Karpaltunnelsyndrom als Berufskrankheit
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- Ingeborg Heintze
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1 ÜBERSICHTSARBEIT Karpaltunnelsyndrom als Berufskrankheit Klaus Giersiepen, Michael Spallek ZUSAMMENFASSUNG Hintergrund: Das Karpaltunnelsyndrom (KTS) wird seit 2003 in der europäischen Berufskrankheitenliste geführt und besetzte im Jahr 2001 Rang 6 der in der Europäischen Union anerkannten Berufskrankheiten. Bislang war in Deutschland eine Anerkennung als Berufskrankheit nicht möglich. Im Juli 2009 hat der ärztliche Sachverständigenbeirat des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales eine wissenschaftliche Begründung zur Anerkennung des KTS als Berufskrankheit veröffentlicht. Methodik: Selektive Literaturübersicht, die sich mit dem Zusammenhang zwischen beruflichen Tätigkeiten und dem Auftreten eines KTS befasst. Ergebnisse: Zu schädigenden Einwirkungen auf den N. medianus und zur Ausbildung eines KTS kommt es durch repetitive manuelle Tätigkeiten mit Beugung und Streckung der Hände im Handgelenk und/oder erhöhtem Kraftaufwand der Hände und/oder Einwirkung von Hand-Arm- Schwingungen, zum Beispiel durch handgehaltene vibrierende Maschinen. Eine mehr als additive Risikoerhöhung ist bei Kombinationseinwirkungen belegt. Gefährdende Belastungen kommen in unterschiedlichen Berufen vor, so dass bei einer Zusammenhangsbeurteilung der Schwerpunkt eher auf die konkret auszuführenden Tätigkeiten als auf eine Berufsbezeichnung zu legen ist. Arbeiten an einer Computertastatur scheinen das Risiko nicht zu erhöhen. Schlussfolgerungen: Eine berufliche (Mit-)Verursachung des KTS ist epidemiologisch und pathophysiologisch belegt. Eine Berufskrankheitenanzeige sollte erfolgen bei gesicherter KTS-Diagnose und einer entsprechenden beruflichen Exposition. Zitierweise Giersiepen K, Spallek M: Carpal tunnel syndrome as an occupational disease. Dtsch Arztebl Int 2011; 108(14): DOI: /arztebl Zentrum für Sozialpolitik, Gesundheitsökonomie, Gesundheitspolitik und Versorgungsforschung, Universität Bremen: Dr. med. Giersiepen Volkswagen Aktiengesellschaft, Wolfsburg, Gesundheitswesen: Dr. med. Spallek Bei einem Karpaltunnelsyndrom (KTS) handelt es sich um eine meist chronische Kompressionsneuropathie des N. medianus im Bereich des Handgelenks. Das KTS gehört zu den gut diagnostizierbaren Nervendruckschäden und erfüllt pathophysiologisch die Voraussetzungen der Berufskrankheit (BK) 2106 Druckschädigung der Nerven. Vom Verordnungsgeber wurde das KTS jedoch bei der letzten Bearbeitung der wissenschaftlichen Begründung für die BK 2106 im Jahr 2001 wie auch bandscheibenbedingte Erkrankungen der Wirbelsäule ausgenommen (1). In der europäischen Berufskrankheitenliste wird das KTS seit 2003 als Berufskrankheit unter der Ziffer gelistet und war bereits im Jahr 2001 in 9 von 12 Mitgliedsländern als Berufskrankheit anerkennungsfähig. Das KTS rangierte seinerzeit auf Rang 6 der anerkannten Berufskrankheiten (2). In Skandinavien, wie auch außerhalb Europas, sind seit langem Entschädigungen der Betroffenen bei berufsbedingter oder berufsmitbedingter Genese möglich (3, 4). Im Juli 2009 wurde in Deutschland vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales die vom ärztlichen Sachverständigenbeirat erarbeitete wissenschaftliche Begründung für eine Berufskrankheit Karpaltunnelsyndrom veröffentlicht (5). Der Beitrag referiert Auszüge aus der wissenschaftlichen Begründung für eine Aufnahme des KTS in die deutsche BK-Liste unter besonderer Berücksichtigung der Zusammenhangsfragen