Eurokrise und Osterweiterung: Neue Muster der Arbeitsmobilität im Europäischen Binnenmarkt



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Transkript:

Eurokrise und Osterweiterung: Neue Muster der Arbeitsmobilität im Europäischen Binnenmarkt Prof. Dr. Herbert Brücker Universität Bamberg und Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) Krise als Chance - Auf dem Weg zu einem neuen Europa? Universität Köln, 12. November 2012 Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 1 / 65

Einführung Einführung Zwei Grossereignisse haben die wirtschaftlichen Bedingungen für Migration in Europa verändert: Die Eurokrise und ihre asymmetrischen Auswirkungen auf die nördlichen und südlichen Mitgliedsstaaten der EU Die EU Osterweiterung und die Einführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit für eine Gruppe von 10 Ländern mit vergleichsweise geringem Pro-Kopf Einkommen Beides macht Deutschland heute zu einem der wichtigsten Zielländer der Migration in Europa nach einem "verlorenem" Jahrzehnt Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 2 / 65

Einführung Stilisierte Fakten Vier stilisierte Fakten charakterisieren die Migrationsbedingungen in Europa seit Beginn der Krise 2008: 1. Die Eurokrise und die Rezession in der Eurozone haben zu stark steigenden Zinsen für Staatsanleihen in Griechenland, Irland, Spanien, Portugal und Italien, aber zu sinkenden Zinsen in Deutschland, Österreich, den Niederlanden und Skandinavien geführt 2. Die Arbeitslosigkeit und insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit ist in den südlichen EU-Ländern gegenüber der Periode vor der Krise stark gestiegen, in Deutschland stark gesunken Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 3 / 65

Einführung Zins auf langfristige Staatseinleihen (Laufzeit: 10 Jahre) Quellen: OECD, EZB, eigene Berechnungen. Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 4 / 65

Einführung Zins auf langfristige Staatseinleihen (Laufzeit: 10 Jahre) Quellen: OECD, EZB, eigene Berechnungen. Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 5 / 65

Einführung Zins auf langfristige Staatseinleihen (Laufzeit: 10 Jahre) Quellen: OECD, EZB, eigene Berechnungen. Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 6 / 65

Einführung Stilisierte Fakten Vier stilisierte Fakten charakterisieren die Migrationsbedingungen in Europa seit Beginn der Krise 2008: 1. Die Eurokrise und die Rezession in der Eurozone haben zu stark steigenden Zinsen für Staatsanleihen in Griechenland, Irland, Spanien, Portugal und Italien, aber zu sinkenden Zinsen in Deutschland, Österreich, den Niederlanden und Skandinavien geführt 2. Die Arbeitslosigkeit und insbesondere die Jugendarbeitslosigkeit ist in den südlichen EU-Ländern gegenüber der Periode vor der Krise stark gestiegen, in Deutschland stark gesunken Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 7 / 65

Einführung Arbeitslosenquote in % (ILO Konzept) Quellen: OECD, EZB, eigene Berechnungen. Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 8 / 65

Einführung Arbeitslosenquote in % (ILO Konzept) Quellen: OECD, EZB, eigene Berechnungen. Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 9 / 65

Einführung Arbeitslosenquote in % (ILO Konzept) Quellen: OECD, EZB, eigene Berechnungen. Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 10 / 65

Einführung Stilisierte Fakten (Forts.) 3. Die südlichen EU-Mitgliedstaaten stagnieren oder befinden sich in einer zweiten Rezession, während Deutschland und einige nordeuropäische Mitgliedsstaaten sich von dem Produktionseinbruch 2008/09 erholt haben 4. Deutschland hat seine Position als Zielland der Migration in Konkurrenz zu alternativen Destinationen in der Eurozone und der EU deutlich verbessert Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 11 / 65

Einführung Reales BIP pro Kopf (in EURO) Quellen: OECD, EZB, eigene Berechnungen. Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 12 / 65

Einführung Reales BIP pro Kopf (in EURO) Quellen: OECD, EZB, eigene Berechnungen. Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 13 / 65

Einführung Reales BIP pro Kopf (in EURO) Quellen: OECD, EZB, eigene Berechnungen. Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 14 / 65

Einführung Stilisierte Fakten (Forts.) 3. Die südlichen EU-Mitgliedstaaten stagnieren oder befinden sich in einer zweiten Rezession, während Deutschland und einige nordeuropäische Mitgliedsstaaten sich von dem Produktionseinbruch 2008/09 erholt haben 4. Deutschland hat seine Position als Zielland der Migration in Konkurrenz zu alternativen Destinationen in der Eurozone und der EU deutlich verbessert Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 15 / 65

Einführung Reales BIP pro Kopf der Zielländer (in EURO) Quellen: OECD, EZB, eigene Berechnungen. Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 16 / 65

Einführung Reales BIP pro Kopf der Zielländer (in EURO) Quellen: OECD, EZB, eigene Berechnungen. Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 17 / 65

