Personalisierte Medizin Science-Fiction oder Realität? Prof. Dr. med. Ivar Roots Institut für Klinische Pharmakologie und Toxikologie 18. VKD/VDGH-Führungskräfteseminar Gesundheit Wirtschaft Zukunft Das Krankenhaus von morgen 25. Februar 2011 U N I V E R S I T Ä T S M E D I Z I N B E R L I N
Individualisierte Medizin und Gesundheitssystem Zukunftsreport Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag Bärbel Hüsing et al. 2008 www.tab-beim-bundestag.de/ Entwicklungslinien in der Individualisierten Medizin Individuell angefertigte therapeutische Intervention (z.b. Prothesen, Implantate, individuell hergestellte Pharmazeutika, autologe Zelltherapien) Biomarker-basierte individualisierte Medizin Stratifizierung von Leitlinien und Therapiekonzepten Individualisierte Prävention durch genetische Stratifizierung Eine 20-Jahres-Perspektive
Die dunkle Seite der Arzneitherapie Therapieerfolg häufig nicht sicher: Responder/Nonresponder Nebenwirkungen häufig nicht vorhersehbar Wesentlich sind: Genetik und Komedikation als individuelle Faktoren
Individualisierte Arzneitherapie Leberfunktion 5x Patienten-Stratifizierung Alter Geschlecht Körpergewicht Leberfunktion Nierenfunktion Schwangerschaft Art, Schwere der Erkrankung Arzneimittel-Wechselwirkungen Ethnische Abstammung Pharmakogenetik Omeprazol-Konz. CYP2C19-Defizienz 1,0 15x Theophyllin CYP2C19*1/*2 Nierenfunktion normal + Ciclosporin Mück W et al., 1999 normal Johnson MA et al., 1998 10x 10x Wechselwirkung Pharmakogenetik 3% 25% 72% CYP2C19*1/*1 10 10 Stunden Brockmöller J et al., 2000
Warum ist Pharmakogenetik unverzichtbar in der individualisierten Arzneitherapie? Pharmakogenetik beschäftigt sich mit dem Einfluß der genetischen Ausstattung des Patienten auf die Arzneimittelwirkung. Individuelle Dosierung und Wirkstoffauswahl Bessere Wirksamkeit, keine Non-Response Weniger Nebenwirkungen Weniger Kosten im Gesundheitssystem Kürzere, kostengünstigere Arzneimittelentwicklung Stratifizierte Behandlungskonzepte
Pharmakogenetik befaßt sich meist mit Minderheiten: Patienten, die Träger eines ungünstigen Gens für die Arzneitherapie sind, bilden eine Minorität. Minoritätenrechte sind wir gewohnt zu respektieren: Wir müssen unsere Therapiekonzepte stratifizieren, um pharmakogenetische Minderheiten vor Schaden zu bewahren. Das ist eine ethische Frage betrifft aber auch die Verteilung der Resourcen im Gesundheitssystem. Dies ist der wichtigste Stimulus für die Einführung der Pharmakogenetik in die klinische Praxis.
Pharmakokinetische Prozesse Arzneimittelwechselwirkungen - Pharmakogenetik Absorption Verteilung Metabolismus Elimination Gene Rezeptoren, Targets Arzneimittelstoffwechsel Arzneimitteltransport Phase I CYP-Familie Dehydrogenasen Esterasen etc. Phase II N-Acetyltransferasen Glucuronyltransferasen etc. P-Glykoprotein Organische Anionen-transportierendes Polypeptid (OATP) etc.
