ZRS 2014; 6(1 2): 97 101 Open Access DOI 10.1515/zrs-2014-0019 Wolfgang Imo. 2013. Sprache in Interaktion. Analysemethoden und Untersuchungsfelder (Linguistik Impulse & Tendenzen 49). Berlin, Boston: De Gruyter. 355 S. Das Interesse der Grammatikschreibung an syntaktischen Konstruktionen der gesprochenen Sprache hat in den letzten Jahren zugenommen. Ein Meilenstein hierfür war die Integration eines Kapitels Gesprochene Sprache in die Duden- Grammatik. Aufgrund der immer stärkeren Ausdifferenzierung und Variation von Sprache stellt sich für die Grammatikschreibung und die Sprachdidaktik die Frage, wie Phänomene gesprochener sowie auch geschriebener Sprache, z. B. in der computervermittelten Kommunikation (cvk), adäquat erfasst werden können. Dies gilt insbesondere für den Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht: Welche Varietäten und Stile der deutschen Sprache sollten dort vermittelt werden? Um auf diese Fragen angemessen antworten zu können, sollte die Verbindung zwischen Gesprächs- und cvk-forschung auf der einen Seite sowie Sprachdidaktik und Grammatikschreibung auf der anderen gestärkt werden. Wolfgang Imos Buch Sprache in Interaktion hat das Potenzial dazu, bei dieser Entwicklung eine wichtige Rolle zu spielen, denn es vereint eine profunde und umfassende Darstellung der Interaktionalen Linguistik, ihrer theoretischen Grundannahmen, ihrer Methoden und ihrer Anwendungsbereiche mit Vorschlägen zur praktischen Umsetzung in der Grammatikschreibung. Nach der Einleitung, in der Ziele und Fragestellungen der Untersuchung dargestellt werden, folgt ein Kapitel, in welchem Imo die gesellschaftliche Relevanz der Thematik im Kontext sich verändernder medialer Bedingungen verdeutlicht. Im dritten Kapitel werden zentrale Begriffe einer interaktional ausgerichteten Sprachwissenschaft ( Kommunikation, Diskurs, Dialog, Interaktion ) mit Bezug auf die Forschungsliteratur ausführlich diskutiert und voneinander abgegrenzt. Imo gelangt dabei zu der Auffassung, dass die Bezeichnung Interaktion im Vergleich zu den drei anderen Ausdrücken zumeist terminologisch enger verwendet würde und sich daher besser eigne, wenn es darum geh[e], Konstellationen sprachlicher Kommunikation mit besonderen grammatischen Phänomenen und Strukturen zu beschreiben (S. 46). Bei der Erörterung des Interaktionsbegriffs setzt sich Imo mit dem an Luhmann anknüpfenden Interaktionskonzept von Kieserling auseinander, das er Jan Georg Schneider: Universität Koblenz-Landau (Campus Landau), Institut für Germanistik, Sprachwissenschaft, Fortstraße 7, D-76829 Landau, E-Mail: j.schneider@uni-landau.de 2014, Jan Georg Schneider, published by de Gruyter This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 License.
