PTSD bei Kleinkindern: Beurteilung & Diagnose Richard Meiser-Stedman, University of East Anglia r.meiser-stedman@uea.ac.uk Trauma und Traumapädagogik in der frühen Kindheit Samstag, 24. März 2018, 9.00 14.00, Universität Zürich
Mein Dank gilt Tim Dalgleish Patrick Smith Ed Glucksman William Yule THE PSYCHIATRY RESEARCH TRUST Rachel Hiller Sarah Halligan
PTSD bei Kindern und Jugendlichen 1980er-Jahre: Verbreitet anerkannt, dass PTSD bei Kindern auftreten kann Fährunglück Herald of Free Enterprise US-Scharfschütze Bus-Kidnapping in Chowchilla Minimale Anpassungen von DSM-IV für diese Altersgruppe, d.h. es werden die gleichen Kriterien wie bei Erwachsenen verwendet
Eltern-Kind-Übereinstimmung für PTSD Gering! Perspektive des Kinds ist entscheidend Eltern können PTSD-Schweregrad bei ihren Kindern über- oder unterschätzen
Weshalb sollte man sich Gedanken über PTSD machen? Nicht die einzige psychische Erkrankung, die aus einem Trauma resultieren kann Ist es bloss ein Etikett für Belastung? Kann es sein, dass wir «überpathologisieren»?
Weshalb sollte man sich mit PTSD beschäftigen? PTSD kann chronisch sein sogar bei Monotraumas Jupiter (Schiffsunglück): 18% PTSD (5-8 Jahre später) Aberfan (Haldenrutsch): 30% PTSD (33 Jahre später) Kindsmissbrauch & psychische Gesundheit von Erwachsenen Sexueller Missbrauch an Kindern erhöhtes Risiko für: Substanzkonsumstörungen, soziale Ängste, Depressionen & Suizidversuche, Viktimisierung, Psychose Brent et al., 2002; Nelson et al., 2002
PTSD bei Kindern im Vorschulalter? DSM-IV-Diagnosekriterien unangemessen Beruhen auf den Angaben der Eltern Symptome schwer erkennbar... Intrusive Erinnerungen, Flashbacks...oder entwicklungstechnisch bedeutungslos Verkürzte Zukunft, beschränkte Affekttiefe
Mike Scheeringas frühe Arbeiten Scheeringa et al. 1995, JAACAP
Mike Scheeringas frühe Arbeiten KEINE Fälle von PTSD (DSM-IV) ABER: 19/20 mit 1+ Wiedererleben- Symptom 8/20 mit 2+ Hyperarousal- Symptomen Scheeringa et al. 1995, JAACAP
PTSD bei Kindern im Vorschulalter? Altersspezifischer (age appropriate) Algorithmus wird vorgeschlagen (PTSD-AA) Keine peritraumatische Reaktion 1 Wiedererleben-Symptom 1 Vermeidungs-Symptom 2 Hyperarousal-Symptome Funktionsbeeinträchtigung bleibt bestehen -> Vorschul-PTSD-Diagnose in DSM-5 (2013) Spezifische, an Kleinkinder angepasste Diagnose
Vorschul-PTSD-Diagnose, DSM-5 1+ Wiedererleben-Symptom Intrusive Erinnerungen Albträume «Flashbacks» Überlastung bei Erinnerungen Physiologische Reaktivität auf Erinnerungen 1+ Vermeidung oder negative Veränderung der Kognitionen Vermeidung von Tätigkeiten, Orten oder körperliche Erinnerungen Vermeidung von Menschen, Gesprächen oder zwischenmenschlichen Situationen Negative emotionale Zustände (z.b. Angst, Schuld, Trauer, Scham, Verwirrung) Vermindertes Interesse an wichtigen Aktivitäten, einschliesslich Einschränkung beim Spielen Sozial zurückgezogenes Verhalten Weniger positive Emotionen
Vorschul-PTSD-Diagnose, DSM-5 2+ Hyperarousal-Symptome: 1. Gereiztes Verhalten und Wutausbrüche (einschliesslich extremer Wutanfälle) 2. Hypervigilanz 3. Übertriebene Schreckreaktion 4. Konzentrationsstörungen 5. Schlafstörungen