Einführung Arbeitslosenquote der Zielländer in % (ILO Konzept) Quellen: OECD, EZB, eigene Berechnungen. Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 18 / 65

Einführung Arbeitslosenquote der Zielländer in % (ILO Konzept) Quellen: OECD, EZB, eigene Berechnungen. Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 19 / 65

Einführung Hoffnungen und Befürchtungen I Unter diesen Bedingungen ist mit (i) einem Anstieg der Migration aus den südeuropäischen Krisenländern und (ii) einer Umlenkung der Migration aus nicht von der Krise betroffenen Ländern nach Deutschland zu rechnen In Deutschland und anderen Zielländern wirft dies Befürchtungen auf, dass die zusätzliche Migration zu sinkenden Löhnen und steigender Arbeitslosigkeit führen wird Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 20 / 65

Einführung Hoffnungen und Befürchtungen II In den Herkunftsländern wird dagegen befürchtet, dass die Abwanderung von qualifizierten Arbeitskräften zu einem "Brain Drain" mit negativen Folgen für Gesamtwirtschaft und Wachstum führen wird Demgegenüber erhoffen sich die Theorien optimaler Währungsräume von hoher Arbeitsmobilität die Absorbtion asymmetischer Schocks (Mundell, AER 1961) und die Theorien der Faktormobilität einen produktiveren Einsatz des Faktors Arbeit Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 21 / 65

Drei Fragen Einführung 1 Wie verändert die Eurokrise den Umfang der Migration? 2 Führen die Eurokrise und die EU Osterweiterug zu einem Brain Drain? 3 Wie wirken sich Migration und Brain Drain auf Arbeitsmarkt und Gesamtwirtschaft in den Ziel und Herkunftsländern aus? Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 22 / 65

Zwei Herausforderungen für die Schätzung der Auswirkungen der Eurokrise 1 Die Migrationsbedingungen zeichnen sich seit der Eurokrise durch hohe Ungewissheit aus. Diese Ungewissheit wird durch bestehende empirische Modelle der Migration nur unvollkommen abgebildet. 2 Mit der Eurokrise haben sich die Bedingungen für die Zuwanderung nach Deutschland nicht nur verbessert, sondern in alternativen Zielländern wie Spanien und Großbritannien auch verschlechtert. Bestehende empirische Migrationsmodelle ignorieren aber die Bedingungen in alternativen Zielländern. Hier wird ein neuer Schätzansatz präsentiert, der (i) die Ungewissheit über die künftigen Bedingungen durch Einführung einer neuen Variable reflektiert, und (ii) die Bedingungen in alternativen Zielländern berücksichtigt (Bertoli / Brücker / Fernandez-Huertas Moraga, work in progress) Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 23 / 65

Problem I: Migration und Ungewissheit Humankapitaltheorie der Migration: Migration ist eine Investition in menschliches Humankapital. Migriert wird, wenn die abdiskontierten Nettoerträge definiert als Differenz der erwarteten Einkommensströme im Ziel- und Herkunftsland die monetären und sozialen Kosten übersteigen (Sjaastadt, AER 1962) Die erwarteten Einkommensströme hängen von den Beschäftigungschancen in den jeweiligen Regionen ab (Harris/Todaro, AER 1970) Haushalte diversifizieren ihre Einkommensrisiken, indem ein Teil ihrer Mitglieder in andere Länder migriert (Stark/Taylor, AER 1982) Ähnlich wie bei anderen Investitionen steigt der Optionswert des Wartens mit der Ungewissheit über die zu erwartenden Nettoerträge der Migration (Burda, ESR 1996; Pessino, JDE 1991) Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 24 / 65

Migration und Ungewissheit (Forts.) Die meisten empirischen Migrationsmodelle berücksichtigen in der Regel nur Variablen, die vergangene Differenzen in den Einkommen und Beschäftigungschancen approximieren, aber keine Variablen die Einkommenserwartungen reflektieren (Bertoli/Fernandez-Huertas Moraga, JDE 2012; Brücker/Schröder, WE 2012; Mayda, JPE 2010; Pederson et al., EER 2009) Hier wird vorgeschlagen, die Differenz der langfristigen Zinsen (interest rate spread) zwischen den Ziel- und Herkunftsländern als erklärende Variable zu berücksichtigen Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 25 / 65

Die Zinsdifferenz als Variable die Einkommenserwartungen abbildet Die Zinsdifferenz kann auf verschiedenen Kanälen die künftigen Pro-Kopf-Einkommen der Haushalte beeinflussen: Risiko des "sovereign debt default", der zum Zusammenbruch des Bankensystems und einer langfristigen Depression führen kann Sinkende Staatsausgaben mit fallenden Transferleistungen und Investitionen in die Infrastruktur, die wiederum zu einem Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Aktivität führen können Hohe Zinsen reflektieren die Umlenkung von Kapitalströmen in Länder mit niedrigem Zinsniveau Hohe Zinsen und geringe Liquidität für die Finanzierung von privaten Investitionen Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 26 / 65

