Unbestimmte Rechtsbegriffe und bestimmte Zuständigkeiten im Zusammenhang mit 35a SGB VIII Rechtsanwalt Prof. Dr. Knut Hinrichs, Bochum/Hamburg Evangelische Fachhochschule R-W-L, Bochum EREV-Forum 35-2004: Eingliederungshilfen nach 35a SGB VIII/KJHG 9.-11.03.2004 in Eisenach
Gliederung Der Tatbestand des 35a SGB VIII unbestimmte Rechtsbegriffe Nachrang/Abgrenzung zu der medizinischen Rehabilitation der gesetzlichen Krankenkassen der sozialen und medizinischen Rehabilitation der Sozialhilfe den Bildungsleistungen der Schulen Die Rechtsfolge des 35a SGB VIII geeignete und notwendige Hilfe Einzelfallbetrachtung Kongruente Leistungen anderer Reha-Träger Notwendige Konsequenz: Zuständigkeitsstreitigkeiten Lösungsweg 1: Vorläufige Leistungen, Kostenerstattung Lösungsweg 2: Selbstbeschaffung der Leistung Lösungsweg 3: Zwang zur Zuständigkeitsklärung Diskussion 2
Der Tatbestand des 35a SGB VIII (Drohende) Seelische Behinderung nach 35a SGB VIII, 2 SGB IX: ein unbestimmter Rechtsbegriff Gesetzliche Fassung: Hohe Wahrscheinlichkeit der Abweichung der seelischen Gesundheit vom typischen Zustand des Lebensalters Länger als sechs Monate Beeinträchtigung der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben Auch nicht wesentliche Behinderung (anders: 39 BSHG) Begriffliche Fassung dreigliedriger Behinderungsbegriff: Individuelle seelische Störung (impairment) dadurch bedingte individuelle Einschränkungen (disability) dadurch bedingte soziale Beeinträchtigung (handicap) 3
Die Rechtsfolgen des 35a SGB VIII 1 39 Abs. 3, 40 BSHG: medizinische Rehabilitation 26 Abs. 1, 2 SGB IX ärztliche Leistungen Psychotherapie, Frühförderung 26 Abs. 3 SGB IX psychosoziale Dienstleistungen (z.b. Hippotherapie) Fließender Übergang zur sozialen und schulischen Rehabilitation 56 SGB IX heilpädagogische Maßnahmen 40 Abs. 1 Nr. 4, 5, 6 BSHG Hilfen zu einer angemessenen Schulbildung 40 Abs. 1 Nr. 8 BSHG i.v.m 55 SGB IX heilpädagogische Maßnahmen 4
Die Rechtsfolgen des 35a SGB VIII 2 40 Abs. 1 BSHG: Maßnahmen der Eingliederungshilfe sind vor allem Im Ergebnis: Jede (ambulante, stationäre ) Hilfemaßnahme, die geeignet und notwendig ist um die Ziele der Eingliederungshilfe zu erreichen. Einzelfallbetrachtung! Problem: kongruente Leistungen anderer Leistungsträger 5
Nachrang und Abgrenzung von Jugendhilfe Jugendhilfe und Sozialversicherung 10 Abs. 1 SGB VIII: Nachrang der Jugendhilfe Leistungen der medizinischen Rehabilitation 40, 43 SGB V Jugendhilfe und Sozialhilfe 10 Abs. 2 S. 1 SGB VIII: Vorrang der Jugendhilfe im Verhältnis zur Sozialhilfe Aber: 10 Abs. 2 S. 2 SGB VIII - Eingliederungshilfe: Bei geistiger und körperlicher Behinderung Vorrang der Sozialhilfe, 39 ff. BSHG Jugendhilfe und Schule Keine ausdrücklichen Regelungen Problem (z.b. bei Legasthenie Dyskalkulie, ADS): Schulen gewähren keine Sozialleistungen 6
Verhältnis von Jugendhilfe und Sozialhilfe Probleme: Grenzfälle zwischen geistiger und seelischer Behinderung Mehrfachbehinderung Unklare Zuordnung (Beispiel: frühkindlicher Autismus) Bundesverwaltungsgericht (ZfJ 2000, 191-193) Klare Abgrenzung der geeigneten und notwendigen Hilfen Nur bei kongruenten Leistungen Vorrangigkeit der Sozialhilfe Im Verhältnis zum Leistungsberechtigten wird der nachrangige Leistungträger nicht frei Ausgleich über die Kostenerstattung 7
Zuständigkeitsstreitigkeiten 1 Lösungsweg 1: Vorläufige Leistungen mit nachfolgender Kostenerstattung 43 SGB I als Zentralnorm bei Zuständigkeitsstreitigkeiten Besteht ein Anspruch auf Sozialleistungen und ist zwischen mehreren Leistungsträgern streitig, wer zur Leistung verpflichtet ist, kann der unter ihnen zuerst angegangene Leistungsträger vorläufig Leistungen erbringen, deren Umfang er nach pflichtgemäßem Ermessen bestimmt. Er hat Leistungen nach Satz 1 zu erbringen, wenn der Berechtigte es beantragt; die vorläufigen Leistungen beginnen spätestens nach Ablauf eines Kalendermonats nach Eingang des Antrags. 44 BSHG als besondere Norm zur vorläufigen Hilfeleistung Effektivste Form des Verbotes Zuständigkeitsstreitigkeiten dürfen nicht auf dem Rücken des Hilfeempfängers ausgetragen werden! 8
Zuständigkeitsstreitigkeiten 2 Lösungsweg 2: Selbstbeschaffung der Leistung Berechtigter nimmt Leistung beim freien Träger in Anspruch und fordert das Jugendamt im Nachhinein zur Kostenerstattung auf Achtung! h.m.: nur bei Säumigkeit des Jugendamtes und/oder Eilbedürftigkeit des Bedarfs Tatbestand und Rechtsfolge müssen vorliegen Hohes Risiko! 9
Zuständigkeitsstreitigkeiten 3 Lösungsweg 3: Zwang zur Zuständigkeitsklärung 14 SGB IX 14 Tage Frist, danach einmalige Weiterleitung, dann Leistungsverpflichtung Danach Fristsetzung des Berechtigten mit nachfolgender Selbstbeschaffung nach 15 SGB IX Selbstbeschaffung gilt nicht für Jugend- und Sozialhilfe Wenig überzeugend VG Oldenburg: Angeblich Verdrängung des 43 SGB I Service-/Clearingstellen nach 23 SGB IX Koordinierte Verfahren mehrerer zuständiger Leistungsträger, 10 SGB IX 10
Fazit Rehabilitation ist eine Querschnittsaufgabe Sozialverwaltung ist gegliedert Zuständigkeitsstreitigkeiten sind damit notwendig Die freien Träger müssen die vorläufigen Leistungen ernst nehmen Die öffentlichen Träger müssen die vorläufigen Leistungen ernst nehmen Keine Scheu vor den Verwaltungsgerichten Mit ihrer Hilfe sind trotz unbestimmter Rechtsbegriffe bestimmte Zuständigkeiten bzgl. 35a SGB VIII festzustellen 11