zu beruflichen Belastungen in der ausgewerteten Literatur. Zusätzlich wird beschrieben, in welchen Fällen eine Berufskrankheitenanzeige bei der zuständigen Unfallversicherung (Berufsgenossenschaft) gestellt werden sollte und welche Entschädigungsleistungen zu erwarten sind. Klinische Symptomatik und Diagnose Zur klinischen Symptomatik eines KTS gehören Reizsymptome wie nächtliche Parästhesien (Brachialgia paraesthetica nocturna), Spontanschmerzen mit proximaler Ausstrahlung, das Schüttelzeichen mit Verschwinden der Symptomatik nach Ausschütteln der Hände, Ausfallsymptome sowie positive Befunde bei den typischen Provokationstests. Hierzu gehören unter anderem das Tinelsche Zeichen, welches durch Beklopfen des Karpalkanals ausgelöst werden kann: Der Patient berichtet von elektrisierenden Nervenschmerzen entlang des Verlaufs des Nervus medianus bis in die Fingerspitzen (Grafik 1). Beim Phalen-Test können durch eine endgradige Handflexion palmar nach 30 bis 120 s Dysästhesien im Versorgungsbereich des Nervus medianus ausgelöst werden (Grafik 2). Keines dieser klinischen 238 Deutsches Ärzteblatt Jg. 108 Heft April 2011
2 GRAFIK 1 Tinelsches Zeichen, aus (e1), mit freundlicher Genehmigung: ecomed Verlag Medizin, Landsberg GRAFIK 2 Phalen-Test, aus (e1), mit freundlicher Genehmigung: ecomed Verlag Medizin, Landsberg Merkmale besitzt jedoch allein eine ausreichende Evidenz für eine Diagnose. Typischerweise findet man oft auch motorische und sensorische Ausfallserscheinungen im Versorgungsbereich des N. medianus. Ein wesentlicher reproduzierbarer und objektivierbarer Parameter ist eine pathologische Veränderung der motorischen und sensiblen Nervenleitgeschwindigkeit (6, e2). Das KTS ist die häufigste, nichttraumatische periphere Nervenläsion. Frauen sind etwa drei- bis zehnmal häufiger betroffen als Männer, und nicht selten tritt das KTS beidseitig auf (7). Prävalenz: Erfassungskriterien entscheidend Die Erfassungskriterien für das KTS spielen eine erhebliche Rolle bei der Ermittlung der Prävalenz. Bei Einbeziehung nur subjektiver Beschwerden liegen die Prävalenzen in den Literaturangaben deutlich höher als bei klinischen und neurophysiologischen Diagnosekriterien. In einer niederländischen Arbeit wird die KTS- Prävalenz bei 25- bis 74-jährigen Frauen der Allgemeinbevölkerung mit insgesamt 9,2 Prozent angegeben. 5,8 Prozent der Frauen hatten Symptome und einen positiven neurologischen Messbefund, bis zum Zeitpunkt der Untersuchung war jedoch anamnestisch noch kein KTS bekannt. Bei 25- bis 74-jährigen Männern lag die Gesamtprävalenz mit 0,6 Prozent deutlich niedriger als bei den Frauen (7). Atroshi et al. bestätigen die deutlich höhere Prävalenz bei Frauen und geben für Südschweden die Prä - valenz für 25- bis 74-jährige Frauen mit 17,3 Prozent an, wenn die Erhebung auf einer Befragung zu Symptomen beruht. Wird eine klinische Untersuchung im selben Kollektiv zugrunde gelegt, beträgt die Prävalenz lediglich 4,6 Prozent. Basieren die Angaben nur auf elektrophysiologischen Messungen, sind 5,2 Prozent aller Frauen erkrankt. Fordert man eine klinische Untersuchung und einen pathologischen elektrophysiologischen Messbefund, sind 3,0 Prozent aller Frauen erkrankt. Für Männer in Südschweden betragen die KTS- Prävalenzen entsprechend 10,4 Prozent (Befragung), 2,8 Prozent (Untersuchung), 4,3 Prozent (Elektrophysiologie) und 2,1 Prozent (Untersuchung und Elektrophysiologie) (8). Auf Deutschland hochgerechnet wären anhand dieser Daten derzeit in der Altersgruppe der 25- bis 74-Jährigen zwischen minimal und maximal 4,7 Millionen