Zinsdifferenz und persönliche wirtschaftliche Erwartungen: Empirische Evidenz Eurobarometer Survey, 12 Wellen, Frühjahr 2006 bis Herbst 2011: "What are your expectations for the year to come: will [next year] be better, worse or the same, when it comes to your personal job situation?" Regression dieser Frage gegen drei Variablen: Arbeitslosenquote, Zins auf Staatsanleihen, BIP pro Kopf Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 27 / 65

Erklärung persönlicher wirtschaftlicher Erwartungen durch die Zinsdifferenz Tabelle 1: Regressionsergebnisse (Abhängige Variable: "worse personal job situation") (1) (2) (3) Arbeitslosenquote 0.430*** 0.196** 0.121 (0.075) (0.077) (0.100) Zins (10-Jahres Staatsanleihen) 0.474*** 0.463*** (0.069) (0.070) BIP pro Kopf -0.657 (0.554) Adj. R 2 0.834 0.858 0.858 Länder 27 27 27 Beobachtungen 316 316 316 Länderdummies ja ja ja Surveydummies ja ja ja Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 28 / 65

Weitere Evidenz zur Zinsdifferenz Ähnliche Ergebnisse für vergleichbare Fragen: your life in general financial situation of your household economic situation of your country employment situation in your country. Hohe Korrelation zwischen Migration und Zinsdifferenz Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 29 / 65

Zinsdifferenz und Zuwanderung aus Griechenland Differenzen der Zinsen auf Staatsanleihen zu Deutschland in %; Migrationsrate als Anteil an der Bevölkerung des Herkunftslandes Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 30 / 65

Problem II: Die Relevanz von alternativen Zielländern Fast alle empirischen Migrationsmodelle beruhen auf der Annahme der "Irrelevance of Independent Alternatives" (IIA), d.h. sie ignorieren in bilateralen Regressionen die wirtschaftlichen und institutionellen Bedingungen in alternativen Zielländern Da Migrationsentscheidungen Optimierungsentscheidungen über den Raum sind, führt dies zu systematisch verzerrten Schätzungen Beispiel 1: Die Einführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit in GB und Irland hat den Umfang der Migration nach Deutschland beeinflusst Beispiel 2: Die Verschlechterung der wirtschaftlichen Bedingungen in Spanien, Italien, GB und Irland erhöht die Zuwanderung aus Drittstaaten wie Polen und Rumänien nach Deutschland Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 31 / 65

Ein neuer Schätzansatz Ableitung eines neuen Schätzansatzes, der alternative Zielländer systematisch berücksichtigt (Bertoli/Fernandez-Huertas Moraga, JDE 2012) Verwendung des "Common Correlated Effects" (CCE) Schätzverfahrens von Pesaran (2006) Intuition: Durch die Berücksichtigung der durchschnittlichen Werte für die erklärenden Variablen (e.g. BIP pro Kopf, Arbeitslosenquote, Zinsdifferenz) innerhalb der Stichprobe werden Veränderungen in den wirtschaftlichen Bedingungen in alternativen Destinationen berücksichtigt, so dass sich bei einer hinreichend grossen Stichprobe (N > 30, T > 30) eine unverzerrte Schätzung ergibt Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 32 / 65

Erklärung der Migration nach Deutschland Schätzung folgenden Modells für die Migration aus Europa nach Deutschland: ln m it = β 1 in it + β 2 ln y it + β 3 ln u it + γ x it + η δ t + e it (1) wobei m it die Migrationsrate, in it die Zinsdifferenz, y it das reale BIP pro Kopf und u it die Arbeitslosenquote in Zielland i zum Zeitpunkt t bezeichnen. Der Vektor x it approximiert die Wanderungsbedingungen in alternativen Destinationen, δ t ist ein Vektor von Zeitdummies, der die wirtschaftlichen und institutionellen Bedingungen in Deutschland erfasst, und e it der Störterm. Schätzung dieses Modells für 29 Herkunftsländer aus der Eurozone, der EU und dem Europäischen Wirtschaftsraum (N = 29). Monatsdaten von Januar 2006 bis Dezember 2010 (T = 72). Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 33 / 65

Erklärung der Migration nach Deutschland, 2006 bis 2011 Tabelle 2: Ergebnisse der Schätzungen mit fixen Effekten und des "Common Correlated Effects" Schätzers (Abhängige Variable: Log Migrationsrate) (1) (2) Log Zinsdifferenz 0.403*** 0.208*** (0.026) (0.077) Log Arbeitslosenquote 0.407*** 0.210*** (0.028) (0.057) Log BIP pro Kopf -0.320** -1.342*** (0.159) (0.384) Adj. R 2 0.99 0.99 Länder 29 29 Beobachtungen 2088 2088 Länderdummies ja ja Zeitdummies ja ja Lags der erklärenden Variablen 4 4 Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 34 / 65

