Leitlinien: Evidenzbasierte Behandlungsempfehlungen als Instrument der Qualitätsförderung Kennen wir die Studienlage? Darstellung am Beispiel der S3-Leitlinie: Diagnostik, Therapie und Nachsorge der Patientin mit Zervixkarzinom Peter Mallmann, Martin C. Koch
S3-Leitlinie Zervixkarzinom - Hintergründe S1-Leitlinie 2002/2004: Diagnostik und Therapie des Zervixkarzinoms S2k-Leitlinie 2008: Diagnostik und Therapie des Zervixkarzinoms Gültigkeit bis 06/2010 Daher Upgrade auf S3-Niveau mit neuem Namen: Diagnostik, Therapie und Nachsorge der Patientin mit Zervixkarzinom
S3-Leitlinie Zervixkarzinom - Hintergründe Ziel: Schaffung einer evidenzbasierten Grundlage zur Therapieentscheidung
S3-Leitlinie Zervixkarzinom - Eckdaten Gefördert durch das Leitlinienprogramm Onkologie Ziel: Entwicklung und Einsatz wissenschaftlich begründeter und praktikabler Leitlinien in der Onkologie Zusammensetzung der Leitliniengruppe Eingeladen 49 Fachgesellschaften/ Organisationen bzw. 75 Personen 27 Fachgesellschaften/ Organisationen 3 externe Anbieter 3 internationale Gäste Koordinatoren Prof. M.W. Beckmann Prof. P. Mallmann Dr. M.C. Koch (Leitliniensekretariat) Systematische Literaturrecherche Prof. Bucher Dr. Heike Raatz Dr. Viktoria Gloy Dr. Hannah Ewald CEB, Basel Inhalt 116 Empfehlungen zu 104 Schlüsselfrage in 20 Kapiteln + konsentierte Infokästen, Flowcharts und Abbildungen 2 Experten 52 Teilnehmer 33 Mandatsträger mit 29 Mandaten
Organigramm
Aktueller Stand Erklärung der COI + englische Version der LL
Entwicklungsprozess der S3-Leitlinie Zervixkarzinom 1. Jahr Antragsbewilligung im Februar 2011 Systematische Leitlinienrecherche (Identifikation von Quellleitlinien) 1. Konsensustreffen (Schlüsselfragen, Leitliniengruppe) 2. Jahr Systematische Literaturrecherche (CEB, Koch) Erarbeitung der Empfehlungen (20 Arbeitsgruppen) und HGT 2. Konsensuskonferenz 3. Jahr 3. Konsensuskonferenz Reviewverfahren (Konsultationsfassung online ab Dezember 2013) Publikation im Februar 2014 auf dem DKK geplant
Evidenzrecherche Aus insgesamt 104 Schlüsselfragen wurden 22 Schlüsselfragen (nach PICO-Aufschlüsselung 36 Unterfragen) für eine Bearbeitung durch einen Externen Anbieter priorisiert. Letztendlich wurden 11 Schlüsselfragen durch das CEB, Basel bearbeitet
Verhandlungen mit externen Anbietern Themenkomplex 1: operatives Staging Themenkomplex 3: Lymphknotenmetastasen: Unterkomplex 1.1: operatives Staging 1. V.10 Wird durch ein operatives Staging der lokoregionalen Tumorausbreitung und des Lymphknotenstatus die Therapieplanung verändert? 2. V.13 Ist das operative Staging vor neoadjuvanter Chemotherapie sinnvoll? 3. VII.3 Soll ein operatives Staging Grundlage einer Therapiewahl sein? Unterkomplex 1.2: Sentinel 4. V.11 Wie muss die Sentinel-Lymphknotenbiopsie (z. B. einseitig/zweiseitig, blau/radioaktiv, Applikation) durchgeführt werden? 5. V.12 Ist die alleinige Sentinel-Lymphknotenbiopsie als Staging der Lymphknoten ausreichend? Unterkomplex 1.3: Ultrastaging 6. VI.10 Wird durch ein Ultrastaging (ggf. in Verbindung mit SNLB) der Lymphknoten die Detektionsrate von Lymphknotenmetastasen verbessert? 12. IX.3 Hat eine paraaortale Strahlentherapie bzw. Radiochemotherapie bei pm1 paraaortal nach therapeutischer Lymphonodektomie einen Einfluss auf die Lokalrezidivrate, DFS, MFS, OS? 13. IX.2 Hat eine pelvine Strahlentherapie bzw. Radiochemotherapie bei pn1 pelvin nach therapeutischer Lymphonodektomie einen Einfluss auf die Lokalrezidivrate, DFS, MFS, OS? Themenkomplex 4: OP vs RCHT 14. VII.1 Sind in den Frühstadien (IB und II) die operative Therapie und die Radiochemotherapie gleichwertig? Themenkomplex 5: rad HE bei LK-Befall 15. VIII.3 Sollte bei parametranen bzw. pelvin befallenen Lymphknoten auf die radikale Hysterektomie verzichtet werden? 