Universität Bielefeld Fakultät für Gesundheitswissenschaften Abt. Epidemiologie & International Public Health Migration: gesundheitsfördernd oder krank machend? Erklärungsmodelle zum Zusammenhang zwischen Migration und Gesundheit Prof. Dr. med. Oliver Razum AG 3 - Epidemiologie & International Public Health Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Universität Bielefeld Postfach 10 01 31, 33501 Bielefeld E-Mail: oliver.razum@uni-bielefeld.de
Migration und Gesundheit Drängende Public-Health-Probleme bleiben bestehen, solange nicht ihre sozialen Ursachen behoben werden Benachteiligte Gruppen von den gesundheitlichen Folgen am stärksten betroffen: Migranten? Herausforderungen: Interventionen zur Behebung gesundheitlicher Folgen und sozialer Ursachen! Erfordert Daten für Taten aber die Daten entsprechen oft nicht den Erwartungen. Warum?
Ziele der Gesundheitsberichterstattung Adäquates Bild vom Gesundheitszustand der Bevölkerung (bzw. Gruppen) Gesundheitsverhalten Gesundheitsrisiken Versorgungssituation Regelfall Sekundäranalyse von Registerdaten
Datenquellen / Migrationsstatus Amtliche Statistik (Staatsangehörigkeit) Gesamtsterblichkeit, alters- und ursachenspezifische Sterblichkeit Mikrozensus 2005 (Migrationsstatus, sozioökon.) Rauchen, Übergewicht Sozio-oekonomisches Panel SOEP (dito) Versichertenstatus, Gesundheitszufriedenheit Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) Befragung, medizinische Untersuchung (dito) sowie 23 weitere Datenquellen, oftmals mit Sonderauswertungen
Beispiel I: Säuglingssterblichkeit Todesfälle im 1. Lebensjahr pro 1000 Lebendgeborene 1988: deutsch 7,4 ausländisch 8,8 2004: gesamt: 4,1 Datenquellen: Bevölkerungsstatistik, Todesursachenstatistik Indikator Migrationsstatus: Nationalität Potenzieller Numerator-Denominator-Bias: Im Jahr n verstorbene Säuglinge (groß)teils im Jahr n-1 geboren
Säuglingssterblichkeit Ausländische Neugeborene: 1999: 95.216 2000: 49.776 Mütter erst kurze Zeit in Deutschland? Migration und Gesundheit S. 33-35
Säuglingssterblichkeit Verzerrung (Artefakt) im Jahr 2000 Danach: Hinweis auf besonders gefährdete Gruppe mit erst kurzem Aufenthalt? Zielgruppe Migranten heterogen ( Nationalität hier weniger informativ als sozioökon. Status?!) Grenze der Routinedaten individuelles Monitoring erforderlich Irreguläre Migranten in keiner Statistik erfasst
Beispiel II: Müttersterblichkeit Todesfälle, die in ursächlichem Zusammenhang mit Komplikationen in der Schwangerschaft, bei der Entbindung und im Wochenbett stehen (pro 100.000 Lebendgeborene) 1980-88: 13,0 2001-04: 3,2 gesamt RR ausländischer Frauen sank von fast 2 auf 1 Wichtige Todesursache: Blutung (Fehlgeburt) Übersterblichkeit ausländischer Frauen durch Blutung stark zurückgegangen => besserer Zugang zu / Nutzung von Gesundheitsdiensten
Müttersterblichkeit Migration und Gesundheit S. 33, 37-38
Gesundheitliche Unterschiede erklären Modell schlechtere Lebens- und Arbeitsbedingungen (nicht alle Daten passen; fehlende Kontrolle für sozioökonomischen Status) Modell stärkere soziale Kohäsion unter Migranten Modell Healthy-Migrant -Effekt: Gesunde und Mutige migrieren (Vorteil ggü. Herkunftsland!) Modell Migration als gesundheitlicher Übergang (Vorteil ggü. Herkunfts- und Zielland)
Migration als gesundheitlicher Übergang Therapeutische Komponente bessere Vorbeugeund Behandlungsmöglichkeiten (=> schneller Rückgang Müttersterblichkeit) Risikofaktorenkomponente Erkrankungsschutz durch sauberes Trinkwasser, aber auch neue Risiken durch Rauchen etc. (=> langsamer Anstieg Herzinfarkt, Lungenkrebs) Resultat: Vorteil bei Sterblichkeit ggü. Herkunfts- und Zielland trotz sozio-ökonomischer Benachteiligung
Daten für Taten: Herausforderungen Definition der Zielgruppe Migranten schwierig Vulnerabelste Gruppen oft nicht erfasst Zielgruppe sozial heterogen, aber Informationen zu Sozialstatus fehlen oft Zielgruppe gesundheitlich sehr heterogen Einschätzung des Gesundheitsstatus abhängig von Wahl der Vergleichsgruppe Versorgungsforschung für Migranten ausbauen Erklärungsmodelle Migrantengesundheit entwickeln Leistungen von Gesundheitsdiensten und MigrantInnen anerkennen
Auswahl eigener Publikationen zum Thema Razum O, Zeeb H, Meesmann U, Schenk L, Bredehorst M, Brzoska P et al. Migration und Gesundheit. Schwerpunktbericht der Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Berlin: Robert Koch-Institut; 2008. Razum O. Erklärungsmodelle für den Zusammenhang zwischen Migration und Gesundheit. International Journal of Public Health 2007;52: 75-77. Razum O. Migration, Mortalität und der Healthy-migrant-Effekt. In Richter M, Hurrelmann K, eds. Gesundheitliche Ungleichheit. Grundlagen, Probleme, Perspektiven, pp 255-70. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2006. Razum O, Geiger I, Zeeb H, Ronellenfitsch U. Gesundheitsversorgung von Migranten. Deutsches Ärzteblatt 2004; 101(43):A2882-A2887. Razum O, Twardella D. Time travel with Oliver Twist - towards an explanation for a paradoxically low mortality among recent immigrants. Trop Med Int Health 2002; 7(1):4-10.