Erklärung der Migration nach Deutschland, 2006 bis 2011 Tabelle 2: Ergebnisse der Schätzungen mit fixen Effekten und des "Common Correlated Effects" Schätzers (Abhängige Variable: Log Migrationsrate) (1) (2) Log Zinsdifferenz 0.403*** 0.208*** (0.026) (0.077) Log Arbeitslosenquote 0.407*** 0.210*** (0.028) (0.057) Log BIP pro Kopf -0.320** -1.342*** (0.159) (0.384) Adj. R 2 0.99 0.99 Länder 29 29 Beobachtungen 2088 2088 Länderdummies ja ja Zeitdummies ja ja Lags der erklärenden Variablen 4 4 Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 35 / 65

Erklärung der Migration nach Deutschland, 2006 bis 2011 Tabelle 2: Ergebnisse der Schätzungen mit fixen Effekten und des "Common Correlated Effects" Schätzers (Abhängige Variable: Log Migrationsrate) (1) (2) Log Zinsdifferenz 0.403*** 0.208*** (0.026) (0.077) Log Arbeitslosenquote 0.407*** 0.210*** (0.028) (0.057) Log BIP pro Kopf -0.320** -1.342*** (0.159) (0.384) Adj. R 2 0.99 0.99 Länder 29 29 Beobachtungen 2088 2088 Länderdummies ja ja Zeitdummies ja ja Lags der erklärenden Variablen 4 4 Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 36 / 65

Erklärung der Migration nach Deutschland, 2006 bis 2011 Tabelle 2: Ergebnisse der Schätzungen mit fixen Effekten und des "Common Correlated Effects" Schätzers (Abhängige Variable: Log Migrationsrate) (1) (2) Log Zinsdifferenz 0.403*** 0.208*** (0.026) (0.077) Log Arbeitslosenquote 0.407*** 0.210*** (0.028) (0.057) Log BIP pro Kopf -0.320** -1.342*** (0.159) (0384) Adj. R 2 0.99 0.99 Länder 29 29 Beobachtungen 2088 2088 Länderdummies ja ja Zeitdummies ja ja Lags der erklärenden Variablen 4 4 Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 37 / 65

Prognose und tatsächliche Migrationsrate aus Griechenland (CCE Schätzung) Quellen: Eigene Schätzungen. Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 38 / 65

Was bedeutet das für die Migration nach Deutschland? Deutschland hat nicht nur den erwarteten Einkommensabstand zu wichtigen Herkunftsländern, sondern auch im Vergleich zu wichtigen alternativen Zielländern vergrössert Nach den CCE Schätzungen geht knapp die Hälfte des Anstiegs der Zuwanderung auf die verbesserte Situation Deutschlands im Vergleich zu anderen Zielländern zurück 2011 ist die Nettozuwanderung von 128.000 auf 279.000 Personen gestiegen, davon entfallen 160.000 Personen auf die neuen Mitgliedsstaaten (+80.000) Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 39 / 65

Anstieg der Zuwanderung 2011 gegenüber 2010 Tabelle 3: Zu- und Auswanderung, 2011 und 2010 Zuzüge Fortzüge Saldo 2011 2010 2011 2010 2011 2010 EU-5 84.780 58.533 46.485 49.916 38.295 8.637 GRE 23.779 12.522 10.305 11.482 13.474 1.040 IRE 1.964 1.486 1.041 1.150 923 336 ITA 30.152 24.520 20.347 21.462 9.778 3.058 POR 8.213 6.418 5.443 6.456 2.770-38 SP 20.672 13.607 9.322 9.366 11.350 4.241 EU-8 250.013 175.442 148.078 136.583 101.935 38.859 EU-2 146.025 112.967 87.838 71.773 58.187 41.194 Insgesamt 958.156 798.282 678.949 670.605 279.207 127.677 Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 40 / 65

Was bedeutet das für die Migration nach Deutschland? Die Nettozuwanderung aus den fünf Krisenländern belief sich 2011 auf 38.000 Personen (+30.000) und dürfte 2012 nach unseren Schätzungen weiter steigen Die Arbeitsmobilität aus den Krisenstaaten ist damit deutlich geringer als angesichts der wirtschaftlichen Bedingungen auf den ersten Blick zu erwarten gewesen wäre Die Ursachen hierfür sind vielfältig: Sprachbarrieren Unterschiede in den beruflichen Bildungs- und Ausbildungssystemen Rechtliche und faktische Anerkennung im Ausland erworbener Abschlüsse Geringer "labour turnover" im deutschen Arbeitsmarkt Höhere Reservationslöhne in den Krisenländern im Vergleich zu den neuen Mitgliedstaaten Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 41 / 65

