Hamburg, den 20. Juni 2014 Wer definiert die Grenzen zwischen psychischer Gesundheit und Krankheit? 1 Wann gilt jemand als psychisch krank? Die entscheidenden Definitionen für diese Frage gibt das amerikanische Klassifikationssystem DSM, das für das ICD-10, der in Deutschland maßgeblichen Klassifikation psychischer Störungen, richtungsweisend war und für das ICD-11 richtungsweisend sein wird. Seine Klassifikationen und Definitionen prägen nicht nur das öffentliche Bild psychischer Krankheiten in Gesellschaft und Politik, sie sind auch Entscheidungsgrundlage dafür, welche psychischen Probleme eine Erkrankung im Sinne unseres Sozialrechts sind, deren Behandlung in der Regel mit Psychotherapie bzw. Psychopharmaka von den Kassen bezahlt werden müssen. In diesem Jahr erscheint die deutsche Version des DSM in fünfter, erheblich veränderter Auflage. Unter anderem werden diagnostische Kriterien verändert und neue Diagnosen eingeführt. Bereits mit ihrem Erscheinen im Jahr 2013 wurde die amerikanische Version des DSM von breiten Kreisen der Psychotherapeuten und auch Psychiater heftig kritisiert, vom Amerikanischen Psychiaterverband (American Psychiatric Association) und auch großen Teilen deutscher Psychiatrie-Verbände hingegen vehement verteidigt. Die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) warnt davor, dass die Schöpfung neuer Diagnosen und das Aufweichen der diagnostischen Kriterien für psychische Erkrankungen zu einer weiteren Überversorgung mit Psychopharmaka und einer schlechteren Versorgung von Patienten mit psychischen Erkrankungen führen könnte, da die Ressourcen im Gesundheitssystem begrenzt sind. Die geplante Absenkung der diag- 1 Zugunsten der besseren Lesbarkeit wurde darauf verzichtet, die männliche und weibliche Schriftform anzuführen, obwohl Aussagen selbstverständlich für beide Geschlechter gelten. Seite 1 / 6
nostischen Kriterien wie auch die Aufnahme neuer psychischer Störungen in das DSM-5 könnten zur Folge haben, dass noch mehr Menschen als psychisch krank diagnostiziert und mit Psychopharmaka behandelt würden. Das DSM-5 begünstige Pathologisierung und in deren Folge Psychiatrisierung von alltäglichen, vorübergehenden seelischen und Beschwerden. Dieser Weg sei falsch, vielmehr gelte es, für die dringenden Probleme bei der Prävention und Behandlung psychischer Erkrankungen Lösungen zu finden. Fragen: 2013 ist das umstrittene amerikanische Diagnostik-Handbuch für psychische Störungen (DSM-5) in einer aktualisierten Auflage erschienen. Amerika ist doch weit weg, spielt das Buch hier in Deutschland überhaupt eine Rolle? In Deutschland ist das von der WHO herausgegebene ICD-10 das rechtlich verbindliche diagnostische Klassifikationssystem. Allerdings gilt das DSM als Modell für das Kapitel V des ICD-10 und damit international als das Standardwerk für die diagnostische Klassifikation psychischer Erkrankungen. Insbesondere in der Forschung war und ist die Vorläuferfassung DSM IV die zentrale Referenz. Daher wird das künftige wissenschaftliche Verständnis psychischer Erkrankungen durch das DSM-5 stark geprägt werden. Bei den letzten Revisionen der beiden Diagnosesysteme DSM und ICD war zudem eine deutliche Annäherung zu erkennen. Insofern ist davon auszugehen, dass das DSM-5 einen erheblichen Einfluss auf das ICD-11 haben wird, das für 2015 angekündigt ist. Seite 2 / 6
Was sind die Hauptkritikpunkte an der Neuausgabe? Problematisch sind insbesondere die Herabsetzung der diagnostischen Schwellen bei einer Reihe von psychischen Erkrankungen sowie die verfrühte Aufnahme neuer Diagnosen in das Klassifikationssystem. So ist es nicht nachzuvollziehen, dass Trauer nach dem Verlust einer nahestehenden Person künftig bereits nach zwei Wochen (bisher mind. 2 Monate) als Depression (major depression) eingestuft werden kann. Auch die Absenkung der diagnostischen Kriterien für ADHS und Binge-Eating-Störung (wiederholte Heißhungeranfälle) sind nicht empirisch fundiert und betreffen gerade im Falle der ADHS eine Diagnose, bei der wir schon heute von einer erheblichen Überdiagnostik und medikamentösen Übertherapie ausgehen müssen. Bei der neuen Diagnose Disruptive Mood Dysregulation Disorder (DMDD) handelt es sich um einen hilflosen Versuch, die US-spezifische Überdiagnostik von bipolaren