Frauen und zwischen und 2,8 Millionen Männer von einem KTS betroffen. Die KTS-Prävalenz in betrieblichen Untersuchungen kann beispielsweise bei Fließbandbeschäftigten 24 bis 43 Prozent erreichen (9, 10). Anzahl der jährlichen Neuerkrankungen (Inzidenz) Die Dekompression des KTS gehört zu den häufigsten Operationen in Deutschland. Jährlich erfolgen circa Eingriffe, davon etwa 90 Prozent ambulant (11). Nordstrom et al. geben in der US-Allgemeinbevölkerung 35 Neuerkrankungen pro Personenjahre an, von Gesunden erkranken also 35 innerhalb eines Jahres neu an einem KTS (12). In Kanada wurden 9 KTS-Operationen je Personenjahre registriert, in Bremen 10 KTS-Operationen/ Personenjahre für Männer und 24 KTS-Operationen/ Personenjahre für Frauen in der Altersgruppe der 21- bis 64-Jährigen, wobei mindestens eine Hand operiert wurde (13, 14). In Siena, Italien, betrugen die jährlichen Inzidenzraten 13,9/ Personenjahre für Männer und 50,6/ für Frauen. Bei den 50- bis 59-jährigen Frauen zeigte sich ein Häufigkeitsgipfel, während es bei Männern eine zweigipfelige Altersverteilung für Deutsches Ärzteblatt Jg. 108 Heft April
3 KASTEN 1 Risikofaktoren Repetitive manuelle Tätigkeiten mit Beugung und Streckung der Hände im Handgelenk und/oder Erhöhter Kraftaufwand der Hände (kraftvolles Greifen) und/oder Einwirkung von Hand-Arm-Schwingungen, zum Beispiel durch handgehaltene vibrierende Maschinen wie handgeführte Motorsägen und Steinbohrer, die zu einer Volumenzunahme mit Druckerhöhung im Karpaltunnel führen. Gefährdet sind zum Beispiel Fließbandarbeiter, Fleischverpacker, Geflügelverarbeiter, Gärtner, Musiker, Landwirte, Mechaniker sowie Fabrik- und Bauarbeiter, Forst - arbeiter beim Umgang mit handgehaltenen vibrierenden Werkzeugen, Kassierer im Supermarkt mit Umsetzen von Lasten, Masseure und Polsterer (18 20). KASTEN 2 Differenzialdiagnostik (6) Häufige Differenzialdiagnosen Zervikale Radikulopathie der Wurzeln C6 und C7 Polyneuropathie Seltenere Differenzialdiagnosen Läsionen oder anderweitige Kompressionssyndrome wie Pronator-Syndrom, Thoracic-outlet-Syndrom oder Skalenus-Syndrom Nicht neurogene beziehungsweise anderweitige Erkrankungen wie Unterarm- Kompartment-Syndrom, Polymyalgie, Raynaud-Syndrom oder Borrelliose GRAFIK 3 Inzidenzraten des Karpaltunnelsyndroms nach Wirtschaftsbereichen, adapt. an e8 die 50- bis 59- und 70- bis 79-jährigen gab (15). Die höchsten KTS-Operationsraten in der Allgemeinbevölkerung wurden 1988 in Ontario/Kanada bei Frauen in der Altersgruppe 50 bis < 55 Jahre (37 je Frauen) und bei Männern im Alter von 75 bis < 80 Jahren dokumentiert (24 je Männer) (16). Differenzialdiagnostische Überlegungen Aufgrund der weiten Verbreitung von KTS in der Allgemeinbevölkerung muss bei der Prüfung einer möglichen arbeitsbedingten Ursache neben einer sehr sorgfältigen und möglichst eindeutigen neurologischen Diagnostik auch eine intensive Prüfung der genannten Einflussfaktoren und weiterer medizinischer wie auch psychosozialer Differenzialdiagnosen erfolgen (Kasten 1 und 2). Hinweise zur Therapie eines KTS stehen nicht im Vordergrund dieser Arbeit und können den Leitlinien der Fachgesellschaft entnommen werden (6). Frauen haben eine höhere Erkrankungsrate, bedingt durch hormonelle Faktoren zum Beispiel natürlicher Genese wie auch durch Kontrazeptiva mit einer hieraus folgenden Ödemneigung. Während der Schwangerschaft auftretende KTS bilden sich in der Regel post partum spontan zurück. Besonders nach der Menopause steigt bei Frauen das KTS-Risiko an. Darüber hinaus arbeiten Frauen häufiger in Berufen mit KTS-Risiko, und