 207 (Hausärzte) 40 30 20 10 0 Immer Häufig Selten Nie Verena Stahl 9 Roth-Isigkeit und Harder; Med. Klinik 2005 Hausarzt im Unklaren, ob Medikament bewusst abgesetzt, oder wie im Fall von Marcumar zu 5 11% im Entlassbrief nicht erwähnt worden ist. Medikament nur für einen kurzen Zeitraum angewendet werden soll (Omeprazol). Entlassmedikation folgt nicht dem Ideal des continuum of care! Verena Stahl 10 Bell et al., Arch Int Med, 2006 5
Kleiner Fehler große Wirkung: banale Fehlerquellen Mangelnde Lesbarkeit Unvollständigkeit Rechenfehler Missverständliche Abkürzungen Mehrdeutigkeit Übertragungsfehler Sound-alikes & Look-alikes Verena Stahl 11 Unvollständigkeit Enalapril 1-0-0 Wirkstärke fehlt! 2,5; 5; 10; 20; 30 oder 40 mg?? Carbamazepin 400 mg Retardierung könnte fehlen! Isozid 100 mg Isozid comp 100 mg N Zusätze wie comp oder plus könnten fehlen! Levodopa comp 100/25 Kombipartner nicht erwähnt (comp C oder comp B?!) Verena Stahl 12 6
Missverständliche Abkürzungen MTX: Methotrexat oder Mitoxantron? Mito: Mitoxantron oder Mitomycin? 4I E Actrapid: 41 Einheiten oder 4 I.E.? Verena Stahl 13 Kampagne der Winnipeg Regional Health Authority Sound-Alikes Def.: akustisch verwechselbare Wirkstoffund / oder Arzneimittelnamen Risikopotential bei mündlicher Anordnung!! Norflex vs. Norflox(acin) Cytotect vs. Cytotec ISDN vs. ISMN Metamizol vs. Metronidazol Verena Stahl 14 7
Entwicklung der Zahl der im Straßenverkehr Getöteten (1953 2007) 0,8 Höchstgrenze & Ölkrise 100 km/h auf Landstraßen Helmtragepflicht Gurtanlegepflicht 0,5 Höchstgrenze Adaptiert, Statistisches Bundesamt, Wiesbaden 2008 Verena Stahl 15 Praxistaugliche Strategien zur Risikominimierung muss es für die Arzneimitteltherapie auch geben! Teil 2: Vorstellung von Strategien 8
Stufen des Medikationsprozesses im Krankenhaus Aufklärung des Patienten Verordnung Verträglichkeits - und Therapieerfolgskontrolle Verteilung / Applikation Verena Stahl 17 1. Aufklärung des Patienten I II III Vor jeder neu verordneten Arzneimitteltherapie: Aufklärung des Patienten ( Dokumentation)! Medikamentenplan für Patienten. Dosierungsänderungen und das Absetzen von Medikamenten werden dem Patienten erklärt. Vor Entlassung: strukturierte Besprechung der Medikationsempfehlung! Patienten auf besondere Risiken hinweisen (z.b. WW von empfohlenen mit frei verkäuflichen Arznei- / Nahrungsmitteln). Verena Stahl Adaptiert nach Checkliste Arzneitherapiesicherheit im Krankenhaus 18 des Aktionsbündnis Patientensicherheit e.v. 9
2. Verordnung I II III Strukturierte, vollständige Medikamentenanamnese mit Indikationsprüfung und Überprüfung von patientenspezifischer Dosierung, KI und Verträglichkeit auf Wirkstoffebene. Berechnung der Nierenfunktion (GFR) bei ALLEN Patienten ab 65 Jahren und Kenntlichmachung aller bei Niereninsuffizienz anzupassender Arzneimittel zum Verordnungszeitpunkt Elektronische Erfassung und Verordnung von Arzneimitteln mit Arzneitherapiesicherheitsprüfung (CPOE & CDS) und regelmäßiger Überprüfung der Verordnungsqualität. Etablierung eines Fehlerberichtssystems (CIRS). Sektorübergreifende Abstimmung und Qualitätssicherung der Arzneimitteltherapie. Adaptiert nach Verena Stahl 19 Checkliste Arzneitherapiesicherheit im Krankenhaus des Aktionsbündnis Patientensicherheit e.v. Informationsdefizit Niereninsuffizienz Meist nicht bekannt, dass Patient niereninsuffizient ist (ca. 25% der KH-Patienten, ca. jeder Zweite über 80 Jahre). Noch weniger bekannt, welche Medikamente bei Niereninsuffizienz anzupassen sind (Anpassung erfolgt in weniger als 50% der anzupassenden Medikamente). Ca. 300 der > 2000 zugelassenen Wirkstoffe müssen Nierenfunktionsabhängig angepasst werden! Verena Stahl 20 10