98 Prof. Dr. Jan Georg Schneider wegen seiner starren Einengung auf die gegenseitige körperliche Wahrnehmung (S. 50) und der Ausklammerung der Materialität der Kommunikation (S. 48) kritisiert. Kieserling vertrete die Imos Ansicht nach falsche Auffassung, dass z. B. die Unterbrechnung eines Telefonats als physikalisches Ereignis nichts Wesentliches zur Interaktion beitrage. Man könne so Kieserling (1999: 151) nachher nicht einfach unter Berufung auf die technisch bedingte Unterbrechung anders kommunizieren als zuvor. Dem hält Imo folgende, m. E. stichhaltige Argumentation entgegen: Wer jemals mit der Bahn unterwegs war, weiß, dass dies nicht der Fall ist: Die Unterbrechung des Handyempfangs hat auf vielen Ebenen einen Einfluss auf die Kommunikation. Nach Wiederherstellung der Verbindung werden häufig unter Bezug auf die schlechte Verbindung telegrammartig die wichtigsten Informationen weitergegeben und das Gespräch beendet und umgekehrt kann die Ausrede eines schlechten Empfangs auch dazu genutzt werden, ein unliebsames Gespräch abzubrechen, ebenso wie es auch die Strategie gibt, solche Gespräche mit Hinweis auf den leeren Akku abzukürzen. Die materialen Bedingungen der Kommunikation gehen also nicht nur via Stimme und Körper in die Interaktion ein, sondern genauso auch über die technischen Kommunikationsmittel. (Imo 2013: 49) Diese Argumentation impliziert m. E. auch, dass die Trennung zwischen angeblich unmittelbarer mündlicher Kommunikation und technischer, medial vermittelter Kommunikation aufgehoben werden sollte, da schon die nicht via technisches Medium mediatisierte Sprache via Stimme vermittelt ist und eine Materialität aufweist. Die Mobiltelefonie ermöglicht es aufgrund ihrer Materialität und ihrer strukturellen Kommunikationsbedingungen, Gespräche mit Tricks wie den oben beschriebenen abzukürzen. Die Gesprächspartner sehen sich nicht, wissen aber wohl um die Besonderheiten und potenziellen technischen Defizite der Übertragung, z. B. allgemeine Empfangsstörung (Netzabdeckung des Providers), technische Limitationen des Mobiltelefons (Ladezustand) usw. Hier zeigt sich, dass sich kommunikative Verhaltensweisen und Konventionen nur dann einbürgern können, wenn die medialen Bedingungen dafür gegeben sind. Dem a-medialen, Materialität ausblendenden Interaktionskonzept von Kieserling stellt Imo den von ihm selbst vertretenen Interaktionsbegriff der Konversationsanalyse gegenüber, dessen Entstehung und Rezeption er ausführlich und präzise beschreibt. Von dieser Begriffsbestimmung ausgehend stellt er im vierten Kapitel die theoretischen und methodischen Grundlagen seines Ansatzes Sprache-in-Interaktion vor. Als deren fundamentale Prinzipien erkennt er ganz im Sinne des Online-Syntax -Konzepts von Peter Auer (2000) die Sequenzialität, das gemeinsame Hervorbringen von Bedeutung und Struktur ( joint construction ) sowie die Einbettung von Sprache in Kontexte. Nach einer Darstellung zentraler theoretischer Ansätze und Methoden, die dem Konzept der Sprache-in- Interaktion zugrunde liegen (Gesprächsanalyse, Interaktionale Linguistik und