auch Haushaltstätigkeiten können zu ähnlichen Expositionen führen. Es ist daher nicht korrekt, die unterschiedlich hohen geschlechtsspezifischen KTS-Risiken ausschließlich auf hormonelle Unterschiede zurückzuführen (17). Risikobelastete Tätigkeiten und Berufe Ein kausaler Zusammenhang zwischen manuellen Belastungen in verschiedenen Berufen und dem Auftreten eines KTS ist aus pathophysiologischer und epidemiologischer Sicht hinreichend gesichert (18 20) (Kasten 1). Ein gemeinsames Merkmal der schädigenden Tätigkeiten sind manuelle Anforderungen, die grundsätzlich im Einzelfall zu einer Volumenzunahme im Karpaltunnel mit Druckerhöhung auf den N. medianus führen können. Solche Tätigkeiten können in unterschiedlichen Berufsgruppen vorkommen (Grafik 3). Bei der Zusammenhangsbeurteilung ist im Einzelfall der Schwerpunkt mehr auf die konkret auszuführenden Tätigkeiten als nur auf eine Berufsbezeichnung zu legen. Studien belegen eine mehr als additive Risikoerhöhung für das Auftreten eines KTS insbesondere bei Kombinationswirkungen entsprechender arbeitsbedingter Faktoren. Besonders beim Umgang mit handgehaltenen vibrierenden Werkzeugen ist davon auszugehen, dass diese mit Kraftaufwand der Fingerbeuger und entsprechenden Zwangshaltungen der Finger und des Handgelenks festgehalten werden müssen, so dass sich hier mehrere Expositionskomponenten überlagern (18, 19). Eine aktuelle Übersicht weist beispielsweise bei einer durchschnittlichen Anforderung an die Handkraft von > 4 kg oder repetitiven Arbeiten mit Zykluszeiten 240 Deutsches Ärzteblatt Jg. 108 Heft April 2011
4 < 10/s und bei gleichen, sich wiederholenden Arbeitsinhalten in mehr als der Hälfte der Zykluszeiten auf arbeitsbedingte Ursachen für ein KTS hin (20). Für Tätigkeiten am Computer mit PC-Tastatur und Maus liegen aufgrund heterogener Diagnosekriterien, nicht miteinander vergleichbarer Studiendesigns und vielen individuellen und psychosozialen Einflussfaktoren derzeit sehr widersprüchliche Ergebnisse vor (21, e3 e5). In systematischen Reviews und Übersichtsarbeiten konnten bislang keine Risikoerhöhungen nachgewiesen werden (19, 20, e6, e7). Latenzzeit Zum zeitlichen Verlauf bis zum Auftreten eines KTS liegen in der Literatur unterschiedliche Angaben vor, ganz überwiegend reichen kurze Expositionszeiten aus (22). So fanden Gorsche et al. innerhalb eines Jahres 11 Prozent Neuerkrankte in einem Schlachtbetrieb (23). In der taiwanesischen Fischindustrie war nach Chiang et al. das KTS-Risiko dann am höchsten, wenn die Exposition weniger als 12 Monate betragen hatte (24). Ein Kausalzusammenhang ist plausibel, wenn der Patient mehrere Monate bis wenige Jahre nach einer Exposition erkrankt. Bei arbeitsbedingter Verursachung ist zudem von einem früheren Erkrankungsbeginn gegenüber der Allgemeinbevölkerung auszugehen (18, 22). Anzeige als Berufskrankheit Eine BK-Anzeige mit Verdacht auf eine berufsbedingtes KTS sollte bei der zuständigen Berufsgenossenschaft als Träger der gesetzlichen Unfallversicherung, erstattet werden, wenn die Symptomatik über Monate in Zusammenhang steht mit repetitiven manuellen Tätigkeiten mit erhöhtem Kraftaufwand der Hände, zum Beispiel durch kraftvolles Greifen und/oder wenn eine längere Exposition durch handgehaltene vibrierende Maschinen wie handgeführte Motorsägen und Steinbohrer besteht. Tritt die Erkrankung bei Männern auf, ist nach derzeitigem Kenntnisstand eine berufliche Ursache hierfür wahrscheinlicher als bei Frauen; dies ist ebenfalls bei jüngeren Berufstätigen der Fall. Bei Frauen spricht ein Erkrankungsbeginn vor der Menopause