Ist mit einem Brain Drain zu rechnen? Die Theorien der Selbstselektion von Migranten erwarten, dass die Zuwanderer besser als der Durchschnitt der Bevölkerung in den Herkunftsländern qualifiziert ist und über bessere nichtbeobachtbare Fähigkeiten verfügt, wenn (i) die relativen Erträge für Bildung im Zielland höher als im Herkunftsland ist und (ii) die Einkommensverteilung im Zielland ungleicher als im Herkunftsland ist (Borjas, AER 1987) Das gilt jedoch nur, wenn keine Migrationskosten berücksichtigt werden Ambivalente Ergebnisse, wenn Migratonskosten fix sind oder ihr Anteil mit steigendem Einkommen fällt (Brücker/Defoort, IJM 2009; Grogger/Hanson, JDE 2009; Chiquiar/Hanson, JPE 2005) Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 42 / 65

Empirische Evidenz aus der OECD Erklärung der Qualifikationsstruktur der Zuwanderung in einer Stichprobe aus 74 Sendeländern in 14 Zielländer der OECD (Brücker/Bertoli/Mayda/Peri, OUP 2012, Ch. 3) Signifikante Effekte der Lohnprämie: Eine Erhöhung der Lohnprämie um 1.000 Euro für Personen mit tertiärer Bildung erhöht ihren Anteil an der Migrationsbevölkerung um 4 % Eine qualifikationsorientierte Einwanderungspolitik erhöht den Anteil höher Qualifizierter signifikant, ohne das Volumen der Zuwanderung zu beeinfussen Mindestlöhne, starker Kündigungsschutz und geringe FuE-Ausgaben senken den Anteil hochqualifizierter an der Zuwanderung, aber die Ergebnisse sind nicht robust Der Umfang sozialstaatlicher Leistungen hat keinen Einfluss auf die Qualifikationsstruktur der Zuwanderung Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 43 / 65

Erwartungen für Deutschland... Die Lohnprämie für Bildung ist in Deutschland vergleichsweise gering, allerdings sind die Beschäftigungschancen gerade für jüngere Hochschulabsolventen besser Die Ungleichheit der Einkommensverteilung liegt im Durchschnitt der EU-Staaten, ist aber geringer als in den neuen Mitgliedsstaaten und in alternativen Zielländern wie Grossbritannien und (früher) Irland Aber: Das allgemeine Bildungsniveau gemessen am Anteil der Hochschulabsolventen ist in den neuen Mitgliedsstaaten der EU und den meisten südeuropäischen Herkunftsländern genauso hoch oder höher als in Deutschland Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 44 / 65

... und die tatsächliche Struktur der Neuzuwanderer Ergebnisse des Mikrozensus 2009 Tabelle 4: Anteil der Zuwandergruppen nach Qualifikation (Bevölkerung 15-65 Jahre, nicht in Bildung und Ausbildung) Neuzuwanderer 2008/09 Alle Neu- Qualifikation EU-5 Polen Türkei zuwanderer gering 22,1 21,8 60,7 24,3 mittel 15,2 47,7 30,9 31,7 hoch 62,7 30,5 8,4 43,5 Bevölkerung mit/ohne Migrationshintergrund, 2009 mit ohne Migrations- Migrations- EU-5 Polen Türkei hintergrund hintergrund gering 49,2 17,5 62,8 36,1 19,3 mittel 38,5 59,2 31,1 44,1 44,1 hoch 11,8 23,0 5,7 19,3 36,1 Quelle: Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 2009, Scientific Usefile, Eigene Berechnungen. Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 45 / 65

Zwischenfazit Bei aller Vorsicht gegenüber den Ergebnissen des Mikrozensus, die vorliegenden Daten sprechen dafür, dass die Zuwanderer aus den Krisenstaaten aussergewöhnlich hoch qualifiziert sind Würde dieser Trend weiter anhalten, dann wäre ein weiter Anstieg der Zuwanderung tatsächlich mit einem "Brain Drain" aus Südeuropa verbunden Demgegenüber sind die Neuzuwanderer aus den neuen Mitgliedsstaaten zwar ähnlich gut qualifiziert wie die Personen ohne Migrationshintergrund in Deutschland, es kommt aber nicht zu einem "Brain Drain" im Sinne einer überdurchschnittlichen Auswanderung der Hochqualifizierten Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 46 / 65

Welche Folgen hat der Brain Drain? Die traditionellen Theorien des Brain Drain gehen davon aus, dass die Herkunftsländer des Brain Drain durch Migration verlieren, weil öffentliche und private Investitionen in Humankapital verloren gehen, das dann in den Zielländern genutzt wird (Bhagwati, JDE 1971) Um die Folgen zu begrenzen, wird die Besteuerung der Auswanderer vorgeschlagen ("Bhagwati-Tax") Die neuen ökonomischen Theorien des Brain Drain ("beneficial brain drain") berücksichtigen die Endogenität von Humankaitalinvestitionen, d.h. dass potenzielle Migranten mehr in Humankapital investieren, weil durch Migration die Erträge von Humankapitalinvestitionen steigen oder ohne Humankapital Migration nicht möglich ist (Mountford, JDE 1997; Stark et al., EL 1998; Docquier/Rapoport, JDE 2001) Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 47 / 65

