Positionspapier Eine Offensive für den Öffentlichen Personennahverkehr Baden-Württemberg ist ein Bundesland, das sich durch seinen Mix aus städtisch geprägten Gebieten und ländlichen Räumen auszeichnet. Dies hat Auswirkungen auf den öffentlichen Verkehr (ÖV), insbesondere aber auf den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV). Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass Lösungen für die städtisch geprägten Gebiete nicht nahtlos auf ländliche Gebiete übertragen werden können. Um mehr Menschen zum Umsteigen vom Pkw auf Busse und Bahnen zu bewegen, sind deshalb raumspezifisch zugeschnittene Konzepte zu berücksichtigen. Studien belegen, dass Städte in Deutschland mit einem sehr guten ÖPNV-Angebot eine um 42 Prozent niedrigere PKW-Dichte haben als solche mit mangelhaftem Nahverkehrsangebot. Dieses Papier soll Wege aufzeigen, wie der ÖPNV in Zukunft organisiert werden muss, um wettbewerbsfähig zu bleiben und Marktanteile hinzuzugewinnen. Die aktuellen Entwicklungen in der Verkehrspolitik in Baden-Württemberg machen eine echte ÖPNV-Offensive statt Fahrverboten und grün-schwarzen Mogelpackungen für das Land notwendiger denn je. Mobilität ist Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. Deshalb muss Mobilität auch für Menschen mit kleinem Geldbeutel bezahlbar sein. Mobilität darf nicht zur neuen sozialen Frage in Baden-Württemberg werden. Der Siegeszug des öffentlichen Personennahverkehrs Der ÖPNV ist vor allem in den Ballungsräumen Baden-Württembergs gut ausgebaut. Viele Städte verfügen über ein gut funktionierendes S-Bahn und/oder Stadtbahnnetz. Ein Großteil der Pendlerströme des städtischen und regionalen ÖPNV wird über die Schiene abgewickelt. Positionspapier ÖPNV-Offensive 1
Der Siegeszug des ÖPNV in den Ballungsräumen ist auch das Resultat vielfältiger Ausbaumaßnahmen und Angebotsverbesserungen in den letzten Jahren und Jahrzehnten. Über Jahre hinweg verzeichnete gerade der Schienenpersonennahverkehr (SPNV) im Land deshalb erfreuliche Fortschritte. Aufgrund der kurzen Taktung ist die Akzeptanz der Nutzer und somit die Auslastung sehr hoch. Daher sind besonders in den Stoßzeiten die Züge sehr voll, Kapazitätssteigerungen sind deshalb aber ohne teure Investitionen in die Infrastruktur kaum noch möglich. Mehr Busse & Bahnen Wer auch in Zukunft will, dass die Menschen vom Auto auf den ÖPNV umsteigen, muss das ÖPNV-Angebot im Land flächendeckend weiter ausbauen. Es reicht nicht, den Menschen zu sagen, sie müssten wegen Fahrverboten auf den ÖPNV umsteigen, ohne dass die dafür benötigten weiteren Kapazitäten bereit stehen. Wir brauchen deshalb mehr Busse& Bahnen auf mehr Strecken zu besseren Takten. Mit den geplanten Fahrverboten von Grün-Schwarz wird Mobilität unweigerlich wieder zur sozialen Frage. Denn nicht überall ist das ÖPNV-Angebot so attraktiv und bezahlbar, dass sich das Umsteigen auf Busse & Bahnen anbietet. Zeitgleich können sich nur wenige Menschen alle zwei oder drei Jahre ein neues Auto leisten, das dann die aktuellsten Abgasnormen erfüllt. Wer diese grün-schwarze Verbotspolitik nicht durch Ausnahmeregelungen langfristig aufweichen will, muss jetzt umfassend in den Ausbau des ÖPNV investieren. Ohne gemeinsame Anstrengungen der öffentlichen Hand wird dieses Ziel allerdings weder mittel- noch langfristig zu erreichen sein. Die finanziellen Voraussetzungen hierfür sind derzeit jedenfalls so gut wie lange nicht mehr. Dem Land kommt dabei eine besondere Schlüsselrolle bei den Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur zu, die die grün-schwarze Landesregierung allerdings entgegen zahlreicher Erklärungen in Sonntagsreden nicht anzunehmen bereit ist. Anstatt mutig voran zu gehen, wird gezögert, werden Nebenkriegsschauplätze eröffnet oder Mogelpackungen gefeiert. Positionspapier ÖPNV-Offensive 2
