hr2-wissen Die ungewöhnlichen Fallgeschichten des Oliver Sacks: Schreiben und Medizin hr2wi Fallgeschichten Oliver Sacks 6 30 hr2wi 14_02

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1 Hessischer Rundfunk hr2-kultur Redaktion: Volker Bernius hr2-wissen Die ungewöhnlichen Fallgeschichten des Oliver Sacks: Schreiben und Medizin Sendung: xy.xy. 2014, hr2-kultur Kostenfreie Wiederholung von bis Manuskript und Produktion: Andrea Westhoff hr2wi Fallgeschichten Oliver Sacks 6 30 hr2wi 14_02 Copyright Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Verwendung (z.b. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors/der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks.

2 Anmoderation Daten, Fakten, Analysen, Zahlen das zählt heute vielfach in der Medizin. Nur sogenannte evidenz basierte Methoden werden anerkannt und finanziert. Für mich ist Schreiben und Medizin, Schreiben und Wissenschaft nicht Getrenntes. Sie ergänzen einander." Sagt Oliver Sacks. Der inzwischen über 80-jährige New Yorker Neurologe sieht ein bisschen so aus wie Freud, und wie der berühmte Psychoanalytiker versucht auch er, seine Wissenschaft in einzelnen Fallgeschichten einem breiten Publikum verständlich zu machen. Missbrauch von Patientengeschichten oder verhelfen sie zum Verständnis? Ein Beitrag von Andrea Westhoff. Geschichte (Zit.): Musik Mr. Thompson konnte sich nie länger als einige Sekunden an etwas erinnern. Aber der Mensch braucht eine fortlaufende Geschichte, um sich seine Identität zu bewahren. Mit seinen Worten erschuf er daher unablässig sich selbst und die Welt um sich herum, um zu ersetzen, was er ständig vergaß und verlor. Wo bin ich? sagt er plötzlich verängstigt. Ich dachte, ich wäre in meinem Laden, Herr Doktor... Sie sehen aus wie Sigmund Freud. Bin ich ausgetickt, abgedreht? An die Stelle der üblichen medizinischen Krankengeschichte tritt bei Oliver Sacks etwas, das diesen Namen wirklich verdient: eine ausführliche biografische, teils poetische Patientengeschichte. Wie Freud und einige andere Neurologen sieht er Krankheit nicht nur als medizinische Störung, sondern als etwas, das immer auch mit der Persönlichkeit und Identität des Kranken zu tun hat. Und er knüpft damit an eine alte medizinischliterarische Tradition an: O-Ton 1: Sacks (0 27) I especially got attracted to case histories from the 19. century.... Zit.: Ich war vor allem begeistert von Fallgeschichten aus dem 19. Jahrhundert. Fallgeschichten, die einen Reichtum hatten, der aus der medizinischen Literatur heute fast verschwunden ist. Und diese Geschichten schienen mir obwohl schon über hundert Jahre alt nach wie vor relevant für die Art

3 von Patienten, die mir begegneten. Ich denke, eine gute Fallgeschichte ist zeitlos. I think, a good case history is timeless. Ganz besonders fühlt sich Oliver Sacks dem russischen Neuropsychologen Alexander R. Lurija verbunden, der dieses Arbeiten mit biografischen Fallschilderungen als "romantische Wissenschaft" bezeichnet. Die Sunday Times nennt Sacks 1985, beim Erscheinen seines Buches Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte, Scheherazade der Neurologie. Tatsächlich sagt er selbst: Kranke seien Reisende unterwegs in unvorstellbare Länder, und ihr Leben und ihre Geschichten hätten für ihn etwas Märchenhaftes. Geschichte (Zit.): Musik Eines Tages bekam ich einen dringenden Anruf aus dem Pflegeheim, in dem ich arbeite. Rosalie, eine Dame über 90 und völlig erblindet, sehe plötzlich nicht existente Dinge. Was für Dinge? fragte ich, als ich eintraf. Menschen in morgenländischer Kleidung, rief sie aus. Ein Mann, der sich mir zuwendet und lächelt, aber er hat riesige Zähne an der Seite seines Mundes. Auch Tiere. Und es schneit ein weicher, wirbelnder Schnee... Aber alles wechselt ständig. Viele der Fallgeschichten, die Oliver Sacks in seinen mehr als 10 Büchern beschreibt, haben autobiografische Bezüge: Zum Beispiel hat er durch ein Melanom im rechten Auge seine Sehkraft teilweise verloren und nach der Operation selbst verschiedene visuelle Halluzinationen und Wahrnehmungsverzerrungen erlebt. Oft sind seine geschilderten Fälle allerdings so bizarr, dass man sich manchmal schon fragt, ob es diese Patienten tatsächlich alle genauso gibt - O-Ton 2: Reischies (0 03) Ich habe eigentlich gar keinen Zweifel, dass diese Fälle echt sind....sagt der Neurologe und Psychiater Professor Friedel Reischies. Er ist Leiter der Friedrich-von-Bodelschwingh-Klinik in Berlin, einer Einrichtung ähnlich der Klinik, in der Oliver Sacks in New York Jahrzehnte gearbeitet hat:

4 O-Ton 3: Reischies ff. (0 36) Wir haben vielleicht nicht immer so ausgeprägt, so bizarr, wie sie da geschildert sind aber doch sehr ähnliche Fälle, jeder Neurologe, jeder Psychiater, jeder, der Heime betreut, in denen Patienten nach Hirnschädigungen, nach neurologischen Erkrankungen, in Spätstadien, in chronischen Phasen behandelt werden, also viele kennen diese Art von seltsamen Menschen, und es besteht ja eigentlich das Verdienst von Oliver Sacks darin, uns zu erklären, warum diese Menschen eigentlich nicht bizarr sind, wenn man erst mal weiß, worum es sich handelt. Aber zweifellos wählt Oliver Sacks besonders extreme Geschichten für seine Bücher aus. Kritiker haben ihm vorgeworfen, er bringe dem Leser die Tragödien der Kranken so intensiv nahe, dass es schon fast genüsslich anmutet. Oder noch schlimmer: Er stelle seine Patienten beinahe ebenso zur Schau, wie das in früheren Zeiten auf dem Jahrmarkt mit Missgebildeten geschah. Friedel Reischies kann das nicht nachvollziehen: O-Ton 4: Reischies (0 23) Wenn wir ein solches Buch als Unterhaltungs-Doku lesen und gewissermaßen missbrauchen, dann könnte man denken, da sind doch Geschichten von leidenden Menschen benutzt worden, um irgendwie Literatur zu produzieren; das ist aber meiner Meinung nach nicht der Impetus von Oliver Sacks, sondern er möchte die Neuropsychiatrie in Fällen uns nahe bringen. Die Professorin Marianne Leuzinger-Bohler, Psychoanalytikerin und Direktorin des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts sieht schon das Problem, sie kennt es als Forscherin selbst auch: O-Ton 5: Leuzinger-Bohleber (0 22) [Also bei uns willigen die Patienten ein, dass wir darüber schreiben, und wir verschlüsseln, dass ihre Personalien geschützt sind, aber man behält, wenn man sensibel ist als Therapeut, genau diesen Konflikt:] Missbraucht man nicht eigentlich den Patienten dann doch in irgendeiner Form für wissenschaftliche Zwecke?...eine Frage, die sie für Oliver Sacks konkret aber verneint: O-Ton 6: Leuzinger-Bohleber (1 00) Oliver Sacks hat immer einen warmen menschlichen Ton, wenn er von seinen Patienten schreibt. Und er behandelt die nicht wie einfach eine Laborratte oder dehumanisiert sie. Er versucht wiederzugeben, was diese Menschen sind; die Erzählung hat eine heilende Funktion. Aber ich glaube, das tut der Sache keinen Abbruch, dass er gleichzeitig diese Erzählungen nutzt, um sehr genaue neurologische und klinische Beobachtungen zu kommunizieren: an ein Fachpublikum, aber genau auch an ein Nichtfachpublikum; und dadurch das Verständnis, was er sich erarbeitet hat, einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich

5 zu machen. Und ich denke auch dadurch indirekt gegen die Stigmatisierung von diesen Menschen anzugehen. Das finde ich eine große Leistung von ihm Abmoderation: Die Bücher von Oliver Sacks sind heute weltweit bekannt, einige dienten als Vorlage für Filme und Theaterstücke. Zum Beispiel Awakenings Zeit des Erwachens und die Geschichte vom Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte inspirierte Michael Nyman sogar zu einer Oper. Alle Beiträge zu Oliver Sacks finden Sie bei wissen.hr-online.de