Wie wirkt sich der Brain Drain auf die Humankapitalaustattung in den Herkunftsländern aus? Nach diesen Theorien wirkt sich die Migration ambivalent auf die Humankapitalausstattung der Herkunftsländer aus, weil nur ein Teil der Personen, die in zusätzliches Humankapital investieren, tatsächlich migrieren Die empirische Evidenz ist ambivalent: Beine et al. (2009) finden ambivalente Effekte, Beine et al. (2012) negative, Docquier/Rapoport (2012) positive Effekte für die Humankapitalaustattung der Herkunftsländer Widersprüchliche Effekte für private und öffentliche Bildungsinvestitionen: Private Anreize in Bildung zu investieren steigen, öffentliche Anreize sinken Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 48 / 65

Ist das für die Migration in Europa relevant? Da die Eurokrise als exogener Schock aufgetreten ist, dürften die meisten südeuropäischen Herkunftsländer kurzfristig nicht von steigenden Humankapitalinvestitionen profitieren Ausnahme: Investitionen in Sprachkompetenz Langfristig können die steigenden Migrationsanreize aber auch die Bildungsanreize in Südeuropa erhöhen In den neuen Mitgliedstaaten der EU dagegen könnte der zu beobachtende Anstieg der Humankapitalinvestitionen auch auf die gestiegenen Erträge durch Migration zurückzuführen sein Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 49 / 65

Eine Simulation der Effekte der Migration und des Brain Drain Wir betrachten die Humankapitalausstattung der Individuen als kurzfristig gegeben, d.h. berücksichtigen nicht veränderte Anreize in Humankapital zu investieren Wir simulieren die Auswirkungen auf Arbeitsmarkt und Gesamtwirtschaft in Deutschland als Zielland und die EU-5 und die EU-10 als typische Herkunftsregionen Wir unterstellen die Qualifikationsstruktur der Zuwanderung von 2009 und die gegebene Qualifikationsstruktur der Bevölkerungen in den Ziel- und Herkunftsländern Wir legen ein Modell mit unvollkommenen Arbeitsmärkten zu Grunde (Brücker/Jahn, ScJE 2011; Brücker/Jahn/Upwards, IZA DP 2012) Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 50 / 65

Das Schätzmodell Ein strukturelles Modell unvollkommener Arbeitsmärkte, deren Parameter auf Schätzungen für Deutschland und "Guesstimates" für die Herkunftsländer beruhen Das Modell ersetzt die traditionelle Arbeitsangebotskruve durch eine "Lohnsetzungskurve" (Layard et al., 2005), die davon ausgeht, dass die Löhne bei steigender Arbeitslosigkeit sinken, aber nicht völlig elastisch sind Wenn der Lohn gesetzt ist, legen die Unternehmen die Beschäftigung fest ("right to manage assumption") Die Arbeitsnachfrage für verschiedene Typen von Arbeit wird aus einer gesamtwirtschaftlichen Produktionsfunktion abgeleitet Dies ermöglicht es, die Lohn- und Beschäftigungseffekte der Zuund Auswanderung simultan zu bestimmen Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 51 / 65

Das Schätzmodell (Forts.) Wir unterscheiden Arbeit in Hinblick auf Bildung und Ausbildung (3 Gruppen), Berufserfahrung (4 Gruppen), Personen mit und ohne Migrationshintergrund (2 Gruppen) Die Substitutionselastizitäten zwischen den verschiedenen Typen von Arbeit werden mit Hilfe einer genesteten CES-Produktionsfunktion geschätzt Die Lohnsetzungskurve, d.h. die Elastizität zwischen Lohn und Arbeitslosenquote wurde für verschiedene Qualifikationsgruppen geschätzt Für die neuen Mitgliedsstaaten der EU und die südeuropäischen Mitglieder wurden die Elastizitäten teilweise geschätzt, teilweise aus der Literatur entnommen Kurzfristig wird angenommen, dass der Kapitalstock konstant bleibt, langfristig, dass der Kapitalstock sich an die Ausweitung des Arbeitsangebots vollkommen anpasst (Kaldor, 1961) Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 52 / 65