Eine verlässliche Diagnose? Prospektive Gültigkeit, d.h. längerfristig stabil Scheeringa et al. 2005, JAACAP Wiedererleben von Symptomen bei Vorschulkindern mit Brandflecken, assoziiert mit weniger lächelnd Im Labor ausgewertet; Stoddard et al. 2006, AmJPsychiatry Geeignet für andere Kulturen, z.b. Vorschulkinder in Japan, die eine Gasexplosion miterlebten 0/32 DSM-IV PTSD; 8/32 mit altersspezifischem Algorithmus Ohmi et al. 2002, EurJPed Nach wie vor viele Symptome
The London study Notaufnahme-Studie mit Überlebenden von Verkehrsunfällen NICHT-klinische Probandengruppe Häufiges Trauma Wie entsteht bei Kleinkindern eine PTSD? Akut -> chronische Reaktionen Was ist eine «normale» Traumareaktion? Prädikatoren für chronische PTSD bei Kleinkindern? Veröffentlicht in American Journal of Psychiatry & Journal of Clinical Psychology
Methode 2-10 Jahre alte Kinder in Notaufnahmen South London, 05/2004-11/2005 Verkehrsunfälle Häufige Verletzungsursache in der Kindheit 114/312 (36.5%) waren bereit, an der Studie teilzunehmen Keine Unterscheidung nach Triage/ Alter/Geschlecht
Teilnehmende (n=114) Demographische Angaben 47.4% weiblich 63.2% mit doppelten Wurzeln / ethnische Minderheit Verletzung 24.6% keine Verletzung 69.3% Verletzung Weichgewebe 5.3% Bruch 15.8% Aufnahme 6.1% bewusstlos Unfallart 41.2% Fussgänger 47.4% Fahrzeuginsassen 5.3% Radfahrer 5.3% Businsassen 0.9% Mofa Betreuungsperson 85.1 % Mutter 7.9% Vater 2.6% Grosseltern 4.4% Andere
Messinstrumente Posttraumatische Belastungsstörung Semistrukturiertes Interview für Säuglinge und Kleinkinder (PTSDSSI) ABR/PTSD & PTSD-AA Scheeringa et al., 2003 Klinisches Interview zur PTSD bei Kindern und Jugendlichen (IBS-P-KJ) [Selbsteinschätzung!] Nader et al., 1996
Vorgehen DATENERHEBUNG 2-4 Wochen (T1) n=113 6 Monate (T2) n=109 (95.6%) 3 Jahre (T3) n=71 (62.2%) Interviews wurden bei den Familien zuhause durchgeführt Bei akuten PTSD-Symptomen wurde eine Behandlung in der Child Traumatic Stress Clinic angeboten
Ergebnisse Angaben Eltern (%) Angaben Eltern 2-6 Jahre 7-10 Jahre Alle T1 (2-4 Wochen nach MVA): n=62 n=51 n=113 Wiedererleben 31 (50.0%) 24 (47.1%) 55 (48.7%) Vermeidung 16 (25.8%) 31 (60.8%) 47 (41.2%) Hyperarousal 22 (35.5%) 17 (33.3%) 39 (34.5%) Beeinträchtigung 17 (27.4%) 16 (31.4%) 33 (29.2%) T2 (6 Monate nach MVA): n=60 n=48 n=108 Wiedererleben 21 (35.0%) 20 (41.7%) 41 (38.0%) Vermeidung 11 (18.3%) 16 (33.3%) 27 (25.0%) Hyperarousal 19 (31.7%) 21 (43.8%) 40 (37.0%) Beeinträchtigung 11 (18.3%) 17 (35.4%) 28 (25.9%)
Ergebnisse Angaben Eltern (%) 2-6 Jahre (n=62) DSM-IV PTSD- AA 7-10 Jahre (n=51) DSM-IV PTSD- AA Alle (n=113) DSM-IV PTSD- AA 2-4 Wochen 0.0 3.9 2.6 6 Monate 1.7 2.1 1.9 3 Jahre
Ergebnisse Angaben Eltern (%) 2-6 Jahre (n=62) DSM-IV PTSD- AA 7-10 Jahre (n=51) DSM-IV PTSD- AA Alle (n=113) DSM-IV PTSD- AA 2-4 Wochen 0.0 6.5 3.9 17.7 2.6 11.5 6 Monate 1.7 10.0 2.1 18.8 1.9 13.9 3 Jahre
Ergebnisse Angaben Eltern (%) 2-6 Jahre (n=62) DSM-IV PTSD- AA 7-10 Jahre (n=51) DSM-IV PTSD- AA Alle (n=113) DSM-IV PTSD- AA 2-4 Wochen 0.0 6.5 3.9 17.7 2.6 11.5 6 Monate 1.7 10.0 2.1 18.8 1.9 13.9 3 Jahre 0.0 2.4 3.4 3.4 1.4 2.8
Zusammenfassung: PTSD Angaben Eltern PTSD-Symptome kommen ziemlich häufig vor! Stabile Angaben in den ersten sechs Monaten; reduziert bei Follow-Up nach 3 Jahren Mit PTSD-AA (heute Vorschul-PTSD in DSM-5) können viel mehr Fälle diagnostiziert werden als mit DSM-IV PTSD Bei älteren Kindern wird öfters PTSD diagnostiziert als bei Vorschulkindern Die meisten Kinder erreichen Diagnose-Schwelle nicht! Aber... Was ist mit den Kindern selbst?