ebenfalls eher für eine berufliche Verursachung. Das KTS sollte neurologisch bestätigt werden unter Einbezug beider Handgelenke (N. medianus) und der erwähnten Differenzialdiagnosen (Kasten 2). Ferner sollte eine Läsion des N. ulnaris ausgeschlossen werden. Eine berufliche Mitverursachung des KTS wurde in vielen Übersichtsarbeiten dokumentiert (13, 14, 18, 19, 20, 22, 25). Probleme sind bei der Zusammenhangsbeurteilung in Bezug auf die beruflichen Belastungen vorstellbar, wenn es sich um verschiedene Tätigkeiten handelt, bei denen die in der wissenschaftlichen Begründung erwähnten auslösenden Merkmale nur kurzzeitig, selten oder mit geringem Kraftaufwand vorkommen. Auch bei mehreren gleichzeitig bestehenden Erkrankungen an einer Extremität wird die Abgrenzung zu einer definierten Berufskrankheit oft schwierig sein, beispielsweise bei einer Friseurin, die an Epicondylitis, KTS und gegebenenfalls Tendovaginitis am selben Arm leidet. Dies hat der ärztliche Sachverständigenbeirat beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales mit der Veröffentlichung der wissenschaftlichen Begründung erkannt mit der Konsequenz, solchen Beurteilungsproblemen verstärkt in wissenschaftlichen Untersuchungen nachzugehen. Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) und erwartete Entschädigungsleistungen Im deutschen Unfallversicherungsrecht wird bei einer kompletten distalen Medianusläsion, zum Beispiel bei einem Arbeitsunfall, eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 25 Prozent, in seltenen Fällen bis maximal 30 Prozent, gewährt. Beim einem KTS ist in aller Regel aufgrund der guten Therapiemöglichkeiten nicht mit einer kompletten oder dauerhaften Medianusläsion zu rechnen, sondern allenfalls mit einer leichtgradigen sensomotorischen Ausfalls- oder Reizsymptomatik. Damit wird nur bei einer weiteren Berufskrankheit oder einer durch einen Arbeitsunfall schon bestehenden Stützrente gemäß 56 I 2 SGB VII eine Anerkennung möglich sein, die mit einer finanziellen Entschädigung verbunden ist. Unabhängig von der Höhe der tatsächlich festgestellten Minderung der Erwerbsfähigkeit werden bei Anerkennung einer Berufskrankheit jedoch die Kosten der medizinischen Versorgung von der Unfallversicherung übernommen und gegebenenfalls den gesetzlichen Krankenkassen erstattet (Anerkennung ohne Rentenzahlung). Diese Verlagerung der Kosten wird zu vermehrten Anstrengungen seitens der Berufsgenossenschaften und Arbeitgeber führen, durch entsprechende ergonomische und arbeitsorganisatorische Veränderungen am Arbeitsplatz das Auftreten eines Karpaltunnelsyndroms zu verhindern. KERNAUSSAGEN Das Karpaltunnelsyndrom (KTS) rangierte bereits im Jahr 2001 auf Rang 6 der in der EU anerkannten Berufskrankheiten. Eine Anerkennung als Berufskrankheit ist in Deutschland seit Juli 2009 möglich. Schädigende Einwirkungen sind bei Tätigkeiten mit repetitiven Bewegungen der Hände mit Beugung und Streckung im Handgelenk, bei erhöhtem Kraftaufwand der Hände und bei Einwirkungen von Hand-Arm-Schwingungen zu erwarten, die zu einer Druckerhöhung im Karpaltunnel führen. Kombination der Expositionen steigert das Erkrankungsrisiko. Eine Berufskrankheitenanzeige sollte erfolgen, wenn die Diagnose KTS gesichert ist und mindestens über Monate eine berufliche Exposition mit den schädigenden Einwirkungen für den überwiegenden Teil der Arbeitsschicht vorgelegen hat. Bei Büroberufen, insbesondere bei Arbeiten an einer Computertastatur, konnten bislang keine Risikoerhöhungen nachgewiesen werden. Deutsches Ärzteblatt Jg. 108 Heft April