Simulationsergebnisse I: Qualifikation der Zuwanderer aus den EU-5 in DE Tabelle 5: Simulation der Zuwanderung von 1% der Erwerbspersonen Veränderung der Löhne in %, der Arbeitslosenquote in %-Punkten Kurzfristige Effekte Langfristige Effekte Qualifikation Lohn AL-Quote Lohn AL-Quote Alle -0.31 0.07 0.00-0.09 Gering 0.03 0.05 0.16-0.23 Mittel 0.20-0.07 0.55-0.21 Hoch -0.99 0.39-0.70 0.22 ohne Migratinshintergrund -0.23-0.01 0.09-0.14 mit Migrationshintergrund -0.73 0.43-0.46 0.12 BIP 0.71 1.04 BIP pro Kopf -0.29 0.04 Quelle: Eigene Schätzung und Simulation. Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 53 / 65

Simulationsergebnisse I: Qualifikation der Zuwanderer aus den EU-5 in DE Tabelle 6: Simulation der Zuwanderung von 1% der Erwerbspersonen Veränderung der Löhne in %, der Arbeitslosenquote in %-Punkten Kurzfristige Effekte Langfristige Effekte Qualifikation Lohn AL-Quote Lohn AL-Quote Alle -0.31 0.07 0.00-0.09 Gering 0.03 0.05 0.16-0.23 Mittel 0.20-0.07 0.55-0.21 Hoch -0.99 0.39-0.70 0.22 ohne Migratinshintergrund -0.23-0.01 0.09-0.14 mit Migrationshintergrund -0.73 0.43-0.46 0.12 BIP 0.71 1.04 BIP pro Kopf -0.29 0.04 Quelle: Eigene Schätzung und Simulation. Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 54 / 65

Simulationsergebnisse II: Qualifikation der Neuzuwanderer aus den EU-10 in DE Tabelle 7: Simulation der Zuwanderung von 1% der Erwerbspersonen Veränderung der Löhne in %, der Arbeitslosenquote in %-Punkten Kurzfristige Effekte Langfristige Effekte Qualifikation Lohn AL-Quote Lohn AL-Quote Alle -0.28 0.13 0.00-0.02 Gering -0.12 0.42-0.01 0.16 Mittel 0.11-0.02 0.42-0.15 Hoch -0.78 0.31-0.51 0.16 mit Migrationshintergrund -0.21 0.03 0.08-0.09 ohne Migrationshintergrund -0.67 0.57-0.43 0.28 BIP 0.61 0.92 BIP pro Kopf -0.39-0.08 Quelle: Eigene Schätzung und Simulation. Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 55 / 65

Simulationsergebnisse III: Auswanderung aus den EU-5 Tabelle 8: Simulation der Auswanderung von 1% der Erwerbspersonen Veränderung der Löhne in %, der Arbeitslosenquote in %-Punkten Kurzfristige Effekte Langfristige Effekte Qualifikation Lohn AL-Quote Lohn AL-Quote Alle 0.12-0.39 0.00-0.25 Gering 0.31-1.83 0.28-1.66 Mittel 0.00-0.13-0.11 0.00 Hoch 0.22-0.26 0.08-0.13 BIP -0.31-0.45 BIP pro Kopf 0.69 0.55 Quelle: Eigene Schätzung und Simulation. Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 56 / 65

Simulationsergebnisse IV: Auswanderung aus den EU-10 Tabelle 9: Simulation der Auswanderung von 1% der Erwerbspersonen Veränderung der Löhne in %, der Arbeitslosenquote in %-Punkten Kurzfristige Effekte Langfristige Effekte Qualifikation Lohn AL-Quote Lohn AL-Quote Alle 0.18-0.31 0.00-0.19 Gering 0.45-1.27 0.39-1.09 Mittel 0.11-0.19-0.05-0.07 Hoch 0.20-0.11-0.01-0.03 BIP -0.40-0.59 BIP pro Kopf 0.60 0.41 Quelle: Eigene Schätzung und Simulation. Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 57 / 65

Effekte für die Ziel- und Herkunftsländer Qualifizierte Zuwanderung kann langfristg die gesamtwirtschaftliche Arbeitlosenquote senken und ist für die Löhne neutral Während die einheimischen Arbeitskräfte in fast allen Qualifikationsgruppen gewinnen, verlieren die bereits im Land lebenden Migranten Das Bruttoinlandsprodukt steigt in den Zielländern, es bleibt pro Kopf langfristig (fast) konstant In den Herkunftsländern der Zuwanderung steigen die Löhne und die Arbeitslosenquote geht signifikant zurück Das BIP der Herkunftsländer sinkt, mit der Anpassung des Kapitalstocks verstärkt sich dieser Effekt Aber das BIP pro Kopf steigt trotz eines "Brain Drains" Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 58 / 65