Ergebnisse Angaben Kind (%) 2-6 Jahre 7-10 Jahre (n=51) DSM-IV PTSD- AA DSM-IV PTSD- AA DSM-IV Alle PTSD- AA 2-4 Wochen - 22.9-6 Monate - 13.3-3 Jahre
Ergebnisse Angaben Kind (%) 2-6 Jahre 7-10 Jahre (n=51) DSM-IV PTSD- AA DSM-IV PTSD- AA DSM-IV Alle PTSD- AA 2-4 Wochen - - 22.9 35.4 - - 6 Monate - - 13.3 17.8 - - 3 Jahre
Ergebnisse Angaben Kind (%) 2-6 Jahre 7-10 Jahre (n=51) DSM-IV PTSD- AA DSM-IV PTSD- AA DSM-IV Alle PTSD- AA 2-4 Wochen - - 22.9 35.4 - - 6 Monate - - 13.3 17.8 - - 3 Jahre 7.7 19.2 7.4 14.8 7.5 17.0 (NB n=53 nach 3 Jahren)
Eltern-Kind-Übereinstimmung 7-10 Jahre alt T1 (2-4 Wochen) ABR: Cohens κ =.09 PTSD-AA: Cohens κ = -.02 T2 (6 Monate) PTSD: Cohens κ = -.04 PTSD-AA: Cohens κ = -.09 T3 (3 Jahre): PTSD: Cohens κ = -.03 PTSD-AA: Cohens κ = -.04 d.h. bestenfalls Zufallsübereinstimmung Im Vergleich zu ihren Kindern melden Eltern eine PTSD seltener
Prognose einer chronischen PTSD-AA Informant Altersgruppe Positiver Vorhersagewert Negativer Vorhersagewert Sensitivität Spezifität Elternteil 2-6 Jahre.75.95.50.98 7-10 Jahre.67.92.67.92 Alle.69.94.60.96 Kind 7-10 Jahre.31.89.63.69
Diagnostizieren Eltern bei ihren Kindern eine PTSD korrekt? Von 11 PTSD-Fällen beim 3-Jahre-Assessment hatten die Eltern bei T1 nur 4 Fälle gemeldet Übersehen Eltern viele PTSD? Oder verzögertes Auftreten?
PTSD-Faktoren-Struktur bei Vorschulkindern Wiedererleben Negative Wahrnehmungen und Stimmung Aktive Vermeidung Arousal Aktive Vermeidung Ängstliches Arousal N=284 3-6 Jahre alt, US; McKinnon et al., Eingereicht Wiedererleben Dysphorische Erregung
Besseres Verständnis der Vorgänge dank der Ätiologie? Demografische Faktoren? Trauma-Faktoren? Eltern-Faktoren?
Korrelation der von den Eltern angegebenen PTSD-Symptome (Meiser- Stedman et al. 2017) Age -0.4-0.3-0.2-0.1 0 0.1 0.2 0.3 0.4 0.5 0.6 Female Sex Minority Ethnic IQ 2-4 weeks 6 months 3 years Triage Fracture Admitted Persistent injury With child Separation 1 hour+ Parent PTSS Parent depression
Die entscheidende Rolle der Eltern Wieso sind sie so wichtig? Fördern sie Vermeidung? Genetische Faktoren? Unwahrscheinlich Verzerren die PTSD-Symptome der Eltern deren Perspektive?