Ein klassisches Beispiel der Pharmakogenetik aus den 1950er Jahren Tuberkulosebehandlung mit Isoniazid und interethnische Unterschiede
Bimodale Verteilung der N-Acetyltransferase-2-Aktivität (795 gesunde deutsche Probanden) Anzahl der Individuen 50 Anzahl der Individuen 40 30 20 Langsam- Acetylierer Genotypen schnell/schnell rapid/rapid (n=39) (n=39) schnell/langsam rapid/slow (n=312) (n=312) langsam/langsam slow/slow (n=444) (n=444) Schnell-Acetylierer 10 0-1,5-1,4-1,2-1,1-0,9-0,8-0,6-0,5-0,3-0,2 0,0 0,2 0,3 0,5 0,6 0,8 0,9 1,1 Koffeintest, log AFMU/1X Cascorbi I et al., Drug Metab Rev, 1999
Kontinent-spezifische Minoritäten bei NAT2-Genotypen Europäer Fernöstliche Asiaten % der Bevölkerung % der Bevölkerung 60 57,7 60 50 50 47,6 42,8 40 36,5 40 30 30 20 20 10 5,7 10 9,6 0 0 langsam/langsam schnell/langsam schnell/schnell langsam/langsam schnell/langsam schnell/schnell Minorität Minorität
Individuelle Isoniazid-Dosierung, bezogen auf den NAT2-Genotyp Isoniazid-Clearance, l/h Wenn die Isoniaziddosis nicht angepasst wird: - wird die fernöstliche Minorität der Langsamacetylierer überdosiert - wird die europäische Minorität der homozygoten Schnellacetylierer unterdosiert. langsam schnell (het.) schnell (hom.) Genotyp-bezogene Isoniazid-Dosis zur Erzielung gleicher Wirkstoffspiegel 2,5 mg/kg 5,0 mg/kg (fast) Anzahl der NAT2*4-Allele (schnell) 7,5 mg/kg Kinzig-Schippers M et al., Antimicrob Agents Chemother. 2005; 49:1733
Pharmakogenetisches Testen hilft, Nebenwirkungen und Toxizität zu vermeiden.
Association of OATP1B1 521T C to simvastatin-induced myopathy % patients with myopathy (cumulative) CC genotype greatest risk OATP1B1 is an influx transporter. Statins like simvastatin, pravastatin, atorvastatin are transported into the hepatocyte. Years since starting 80 mg of simvastatin CT genotype TT genotype Carriers of the CC genotype present with lower influx rates. Therefore, statin plasma concentrations are higher in CC carriers toxicity. Patients with myopathy from a trial involving 12,000 individuals. The Search Collaborative Group, NEJM 2008; 359:789
Maximaldosen für Statine je nach OATP1B1-Genotyp Mutation 521 T C Wildtyp (TT) mg/tag Heterozygote Mutation (TC) mg/tag Homozygote Mutation (CC) mg/tag Standard- Dosisbereich mg/tag Simvastatin 80 40 20 5-80 Pitavastatin 4 2 1 1-4 Atorvastatin 80 40 20 10-80 Pravastatin 80 40 40 10-80 Fluvastatin 80 80 80 20-80 Data by Niemi M, Clin Pharmacol Ther 87, 130 (2010) Dosisreduktion bei Trägern des mutierten Gens sollte Nebenwirkungen verringern möglicherweise aber auch die Wirksamkeit.
Pharmakogenetisches Testen hilft, die Wirkstärke eines Arzneimittels abzuschätzen. Beispiel: Antithrombotische Behandlung von Postinfarktpatienten mit Clopidogrel (Plavix, Iscover ).