Effekte aus Europäpischer Perspektive Nehmen wir der Einfachheit halber an, dass die Bevölkerung in den Ziel- und Herkunftsländern die gleiche Zahl hat und 1% der Bevölkerung migriert Das BIP pro Kopf beträgt in den EU-5 70%, in den EU-10 55% des BIP pro Kopf Deutschlands Unter diesen Annahmen ergäbe sich durch die Wanderung von 1% der Bevölkerung bei dem Einkommensniveu der EU-5 kurzfristig ein Anstieg des europäischen BIP um 0.5%, bei dem Einkommensniveau aus den EU-10 um 0.4% Langfristig nach der Anpassung des Kapitalstocks steigen diese Gewinne auf 0.7% (EU-5) bzw. 0.6% (EU-10) des europäischen BIP Die gesamtwirtschaftlichen Effekte der Wanderung qualifizierter Arbeitskräfte aus den Südeuropa und den neuen Mitgliedsstaaten der EU sind also positiv Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 59 / 65

Andere Kanäle Die Qualifikation von Hochqualifizierten kann auch die Rate des technischen Fortschritts und damit langfristig die Wachstumsrate beeinflussen Jüngere Studien finden signifikante Effekte der Zuwanderung Hochqualifizierter auf das BIP, das BIP pro Kopf und die Investitionen, aber nicht auf das Wachstum der Faktorproduktivität (Brücker et al., OUP 2012; Ortega/Peri, 2011) Die Migration kann zu einem Qualifikationsanstieg führen, der bei Rückwanderung positive gesamtwirtschaftliche Wirkungen hat Viele hochqualifizierte Migranten werden auch unter ihrem Qualifikationsniveau eingesetzt, so dass die Migration auch dequalifizierend wirken kann Die hohen Wanderungsgewinne für die Migranten kommen durch Rücküberweisungen teilweise den Bevölkerungen in den Herkunftsländern zu Gute Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 60 / 65

Schlussfolgerungen I Die Eurokrise hat die Wanderungsbedingungen durch den Anstieg der Arbeitslosigkeit, den Rückgang des BIP in Südeuropa und ungewisse Zukunftsperspektiven die Migrationsbedingungen in Europa erheblich verändert Der Anstieg der Zuwanderung nach Deutschland ergibt sich neben der Einführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch (i) die Zuwanderung aus den Krisenstaaten und (ii) die steigende wirtschaftliche Attraktivität Deutschlands im Vergleich zu anderen Zielländern Der zweite Effekt ist quantitativ bedeutsamer als der erste Effekt Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 61 / 65

Schlussfolgerungen II Die Zuwanderer aus Südeuropa sind nach den vorliegenden vorläufigen Daten hochqualifiziert, d.h. der Anteil der Hochschulabsolventen ist deutlich höher als in den Herkunftsländern und in Deutschland Demgegenüber verfügen die Zuwanderer aus den neuen Mitgliedsstaaten über ein mit der Bevölkerung in den Herkunftsländern und Deutschland vergleichbares Qualifikationsniveau Die Abwanderung hochqualifizerter Arbeitskräfte muss nicht dauerhaft das Humankapital in den Sendeländern reduzieren, wenn die Anreize in Bildung zu investieren durch Migration steigen Kurzfristig ist jedoch mit einem Brain Drain im klassischen Sinne zu rechnen, auch wenn der Umfang noch gering ist Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 62 / 65

Schlussfolgerungen III Die Zuwanderung nach Deutschland wirkt sich langfristig weitgehend neutral für den Arbeitsmarkt aus, mit steigender Qualifikation sinkt die Arbeitslosenquote Die Abwanderung von Hochqualifizierten führt zu einem Rückgang des BIP in den Herkunftsländern, der sich mit der Anpassung des Kapitalstocks verstärkt Der Rückgang des BIP wird mehr als überkompensiert durch die Gewinne des BIP in Deutschland und anderen Zielländern, so dass sich aus europäischer Perspektive ein Gewinn ergibt Dieser Gewinn entsteht (i) durch das niedrigere Pro-Kopf-Einkommen der Herkunftsländer und (ii) die höhere Arbeitslosigkeit in den Herkunftsländern im Vergleich zu den Zielländern Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 63 / 65

Schlussfolgerungen IV Mundell (AER, 1961) hatte Recht: Arbeitsmobilität trägt in einer Währungsunion dazu bei asymmetische Schocks zu absorbieren Die (noch) sehr geringen Zahlen der Arbeitsmobilität aus Südeuropa sprechen dafür, dass der Beitrag der Arbeitsmobilität jedoch eher gering ist Aber auch die indirekten Effekte durch Migrationsumlenkung sind relevant Die Ursachen der geringen Arbeitsmobilität sind vielfältig: Sprachkompetenz, verschiedene Bildungs- und Ausbildungssysteme, unvollkommene juristische und faktische Anerkennung beruflicher Abschlüsse, inflexible Arbeitsmarktinstitutionen mit geringem job turnover, kulturelle Barrieren, Arbeitsmarktdiskriminierung... Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 64 / 65

Es gibt also viel zu tun...... wenn wir die Gewinne der Arbeitsmobilität in Europa realisieren wollen! Herbert Brücker (Universität Bamberg / IAB) Arbeitsmobilität in Europa 12. November, 2012 65 / 65