Störungen bei Kindern in den Griff zu bekommen. Würde die neue Erkrankung aber in das geplante ICD-11 übernommen, bestünde die Gefahr, dass künftig auch in Deutschland alterstypische Wutausbrüche von Kindern und Jugendlichen als psychische Krankheit diagnostiziert und entsprechend behandelt werden könnten. Grundsätzlich ist die Forschung zu überdurchschnittlich häufigen und starken Wutausbrüchen vor allem bei Jungen viel zu dürftig, um damit eine neue psychische Erkrankung zu begründen. Das Risiko ist groß, dass künftig bereits heftige, emotionale Reaktionen von Kindern und Jugendlichen z.b. in Reifungskrisen als krank abgestempelt würden. Dabei drohen dann andere Gründe für wiederholte Temperamentsausbrüche wie Konflikte mit Eltern, Lehrern oder Gleichaltrigen aus dem Blick zu geraten. Seite 3 / 6
Warum wird das DSM-5 von psychotherapeutischer Seite kritisiert? Die Psychotherapeuten sollten sich doch über den zu erwartenden Kundenzuwachs freuen. Die psychotherapeutische Versorgung in Deutschland ist schon heute von langen Wartezeiten gekennzeichnet. Durchschnittlich wartet ein Patient drei Monate auf ein Erstgespräch bei einem Psychotherapeuten und weitere drei Monate gehen ins Land, ehe die eigentliche psychotherapeutische Behandlung beginnen kann. Die psychotherapeutische Unterversorgung würde sich somit durch eine Zunahme von Patienten, die mit subklinischen Beschwerden Anspruch auf eine Behandlung haben, weiter verschärfen, ganz abgesehen von den ökonomischen Folgen für die Finanzierung unseres Gesundheitssystems. Aus Sicht der Psychotherapeuten ist eine konservative, d.h. zurückhaltende Grenzziehung zwischen psychischer Erkrankung und Gesundheit bedeutsam. Menschen sollten in ihren Fähigkeiten und Ressourcen bestärkt werden, selbst erfolgreich die Herausforderungen des Lebens und die damit einhergehenden psychischen Belastungen, wie sie im Leben eines jeden Menschen vorkommen, zu bewältigen. Wohin eine Pathologisierung von Befindensstörungen führen kann, haben wir jüngst bei der Diskussion des sog. Burn-out erlebt. Es waren Tendenzen zu beobachten, alltägliche Beschwerden, wie sie bei einer kommunen Arbeitsüberlastung auftreten können, sogleich zu einer behandlungsbedürftigen Erkrankung zu machen. Hier zeigte sich wieder einmal, dass eine sorgfältige und differenzierte Diagnostik aufgrund valider Kriterien unabdingbar ist. Seite 4 / 6
Was steckt hinter der Ausweitung der Krankheitskriterien? Gibt es dafür wissenschaftlich belegbare Gründe? Bei der Entwicklung des DSM 5 wurde ein zu starker Schwerpunkt darauf gelegt, möglichst keinen Patienten mit einer psychischen Erkrankung zu übersehen. Es herrschte die Idee vor, dass man bereits Frühstadien von psychischen Erkrankungen verlässlich erkennen und wirksam d.h. in den USA überwiegend medikamentös - behandeln kann. So ist es nicht verwunderlich, dass einschlägige psychiatrische Zeitschriften ihre Leser bereits auf die verbesserten Möglichkeiten der Verordnung von Psychopharmaka hinweisen ( Die Verordnung von Antidepressiva bei Patienten, die unter einem Verlust leiden, wird zunehmen, oder die medikamentöse Behandlung prämenstrueller dysphorischer Verstimmungen wird Schwung aufnehmen ) Dabei wurden die Risiken einer massiven Überdiagnostik von psychischen Störungen und durch Übertherapie bedingte Schäden stark unterschätzt. Wissenschaftlich belastbare Befunde, die für eine Absenkung der diagnostischen Kriterien sprechen, fehlen in den meisten Fällen. Für die negativen Folgen einer insbesondere medikamentösen Übertherapie gibt es hingegen genügend Belege. Bei der Aufnahme neuer Diagnosen, etwa der DMDD (distruptive mood dysregulation disorder) bei Kindern und Jugendlichen, kam der überproportionale Einfluss einzelner Forschungsgruppen zum Tragen, die sich auf diese Erkrankung spezialisiert haben und sich mit einer neuen Diagnose im DSM 5 verewigen konnten. Hier könnte man auch von einer besonderen Form des Interessenkonflikts sprechen, der nicht hinreichend kontrolliert wurde. Grundsätzlich ist die Forschung zu überdurchschnittlich häufigen und starken Wutausbrüchen bei Kindern und Jugendlichen noch viel zu dürftig, um damit eine neue diagnostische Kategorie zu begründen. Seite 5 / 6
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