Pharmakogenetik von Clopidogrel Clopidogrel ist selbst unwirksam und muß im Körper zum aktiven Metaboliten verstoffwechselt werden. starke genetische Varianz Absorption P-Glykoprotein CH 3 CYP2C19 CYP2B6 CYP1A2 PON1 CYP2C19 CYP2B6 CYP2C9 CYP3A4 CYP3A5 CH 3 Clopidogrel aktiver Metabolit (15%) Esterasen unwirksamer Metabolit (85%) hemmt P2Y12-Rezeptor und damit die Thrombozytenaggregation
Clinical consequences of CYP2C19 loss-of-function alleles during clopidogrel therapy. Ca. 1,400 post-infarction patients were studied for 450 days. Data of J.L. Mega et al., NEJM 2009; 360: 354 % of patients % of patients 14 12.1% 3 12 2,5 10 additional risk 2 8 6 8.0 % 1,5 4 1 2 0,5 2.6 % 0.8 % additional risk 0 0 carriers of CYP2C19 lossof-function alleles non-carriers carriers of CYP2C19 loss-offunction alleles non-carriers Composite endpoint: cardiovascular death, myocardial infarction, and stroke Endpoint: stent thrombosis
Pharmakogenetisches Testen hilft, Non-Responder einer Therapie vorab zu erkennen und einen pharmakoökonomischen Vorteil zu erlangen.
Mammacarcinomtherapie heute Mamma-Carcinom Chemotherapie Cyclophosphamid Methotrexat 5-Fluorouracil Anthrazykline Taxane Östrogenrezeptor + im Tumorgewebe Antiöstrogene Tamoxifen Aromatasehemmer Her2 + im Tumorgewebe Tyrosinkinase- Inhibitor Trastuzumab (Herceptin R )
Rezidivfreies Überleben von Mammakarzinom-Patientinnen unter Tamoxifen, bezogen auf den CYP2D6-Genotyp Normale Aktivität Geringe Aktivität Fehlende Aktivität (defizient) 7% der Bevölkerung Goetz MP et al., Breast Cancer Res Treat. 2007;101:113-21
Adjuvante Therapie bei Rezeptor-positivem Brustkrebs Pharmakoökonomische Abschätzung Aromatasehemmer Tamoxifen Wirksamkeit gut gut Verträglichkeit befriedigend gut (Frakturen, (Thromboembolien, Langzeiteffekte?) Endometriumca.) Kosten Medikamente 2.091 /Jahr 130 /Jahr Genotypisierung - ca. 200 einmalig Kosten für das erste Jahr (Behandlungsdauer 3-5 Jahre) Genotypisierung aller Patientinnen 10% der Patientinnen erhalten Aromatasehemmer 90% der Patientinnen erhaltentamoxifen Ergebnis: 526 pro Patientin im ersten Jahr.
Welche Evidenz benötigen wir zur Einführung pharmakogenetischer Teste bzw. Stratifizierungen? Selbstverständlich eine kontrollierte, randomisierte klinische Studie Ist diese auch immer erlaubt?
Ethisches Dilemma: Dürfen wir überhaupt eine randomisierte, prospektive klinische Studie durchführen, wenn wir bereits starke Hinweise haben, dass ein bestimmter Genotyp ein größeres Risiko für Non-Response hat? Voraussetzung für Randomisierung: Ehrliche Gleichverteilung der Risiken in allen Studienarmen. Zur Vermeidung einer No-go-Situation : Evidenz aus Grundlagenforschung und nicht-randomisierten Studien muss hier oft ausreichen.
Was machen wir mit einem Patienten, der mit einem fertigen Gentest kommt und darlegt, er gehöre zu einer pharmakogenetischen Minorität und müsse speziell behandelt werden? Nicht darauf eingehen, dürfte ethisch und juristisch schwierig sein. Geht man auf den Patienten ein, müsste man den Test allen Patienten ermöglichen. Finanzielles Desaster? Mitnichten! Genteste werden immer billiger. Analyse des Gesamtgenoms bald für < 1000. Nur 1x im Leben nötig. Test muß vor der Behandlung erfolgen. Alle relevanten Genotypen eines Patienten sollten für den Arzt verfügbar sein, wenn er rezeptiert. Elektronische Verordnungssysteme geben dem Arzt Therapieempfehlungen.
Software für die individualisierte Arzneitherapie am point of prescription Klinische Daten des individuellen Patienten Wissensdatenbank über Medikamente, einschließlich Pharmakogenetik und Wechselwirkungen Elektronisches Verschreibungssystem Therapieempfehlungen für den einzelnen Patienten