Sprache in Interaktion 99 Analyse kommunikativer Gattungen), geht Imo in Kapitel 4.5 und 4.6 auf das Verhältnis von Sprache-in-Interaktion und Normativität ein, um auf dieser Grundlage zu der eingangs angesprochenen Frage zu gelangen, wie die DaF-Didaktik sich des Themas annehmen könne. Hierbei konstatiert der Autor zu Recht, dass die Kompetenzen im Bereich der sprachlichen Interaktion wichtiger Bestandteil der Sprachkompetenz der Lernenden seien. Der Grund sei der folgende: Alltagssprache ist typischerweise Sprache-in-Interaktion und die Unkenntnis ihrer Strukturen bedeutet oft die Unkenntnis der Mittel, ein Gespräch höflich und gesichtswahrend zu führen. (Imo 2013: 107) Beim Thema Sprache-in-Interaktion und Sprachdidaktik geht Imo auch auf den Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen ein und arbeitet die Relevanz von Forschungsergebnissen der Interaktionalen Linguistik heraus. Es könne nach dem Referenzrahmen nämlich nicht nur darum gehen, ein reduziertes systemlinguistisches Wissen zu vermitteln im Sinne der Beherrschung des Wortschatzes und der (standard)grammatischen Regeln, sondern vielmehr um die Kompetenz, mit Sprache in konkreten Situationen und mit unterschiedlichen Personen (und somit wechselnden Rollen) umzugehen (S. 108). Es gehe also um Interaktionskompetenzen (S. 115), die in einem eigenen Unterkapitel mit Bezug auf Lehrbuchinteraktionen und Arbeiten zur Vermittlung von Strukturen gesprochener Sprache und cvk im DaF-Kontext exemplifiziert und diskutiert werden. Auch die für die Praxis des DaF-Unterrichts hochrelevante Frage, wie viel Wissen über Sprache-in-Interaktion Lehrenden und Lernenden zuzumuten sei (vgl. Moraldo 2013), wird von Imo ausführlich und relativ praxisnah in zwei separaten Unterkapiteln (4.6.3 und 4.6.4) behandelt. In Kapitel 5 erfolgt eine ausführliche einführende Darstellung zur Arbeit mit Gesprächsdaten, die auch für Nicht-Spezialisten ohne besondere Vorkenntnisse nachvollziehbar ist. Im darauffolgenden empirischen Teil (Kapitel 6) wird der Gebrauch der Partikel ja in einem umfangreichen Transkript eines privaten Telefonats ausführlich analysiert und nach verschiedenen Funktionen (Modalpartikel, Responsiv, Hörersignal, Zögerungs- und Planungssignal bzw. Diskursmarker, Beendigungssignal, Vergewisserungssignal, Teil von Erkenntnisprozessmarkern ) kategorisiert. Interaktionalität und Medialität Im abschließenden Kapitel über unterschiedliche Anwendungsfelder von Sprache-in-Interaktion behandelt Imo auch die Chat-Kommunikation (S. 277 ff.; zum
100 Prof. Dr. Jan Georg Schneider Folgenden ausführlicher Schneider in Vorbereitung). Seine Argumentation macht deutlich, dass Interaktionalität und Medialität intrinsisch zusammengehören. Jedoch erfährt so möchte ich hinzufügen die Interaktionalität je nach medialem Verfahren eine spezifische Ausprägung. Imo dagegen vertritt die Position, der einzige relevante Unterschied zwischen gesprochener interaktionaler Sprache und Chat bestehe darin, dass bei ersterer die Reaktionszeit entsprechend schneller [sei] und daher Überlappungen sichtbar und medial durch die Abwesenheit eines Verteilsystems wie im Chat überhaupt erst möglich würden. Jenseits dieses medial bzw. technisch bedingten Unterschieds [sei] die Grundstruktur jedoch die gleiche (S. 279). Es stellt sich die Frage, ob Imo hier nicht selber die Materialität/Medialität zu wenig berücksichtigt was er an Kieserling ja zu Recht kritisiert hatte, denn die unterschiedliche Reaktionszeit ist ja nur eine der Differenzen zwischen Face-to-face- und Chat-Kommunikation. Was hier nicht einbezogen wird, sind weitere mediale Unterschiede wie (möglicher) Blickkontakt, Gestik, Mimik, Stimme und die damit zusammenhängenden Möglichkeiten der Rückkopplung in der Interaktion. Selbst bei einem Vergleich zwischen Chat und Festnetz-Telefonie, die Imo in einem ausführlichen Beispiel analysiert, bleiben stimmliche Qualitäten und permanente Interventionsmöglichkeit als Spezifika der mündlichen Zeichenprozessierung bestehen. Das Phänomen des Splitting beim Chat, das Imo selbst erwähnt (S. 277), geht auch weit über eine langsamere Reaktionszeit