16. VIII.4 Sollte bei paraaortal befallenen Lymphknoten auf die pelvine Lymphonodektomie und/oder die radikale Hysterektomie verzichtet werden? (Ausmaß, anatomische Struktur, infra/supramesenerial) Themenkomplex 6: pm1 7. VI.11 Welche Bedeutung hat das Ultrastaging für die weitere Therapie bzw. Prognose? Unterkomplex 1.4: Therapeutische LNE vor prim RCHT 8. XI.1 Ist die systematische alleinige pelvine bzw. kombiniert mit paraaortaler LNE vor primärer Radiochemotherapie (z.b. bei pn+) sinnvoll? Nur Debulking? 17. XIX.5 Welche Bedeutung hat pm1 (paraaortal) im Vergleich zu pm1 (pulmonal, hepatisch, ossär) für die Therapie? 18. XIX.6 Welche Optionen bestehen bei singulärer Metastase (RFA, Operation, Radiatio)? Themenkomplex 7: akzidentelles Zervixkarzinom Themenkomplex 2: sekundäre Hysterektomie 9. IX.5 Ist eine perkutane Radiochemotherapie mit bzw. ohne Brachytherapie, mit anschließender sekundärer Hysterektomie einer perkutanen Radiochemotherapie mit Brachytherapie onkologisch gleichwertig? 10. VIII.10 Hat die sekundäre HE nach prim RCHT einen Einfluss auf die Lokalrezidivrate, DFS, MFS, OS? 11. VIII.11 Sollte die sekundäre HE nach primärer RCHT als radikale oder als einfache Hysterektomie durchgeführt werden? 19. VIII.9 Wie ist bei akzidentiellem Zervixkarzinom nach einfacher Hysterektomie vorzugehen? Themenkomplex 8: neoadjuvante Chemotherapie 20. X.1 Ist die neoadjuvante Chemotherapie mit nachfolgender Operation der primären Radiochemotherapie (perkutan + Brachytherapie) gleichwertig oder überlegen? 21. X.6 Ist die neoadjuvante CHT mit nachfolgender OP der prim alleinigen OP mit oder ohne weitere Therapien gleichwertig? 22. X.4 Wie sind positive Lymphknoten (pelvin, paraaortal) nach neoadjuvanter Chemotherapie prognostisch sowie für die weitere Therapie zu bewerten?
Jetzt zur klinischen Praxis: Die entscheidende Frage bei der Behandlung eines jeden Karzinoms: was ist die beste Therapie?
Ein alltäglicher Fall: 52 jährige Frau, ein Kind, invasives Zervixkarzinom klinisches Stadium IB1 Welche Therapie?
Soll man operieren, da dieses Karzinom prinzipiell in sano entfernt werden kann?
Oder besser bestrahlen, da es sich prinzipiell um ein strahlensensibles Karzinom handelt? Bestrahlungstechnik (perkutan, intracavitär) : 4-Felder-Box-Technik: 0, 90, 180, 270
Was sagen die aktuell gültigen Leitlinien? S2k-Leitlinie Zervixkarzinom Version 2 01.02.08 Obere paraaortale LK negativ Radikale Hysterektomie Typ Piver II/ III Pelvine ggf. paraaortale LN FIGO Ib2 Obere paraaortale LK positiv Radio-Chemotherapie
11 Schlüsselfragen Themenkomplexe Schlüsselfragen Suchstrategie 1 2 sekundäre Hysterektomie IX.5 Ist eine perkutane Radiochemotherapie mit bzw. ohne Brachytherapie, mit anschließender sekundärer Hysterektomie einer perkutanen Radiochemotherapie mit Brachytherapie onkologisch gleichwertig? VIII.10 Hat die sekundäre HE nach prim RCHT einen Einfluss auf die Lokalrezidivrate, DFS, MFS, OS VIII.11 Sollte die sek. HE als radikale oder als einfache Hysterektomie durchgeführt werden? 4 OP vs. RCHT VII.1 Sind in den Frühstadien (IB und II) die operative Therapie und die Radiochemotherapie gleichwertig? 