CPOE Computerized physician order entry system mit 1: CDS-Funktionalität: Medikation & Patientenmerkmale Clinical Decision elektr. Support erfassen = elektronische Verordnungsunterstützung 2: Arzt verordnet mit PC Dem Arzt werden zum Zeitpunkt der Verordnungsregeln alle relevanten in Abhängigkeit Informationen von Patientund Medikamentcharakteristika ab über die Arzneimittel und den Patienten zugänglich gemacht! 3: Software gleicht mit anerkannten 4: ATSP (ArzneiTherapieSicherheitsPrüfung) gibt sofortige Rückmeldung zum Verordnungszeitpunkt Verena Stahl 21 Hilfe zum Verordnungszeitpunkt! Fehler werden erkannt, bevor sie den Patienten erreichen! Verena Stahl 22 11
Rückmeldung bezüglich: Inadäquater Dosierung (Dosis und Frequenz) Anpassung an Alter, Organfehlfunktion, Gewicht drug-drug- (und drug-food-) interaction Kontraindikation Doppelverordnung Medikamentenallergie Warnhinweise (Rote Hand-Brief) Verena Stahl 23 Hiermit lassen sich die meisten unerwünschten Arzneimittelereignisse (UAE) vermeiden! Verordnungsfehler sind zu ca. 70 % Ursache vermeidbarer UAE! Verena Stahl 24 12
Was ist möglich? Veränderung der Häufigkeit von Medikationsfehlern CPOE-System (+ CDS) kann inadäquate Verordnungen in 80% der Fälle vermeiden. Medikationsfehler [%] 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0 Handschriftl. Verordnung mit CPOES Verena Stahl 25 Kuperman & Bates, Journal on Quality Improvement, 2001 3. Verteilung / Applikation I II / III Risiken und Fehler bei der Verteilung und Applikation von Medikamenten systematisch untersuchen und reduzieren. 4-Augen-Prinzip beim Stellen der Medikation auf Station (bedingt quantitativ). Patientenidentifikation z.b. durch Patientenarmband mit Namensaufdruck oder Bar-Code, um Verwechslungen vorzubeugen. Ein Unit-Dose System mit kontinuierlicher Qualitätskontrolle ist zur patientenindividuellen Versorgung etabliert. Verena Stahl Adaptiert nach Checkliste Arzneitherapiesicherheit im Krankenhaus 26 des Aktionsbündnis Patientensicherheit e.v. 13
4. Verträglichkeits- und Therapieerfolgskontrolle I Abfragen von unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) erfolgt bei jedem Patienten bei der Aufnahme. Ärzte werden in der Meldung von UAW an die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft geschult. Verena Stahl Adaptiert nach Checkliste Arzneitherapiesicherheit im Krankenhaus 27 des Aktionsbündnis Patientensicherheit e.v. Zu beachten: Umsetzung der Strategien soll im Routinebetrieb möglich sein. Es dürfen keine neuen Fehler entstehen! CPOE + CDS ist international (WHO, USA) Strategie höchster Priorität. Ergebnisqualität muss ständig evaluiert werden und quantifizierbar sein. Verena Stahl 28 14
Kernaussagen Mehr Sensibilität für den Risikoprozess Arzneimitteltherapie schaffen. Schuldzuweisungen vermeiden meist ursächlich: Systemfehler Nur gemeinsam (sektorübergreifend) können Risiken vermindert werden! Verena Stahl 29 Überall passieren Fehler auch da, wo sie nicht passieren sollten! Praxistaugliche Strategien zur Verbesserung der Arzneimitteltherapiesicherheit können und müssen genutzt werden! Verena Stahl 30 15
Checkliste Arzneitherapiesicherheit im Krankenhaus Verena Stahl 31 des Aktionsbündnis Patientensicherheit e.v. Nützliche Links Aktionsplan 2008/2009 des BMG zur Verbesserung der Arzneitherapiesicherheit www.bmg.bund.de National Patient Safety Goals: http://www.jointcommission.org/patientsaf ety/ Aktionsbündnis Patientensicherheit e.v. www.aktionsbuendnispatientensicherheit.de Verena Stahl 32 16