hinaus; es bietet einen eigenen medialen Spielraum, der die Interaktion auf spezifische Weise prägt. Beim Splitting handelt es sich ja um eine medial ermöglichte Strategie, die Beiträge in kleinere Chunks verteilt abzuschicken, um das Rederecht zu behalten (vgl. Beißwenger 2007: 264). Interaktionale Sprache in der Grammatikschreibung? Imos weitgehende Annäherung von Chat und interaktionaler gesprochener Sprache ist im größeren Rahmen seines programmatischen Vorschlags zu verstehen, in der Grammatikschreibung konsequent zwischen prototypisch monologischer und prototypisch interaktionaler Sprachverwendung zu unterscheiden (S. 290). Er stellt die Idee zur Diskussion, das Kapitel Gesprochene Sprache der Duden-Grammatik in einem erweiterten Kapitel über interaktionale Sprachverwendung aufgehen zu lassen und um eine Darstellung interaktionaler Schriftlichkeit zu ergänzen (vgl. S. 290). Für Imo liegen die Hauptunterschiede nicht in der Medialität, sondern im Grad der Interaktionalität. Dieser
Sprache in Interaktion 101 Vorschlag hat einiges für sich, denn es gibt ja auch weniger interaktionale mündliche Praktiken wie den wissenschaftlichen Vortrag, die Predigt oder das Verlesen einer Nachricht im Fernsehen oder Radio. Auf der anderen Seite sind wie gerade der Chat zeigt auch schriftliche Praktiken keineswegs immer monologisch, sondern können einen sehr hohen Grad an Interaktionalität aufweisen. Will man Imos plausiblen Vorschlag für die Grammatikschreibung weiterverfolgen, so wäre wie oben exemplifiziert darauf zu achten, nun nicht vorschnell verschiedene Arten von interaktionaler Kommunikation fast gleichzusetzen, obwohl sie über eine unterschiedliche Medialität, d.h. über unterschiedliche mediale Eigenschaften, verfügen. Ähnliches gilt für verschiedene Arten eher monologischer Sprachverwendung. Eine Alternative zu Imos Vorschlag bestünde darin, konsequent nach Medialität zu differenzieren und in einem Kapitel über geschriebene Sprache verschiedene Grade von Monologizität und Interaktionalität in der Schriftlichkeit zu beschreiben und in einem Kapitel Gesprochene Sprache analog für das Spektrum im Bereich der Mündlichkeit zu verfahren. Denn Medialität und Interaktionalität sind nicht gesondert voneinander zu betrachten: Medialität ist ein Aspekt von Interaktionalität und umgekehrt. Je stärker sich unsere medialen Verfahren und auch die empirische Erforschung derselben ausdifferenzieren, desto wichtiger wird es, die komplexen Zusammenhänge zwischen Medialität und Interaktionalität (auch in der Grammatikschreibung) zu berücksichtigen. Imos Buch liefert einen wichtigen Beitrag zu diesem Diskurs. Es ist ein gut lesbares, umfassendes Werk, das theoretische, empirische und anwendungsbezogene Aspekte überzeugend miteinander vereint. Literatur Auer, Peter. 2000. Online-Syntax oder: Was es bedeuten könnte, die Zeitlichkeit der mündlichen Sprache ernst zu nehmen. In: Sprache und Literatur 85, 43 56. Beißwenger, Michael. 2007. Sprachhandlungskoordination in der Chat-Kommunikation (Linguistik Impulse &. Tendenzen 26). Berlin, New York: De Gruyter. Duden. 2009. Die Grammatik. Bd. 4. 8. Auflage. Mannheim u. a.: Dudenverlag. Kieserling, André. 1999. Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysteme. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Moraldo, Sandro (Hg.). 2013. Gesprochene Sprache im DaF-Unterricht. Grundlagen Ansätze Praxis (Sprache Literatur und Geschichte 43). Heidelberg: Winter. Schneider, Jan Georg. [In Vorbereitung] Nähe, Distanz und Medientheorie. In: Mathilde Hennig & Helmuth Feilke (Hg.): Zur Karriere von Nähe und Distanz.