5 radikale Hysterektomie bei Lymphknotenbefall VIII.3 Sollte bei parametranen bzw. pelvin befallenen Lymphknoten auf die radikale Hysterektomie verzichtet werden? VIII.4 Sollte bei paraaortal befallenen Lymphknoten auf die radikale Hysterektomie verzichtet werden? (Ausmaß, anatomische Struktur, infra/supramesenterial) 6 pm1 XIX.6 Welche Optionen bestehen bei singulärer Metastase (RFA, Operation, Radiatio) Suchstrategie 2 Unterkomplex 1.4.: Therapeutische LNE vor RCHT XI.1 Ist die systematische pelvine bzw. paraaortale LNE vor primärer Radiochemotherapie (z.b. bei pn+) sinnnvoll? Nur Debulking? 3: Lymphknotenmetastasen IX.2 a+b Hat eine pelvine Strahlentherapie bzw. Radiochemotherapie bei pn1 pelvin (incl. singulärer Mikrometastase) nach therapeutischer Lymphonodektomie einen Einfluss auf IX.3 a+b die Lokalrezidivrate, DFS, MFS, OS? Hat eine paraaortale Strahlentherapie bzw. Radiochemotherapie bei pm1 paraaortal (incl. singulärer Mikrometastase) nach therapeutischer Lymphonodektomie einen Einfluss auf die Lokalrezidivrate, FS, MFS, OS? 8: neoadjuvante Chemotherapie X.4b Wie sind positive Lymphknoten nach neoadjuvanter Chemotherapie prognostisch sowie für die weitere Therapie zu bewerten?
Suchstrategie Die systematischen Literatursuchen wurden jeweils vom Zeitpunkt der Einführung der Datenbank bis April 2013 in folgenden Datenbanken durchgeführt: Embase Medline Medline In-Process & Daily Update Central CDSR (Cochrane Database of Systematic Reviews) DARE (Database of Abstracts of Reviews of Effects)
Studiendesigns Für alle PICO Fragen wurden folgende Studiendesigns eingeschlossen: Randomisiert -kontrollierte Studien (RCT) inklusive quasi-randomisierte kontrollierte Studien nicht-randomisierte, kontrollierte Studien (non-rct), d.h. experimentelle prospektive Studien, die sich von RCT lediglich darin unterschieden, dass die Zuteilung der Patientinnen zu den Interventionsgruppen nicht randomisiert erfolgte und Interventionsgruppen miteinander verglichen wurden prospektive, vergleichende Beobachtungsstudien systematische Reviews zu oben genannten Studiendesigns mit folgenden Charakteristika: die Literatursuche wurde in mindestens 2 elektronischen Datenbanken durchgeführt die Studienfrage wurde als PICO Frage formuliert die Beschreibung der Studienpopulationen, die Ergebnisse der Bewertung des Risikos für Bias und die Ergebnisse wurden tabellarisch und vergleichbar so abgebildet, dass sie eindeutig den einzelnen Studien zugeordnet werden konnten
PICO (S) Schlüsselfrage Einschlusskriterium Population Prüfintervention Vergleichsintervention VII.1 Themenkomplex 4: OP vs. RCHT Patientinnen mit Zervixkarzinom im Frühstadium (IB-II) radikale Hysterektomie Radiochemother apie mit Brachytherapie VIII.3 Themenkomplex 5: radikale Hysterektomie bei Lymphknotenbefa ll Patientinnen mit Erstdiagnose eines Zervixkarzinoms N1 pelvin und/oder parametran bei operablem Primärbefund VIII.4 Themenkomple x 5: radikale Hysterektomie bei Lymphknotenbe fall Patientinnen mit Erstdiagnose eines Zervixkarzinoms M1 paraaortal bei operablem Primärbefund. Radiochemotherapie und radikale Hysterektomie Radiochemotherapie IX.5 Themenkomplex 2: sekundäre Hysterektomie Patientinnen mit Erstdiagnose eines Zervixkarzinoms Stadium IIB Radiochemotherapi e mit/ohne Brachytherapie, mit anschließender sekundärer Hysterektomie Radiochemotherapi e mit Brachytherapie VIII.10 Themenkomplex 2: sekundäre Hysterektomie Patientinnen mit Erstdiagnose eines Zervixkarzinoms Stadium IIB RCHT mit/ohne Brachytherapie und sekundäre Hyterektomie RCHT mit/ohne Brachytherapie VIII.11 Themenkomple x 2: sekundäre Hysterektomie Patientinnen mit Erstdiagnose eines Zervixkarzinoms Stadium IIB + RCHT Mit oder ohne Brachytherapie wird nicht separat untersucht. Einfache Hysterektomie Radikale Hysterektomie XIX.6 