Eltern von Kleinkindern Hiller et al. 2016, Journal of Pediatric Psychology PDS 2-4 Wochen (n=88) 24% moderat, 15% moderat-schwer, 3% schwer 6 Monate (n=56) 13% moderat, 9% moderat-schwer, 2% schwer 3 Jahre (n=52) 6% moderat, 2% moderatschwer, 0% schwer
Eltern von Kleinkindern Direkte Exposition der Eltern, Schuldzuweisung, Triage Rating ohne Bezug zum PTSS-Schweregrad
Einschätzung dauerhafter psychischer Schäden durch die Eltern 9. Ich denke, mein Kind war durch den Unfall zu stark geschockt und wird nicht darüber hinwegkommen. 16. Ich mache mir Sorgen, dass mein Kind seit dem Unfall verrückt wird. 17. Ich glaube nicht, dass meine Familie je wieder die gleiche sein wird. 20. Der Unfall hat zu nachhaltigen Schäden bei meinem Kind geführt.
Screening-Instrumente Scheeringa: Young Child PTSD Screen/Checklist? Identifizierung gefährdeter Kleinkinder? CBCL PTSD; 9+ Dehon & Scheeringa 2006 Pediatric Emotional Distress Scale (PEDS) Saylor et al. 1999 Pediatric Emotional Distress Scale Early Screener Kramer et al. 2013 Child and Adolescent Trauma Screen, parent-report version Sachser et al. 2017
Zusammenfassung Bei Kleinkindern können PTSD auftreten Es müssen angemessene Kriterien verwendet werden! DSM-5 PTSD-Diagnose für Vorschulkinder scheint angemessen zu sein Einige PTSD-Symptome sind nicht aussergewöhnlich muss nicht gleich eine PTSD-Diagnose bedeuten Kann mehrere Jahre dauern ABER Eltern sind nicht die idealen Personen, um PTSD zu erkennen!
Zusammenfassung Gewisse Symptome können den Eltern verborgen bleiben Die PTSD-Diagnose durch Eltern bei ihren Kindern kann von deren eigener PTSD und Überzeugungen beeinflusst werden Objektiver Trauma-Schweregrad nicht so wichtig für PTSD-Risiko In der klinischen Arbeit muss die Rolle der Eltern/Mutter als entscheidend angesehen werden Es muss das Ganze und nicht nur das Kind betrachtet werden Behandlung für Eltern/Betreuende? Bessere Ausbildung PTSD ist KEINE lebenslängliche Strafe!
Zusammenfassung Bei älteren Kindern/Jugendliche kann PTSD als Reaktion auf frühere Ereignisse auftreten d.h. offen sein, evtl. langfristige Follow-Ups anbieten? Was ist mit anderen posttraumatischen Zuständen, z.b. Depressionen? Trennungsängste?
Danke! r.meiser-stedman@uea.ac.uk
Eine PTSD ist eine einzigartige psychische Erkrankung, die als einzige (zumindest innerhalb von DSM-5) über einen separaten diagnostischen Rahmen für Kleinkinder verfügt. Dies ist ein bedeutender Fortschritt für die klinische Arbeit mit dieser Patientengruppe und ein einzigartiger «Testfall» für psychische Störungen bei Kleinkindern ganz allgemein. Doch inwiefern hilft uns diese Diagnose bei der Arbeit mit Kleinkindern? In diesem Vortrag werde ich skizzieren, wie wir zu dieser Diagnose gekommen sind und was sie beinhaltet, wobei wir unsere Erfahrungen aus Studien in London und East Anglia hervorheben. Ich werde skizzieren, was wir über die PTSD-Diagnose im Vorschulalter nach ein- und mehrfachen Traumaexpositionen und über die klinische Komplexität der Arbeit mit PTSD in dieser Altersgruppe wissen. Insbesondere werde ich auf die wichtige Rolle der Eltern und Betreuenden bei der PTSD-Diagnose bei Kleinkindern und auf die damit verbundenen Probleme eingehen. Zudem werde ich einen Überblick über die PTSD-Symptom-Struktur bei Kleinkindern liefern und darüber, wie dies unser Verständnis der Erkrankung beeinflusst handelt es sich um eine echte traumatische Belastungsstörung oder um etwas ganz anderes? Abschliessend werde ich die Vor- und Nachteile der Fokussierung auf «PTSD» bei der Betrachtung der psychischen Gesundheit nach einem Trauma in dieser gefährdeten Bevölkerungsgruppe diskutieren.