ÖPNV-Offensive für das Land Unser Ziel ist es, dass Baden-Württemberg angesichts der großen und neuen Herausforderungen Vorreiter beim Ausbau eines modernen ÖPNV in Deutschland wird. Dieser Ausbau wird nicht von heute auf morgen gelingen, aber jetzt stehen wichtige Weichenstellungen an, die darüber entscheiden werden, ob dieser notwendige Ausbau erfolgreich sein wird oder nicht. Was wir konkret brauchen: ein echtes Investitionsprogramm für neue Straßen- und Stadtbahnen und nicht nur ein Ersatzbeschaffungsprogramm für Alt-Fahrzeuge wie von Grün-Schwarz angekündigt. Der Verband deutscher Verkehrsunternehmen (VDV), Landesgruppe Baden-Württemberg, hat einen Investitionsbedarf für Schienenfahrzeuge von 100 Mio. Euro pro Jahr ermittelt. Nach aktueller Förderquote im Landesgemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (LGVFG) sind dies 50 Mio. Euro pro Jahr. Einen entsprechenden Antrag der SPD in den Haushaltsberatungen 2017 haben Grüne und CDU abgelehnt. Aber mit der Förderung von Ersatzbeschaffungen kann der ÖPNV nicht ausgebaut, sondern nur der Status Quo gehalten werden. Auch bei den Bussen sind künftig wegen der zunehmenden E-Mobilität in diesem Bereich höhere Investitionssummen notwendig. Das Landesgemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (LGVFG) muss ab dem Jahr 2020 auf eine neue Finanzierungsgrundlage gestellt werden. Die dem Land bis 2019 zustehenden Entflechtungsmittel des Bundes sind ab dem Jahr 2020 aus Landesmitteln zunächst mindestens in entsprechender Höhe zweckgebunden den Gemeinden für Investitionen zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse zur Verfügung zu stellen. Angesichts des Investitionsstaus auch auf diesem Gebiet ist eine Erhöhung der Fördermittel notwendig. Zumal Grün-Schwarz die von Grün-Rot umgesetzte Erhöhung des Anteils an den Fördermitteln für den ÖPNV- Bereich (60%) wieder zurückgenommen hat. Wir fordern daher eine Erhöhung der Mittel des Landes für das Landesgemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz von 165 Mio. Euro auf insgesamt 300 Mio. Euro. Davon sollen wieder 60% für den ÖPNV bereit stehen (180 statt 75 Mio. Euro). Positionspapier ÖPNV-Offensive 3
50 Mio. Euro für die Fahrzeugfinanzierung und weitere 130 Mio. Euro für ÖPNV- Projekte im Rahmen des LGVFG. Auch für den Radverkehr wollen wir mehr Geld ausgeben. 20 statt 15 Mio. Euro, davon 5 Mio. Euro für ein gezieltes Lückenschlussprogramm für kommunale Radwege. Städte und Gemeinden brauchen im Rahmen des LGVFG bereits heute Planungssicherheit für neue Projekte, die über das Jahr 2019 hinaus reichen. Deshalb ist eine frühzeitige Regelung der zukünftigen Finanzierung notwendig. Die Mittel hierfür sind vorhanden, da der Bund den Ländern statt der Entflechtungsmittel einen höheren Anteil an der Umsatzsteuer zur Verfügung stellt. Bis 2016 waren die Regionalisierungsmittel die Sorgenkinder der ÖPNV- Finanzierung, nicht nur in Baden-Württemberg, sondern