Themenkomplex 6: pm1 Patientinnen mit Erstdiagnose eines Zervixkarzinoms M+ paraaortal (nur Mikrometastase) bei operablem Primärbefund. Radikale HE Radiochemotherapie Zielgrößen (klinische Wichtigkeit) Studiendesign 1. OS (kritisch) 2. alle Grad** 2+ Nebenwirkungen (wichtig) 3. alle Grad** 3+ Nebenwirkungen (wichtig) 4. Dyspareunie/Anorgasmie (Grad**2+ entspricht relevant) (wichtig) 5. Lymphödem (Grad** 2+) wichtig) 6. Inkontinenz (Darm+Blase) (wichtig) 7. Fistelbildung (Grad** 2+) (wichtig) 8. QoL (wichtig) 9. RFS (wichtig) GRADE Wahrscheinlich die gleichen Randomisiert-kontrollierte Studien (RCT), nicht randomisiert kontrollierte, experimentelle Studien (non-rct) und prospektive, beobachtende vergleichende Studien und systematische Review (SR)
Selektion - Flowchart
Ergebnis Studie Suche 1 Themenkomplex 2: sekundäre Hysterektomie Themenkomplex 4: OP vs. RCHT Themenkomplex 5: radikale Hysterektomie bei Lymphknotenbefall Themenkomplex 6: pm1 VIII.10 VIII.11 IX.5 VII.1 VIII.3 VIII.4 XIX.6 Systematische Reviews/RCT/Non-RCT Keine - - - - - - - gefunden
Ein typisches Problem im Rahmen der S3 Leitlinie Zervixkarzinom zu 11 systematisch aufgestellten Recherchen zu definierten Key Questions letztlich keine verwertbare Studie gefunden hoher zeitlicher und finanzieller Aufwand ohne nennenswerte Anzahl evidenzbasierter Empfehlungen
Was bedeutet das in der klinischen Praxis: Die entscheidende Frage bei der Therapie des Zervixkarzinoms, ist es besser zu operieren oder zu bestrahlen kann anhand der vorliegenden Literatur nicht beantwortet werden
Diskussion wieso gibt es keine entsprechenden Studien? Kein Geld: keine Interesse von seiten der Pharmaindustrie, kein öffentliches Interesse bei 4.000 Neuerkrankungen pro Jahr
Diskussion wieso gibt es keine entsprechenden Studien? Kein Geld: keine Interesse von seiten der Pharmaindustrie, kein öffentliches Interesse bei 4.000 Neuerkrankungen pro Jahr Entsprechende Studien sind kompliziert: große Variation von Op-Techniken- und Strahlentherapie
Diskussion wieso gibt es keine entsprechenden Studien? Kein Geld: keine Interesse von seiten der Pharmaindustrie, kein öffentliches Interesse bei 4.000 Neuerkrankungen pro Jahr Entsprechende Studien sind kompliziert: große Variation von Op-Techniken- und Strahlentherapie Entsprechende Patienten verteilen sich auf sämtliche Gynäkologische Abt. in Deutschland, kaum ein Zentrum hat mehr als 20 Fälle pro Jahr
Wie erfolgt die Therapie derzeit in der klinischen Praxis? Trotz fehlender Studien existiert eigentlich ein therapeutischer Standard aufgrund von Expertenmeinungen : jedes prinziell in sano zu operierende Zervixkarzinom sollte operiert werden
Und die Versorgungsrealität? In der klinischen Praxis hängt die Therapieentscheidung im Stadium Ib2 leider meist vom Zufall ab: Erstvorstellung in einer Klinik ohne operativen Schwerpunkt bedeutet Strahlentherapie, in einer Klinik mit operativem Schwerpunkt primäre Operation d.h. auch im Jahr 2014 nach Publikation der Leitlinien wird der Zufall über die entscheidende Frage entscheiden, welche Therapie eine Patientin erhält
Welche Lösungen gibt es? Unabhängige Fachgesellschaften müssen den Bedarf an Studien definieren, nicht z.b. die Pharmaindusitrie Finanzierung unabhängig von den Interessen der Sponsoren Zukünftig: Vorabrecherchen vor LL-Planung nötig, um vorhandene Evidenz zu identifizieren. Falls Evidenz vorhanden LL Aufarbeitung. Ansonsten primär Konsens planen.
Was ist realistisch? Vor Planung von Leitlinien Vorabrecherche: möglich Finanzierung unabhängig von den Interessen der Sponsoren: unmöglich