5 Interessenkonflikt Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht. Manuskriptdaten eingereicht: , revidierte Fassung angenommen: LITERATUR 1. Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin: Berufskrankheitenverordnung. berufskrankheiten-verordnung/merkblaetter/190-merkblatt2106 drucknerven 2. Karjalainen A, Niederlaender E: Occupational diseases in Europe in European Communities: Statistics in focus. 15/ NK /EN/KS-NK EN.PDF 3. Gorsche RG, Wiley JP, Brant R, Renger RF, Sasyniuk TM, Burke N: Comparison of outcomes of untreated carpal tunnel syndrome and asymptomatic controls in meat packers. Occup Med (Lond) 2002; 52: Bylund SH, Burström L, Knutsson A: A descriptive study of women injured by hand-arm vibration. Ann Occup Hyg 2002; 46: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung: Wissenschaftliche Begründung für die Berufskrankheit Druckschädigung des Nervus medianus im Carpaltunnel. Gemeinsames Ministerialblatt 2009; 27: Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften: Leitlinie: Diagnostik und Therapie des Karpaltunnelsyndroms. Version 11/ m.htm 7. de Krom MCTFM, Kester ADN, Knipschild PG: Carpal tunnel syndrome: prevalence in the general population. J Clin Epidemiol 1992; 45: Atroshi I, Gummesson C, Johnsson R, Ornstein E, Ranstam J, Rosen I: Prevalence of carpal tunnel syndrome in a general population. JAMA 1999; 282: Werner RA, Franzblau A, Gell N, Hartigan AG, Ebersole M, Armstrong TJ: Incidence of carpal tunnel syndrome among automobile assembly workers and assessment of risk factors. J Occup Environ Med 2005; 47: Bonfiglioli R, Mattioli S, Spagnolo MR, Violante FS: Course of symptoms and median nerve conduction values in workers performing repetitive jobs at risk for carpal tunnel syndrome. Occup Med 2006; 56: Bundesgeschäftsstelle Qualitätssicherung: Karpaltunnelsyndrom tungsbereiche/karpaltunnelsyndrom/index_html 12. Nordstrom, DL, DeStefano F, Vierkant RA, Layde PM: Risk factors for carpal tunnel syndrome in a general population. Occup Environ Med 1997; 54: Rossignol M, Stock S, Patry L, Armstrong B: Carpal tunnel syndrome: what is attributable to work? The Montreal study. Occup Environ Med 1997; 54: Giersiepen K, Eberle E, Pohlabeln H: Populationsbezogene Fall-Kontrollstudie stützt Zusammenhang zwischen beruflichen Einflüssen und dem Carpaltunnel-Syndrom. In: A.W.Rettenmeier, C. Feldhaus, (eds.): Dokumentationsband der 39. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e.v., 1999; Mondelli M, Giannini F, Giacchi M: Carpal tunnel syndrome incidence in a general population. Neurology 2002; 58: Liss GM, Armstrong C, Kusiak RA, Gailitis MM: Use of provincial health insurance plan billing data to estimate carpal tunnel syndrome morbidity and surgery rates. 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JAMA 2003; Masear VR, Hayes JM, Hyde AG: An industrial cause of carpal tunnel syndrome. J Hand Surg [Am] 1986; 11: Gorsche RG, Wiley JP, Renger RF, Brant RF, Gemer TY, Sasyniuk TM: Prevalence and incidence of carpal tunnel syndrome in a meat packing plant. Occup Med 1999; 56: Chiang HC, Ying-Chi KO, et al.: Prevalence of shoulder and upperlimb disorders among workers in the fish-processing industry. Scand J Work Environ Health 1993; 19: Armstrong T, Dale AM, Franzblau A, Evanoff BA: Risk factors for carpal tunnel syndrome and median neuropathy in a working population. J Occup Environ Med 2008; 50: Anschrift für die Verfasser Dr. med. Michael Spallek Volkswagen Aktiengesellschaft Gesundheitswesen Postfach Wolfsburg michael.spallek@volkswagen.de SUMMARY Carpal Tunnel Syndrome as an