in (fast) allen Bundesländern. Regionalisierungsmittel sind die Gelder, die der Bund den Bundesländern aufgrund des Regionalisierungsgesetzes (RegG) jährlich zur Finanzierung des SPNV zur Verfügung stellt. Die bisherigen nicht auskömmlichen Regelungen des RegG sind Ende 2014 ausgelaufen. Inzwischen haben sich Bund und Länder auf Eckpunkte zur Fortsetzung des RegG ab dem Jahr 2016 verständigt. Dadurch fließen Baden-Württemberg bis 2031 Mehrmittel in Höhe von rd. 3,2 Mrd. Euro zu. Diese Mittel sind in erster Linie in den notwendigen Angebotsausbau des regionalen Schienen- und S-Bahnverkehrs, d.h. in mehr Züge und dichtere Takte, zu investieren. Denn schon heute zeigt sich, dass das Taktangebot und die Kapazitäten nicht auf allen Strecken im Land ausreichend sind. Dabei sind die erwartbaren neuen Fahrgäste durch die angekündigten Fahrverbote noch gar nicht einberechnet. Ebenso hat das Land für einen pünktlichen und zuverlässigen SPNV im Land Sorge zu tragen. Verspätungen und Zugausfälle sind nicht dazu angetan, für eine große Bereitschaft zum Umsteigen auf den ÖPNV zu sorgen. Eingesparte Mittel und Pönalezahlungen sollen in erster Linie den am stärksten von den Störungen betroffenen Fahrgästen in Form von Angebotsverbesserungen und Infrastrukturertüchtigungen zur Fahrplanstabilisierung zu Gute kommen. Positionspapier ÖPNV-Offensive 4
Das Land hat im Winter 2016/17 für das sog. Feinstaubticket im Verkehrs- und Tarifverbund Stuttgart (VVS) über 6 Mio. Euro ausgegeben. Der Erfolg der Maßnahme war allerdings eher überschaubar. Dieses Geld darf in Zukunft als Beitrag des Landes im Kampf gegen Feinstaub und Stickoxide in der von den Verkehrsproblemen am Stärksten betroffenen Region Stuttgart nicht verloren sein, sondern muss bis zur Lösung der Problematik für tarifliche Maßnahmen für den ÖPNV in der Region Stuttgart zur Verfügung stehen. Die Vernetzung unterschiedlicher Verkehrsträger muss stärker in den Fokus rücken. PKW, Busse&Bahnen, Bürgerbusse, Carsharing- und E-Bike-Angebote sind keine Gegensätze, sondern sich ergänzende Fortbewegungsmittel, die sinnvoll verknüpft werden müssen und so den ÖPNV insgesamt stärken können. Es gibt bereits positive Beispiele, auch in Baden-Württemberg, so z.b. die POLYGO-Card des VVS in der Region Stuttgart. Damit werden zeitgleich die Chancen der Digitalisierung genutzt, in dem unterschiedliche Mobilitätsangebote elektronisch mit einer Karte nutzbar und bezahlbar sind. Eine flächendeckende Ausweitung solcher Angebote muss Teil der Neuausrichtung der Verbundförderung ab 2018 werden. Dabei ist allerdings auf die Kompatibilität dieser Angebot auch zwischen den Verkehrsverbünden zu achten. Im Zuge der Neuausrichtung der Verbundförderung muss auch die Zahl der Verkehrsverbünde in Baden-Württemberg kritisch überprüft werden. Es ist nicht vermittelbar, warum das größere Nordrhein-Westfalen mit 9 Verkehrsverbünden auskommt, es in Hessen nur 3 Verkehrsverbünde gibt, in Baden-Württemberg aber 22 Verkehrsverbünde existieren, die oftmals nur einen Landkreis abdecken. Der Zusammenschluss von Verkehrsverbünden muss im Zuge dieser Neuausrichtung gefördert werden. Dabei müssen die Mobilitätsräume der Menschen im Vordergrund stehen und nicht Landkreisgrenzen. Stuttgart, 20. Juni 2017 Martin Rivoir, Verkehrspolitischer Sprecher Thomas Leipnitz, Parlamentarischer Berater Positionspapier ÖPNV-Offensive 5