Occupational Disease Background: Carpal tunnel syndrome (CTS) has been listed since 2003 in the European Union s list of occupational diseases. In 2001, it took sixth place in frequency among all occupational diseases recognized in the European Union. It was not listed as an occupational disease in Germany until July 2009, when the medical expert advisory panel of the German Federal Ministry of Labour and Social Affairs issued an evaluative paper supporting its listing. Methods: We selectively reviewed the literature on the potential causation of CTS by occupational activities. Results: Repetitive manual work tasks involving flexion and extension at the wrist, forceful grip with the hand, and/or vibrations of the hand and arm, such as are induced (for example) by hand-held vibrating tools, can damage the median nerve and cause CTS. A combination of these exposures has been found to raise the risk of CTS with a more than additive effect. Harmful exposures arise in a wide variety of occupations; in judging whether a particular case of CTS is of occupational origin, the physician has to consider the actual manual tasks performed by the patient, rather than merely the job title. Working at a computer keyboard seems not to raise the risk of CTS. Conclusion: The causation of CTS by occupational activities, either alone or in combination with other factors, has been well documented by epidemiological data and is pathophysiologically plausible. In Germany, a physician who diagnoses carpal tunnel syndrome in an employee with a relevant, damaging occupational exposure is required to report the case to the German Social Accident Insurance. Zitierweise Giersiepen K, Spallek M: Carpal tunnel syndrome as an occupational disease. Dtsch Arztebl Int 2011; 108(14): DOI: Mit e gekennzeichnete Literatur: The English version of this article is available online: Deutsches Ärzteblatt Jg. 108 Heft April 2011
6 ÜBERSICHTSARBEIT Karpaltunnelsyndrom als Berufskrankheit Klaus Giersiepen, Michael Spallek eliteratur e1. Spallek M, Kuhn W: Funktionsorientierte körperliche Untersuchungssystematik. Die fokus Methode zur Beurteilung des Bewegungsapparates in der Arbeits- und Allgemeinmedizin. Heidelberg, München, Landsberg: Ecomed Verlag Medizin e2. Boocock MG, Collier J, McNair PJ, Simmonds M, Larmer PJ, Armstrong B: A framework for the classification and diagnosis of work related upper extremity conditions: systematic review. J Semarthrit 2009; 38: e3. Al-Hashem FH, Khali ME: The effect of long-term use of computer mouse devices on median nerve entrapment. Neurosciences 2008; 13: e4. Aydeniz A, Gürsoy S: Upper extremity musculoskeletal disorders among computer users. Türk J Med Sci 2008; 38: e5. Tornqvist EW, Hagberg M, Hagman M, Risberg EH, Toomingas A: The influence of working conditions and individual factors on the incidence of neck and upper limb symptoms among professional computer users. Int Arch Occup Environ Health 2009; 82: e6. Friedebold A, Scutaru C, Mache S, Quarcoo D, Groneberg DA, Spallek M: Das Karpaltunnelsyndrom eine klinische Übersicht. Zbl Arbeitsmed 2009; 59: e7. Thomsen JF, Gerr F, Atroshi I: Carpal tunnel syndrome and the use of computer mouse and keyboard: a systematic review. BMC Musculoskelet Disord 2008; 9: 134. e8. Schneider E, Irastorza X (European Agency for Safety and Heath ot work [EU-OSHA]): Work related muskuloskeletal disorders in the EU-fact and figures http: osha.europa.eu/ en/pblications/reports/ter009009enc/view Deutsches Ärzteblatt Jg. 108 Heft April
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