Marco Polo in China. Staunender Blick auf eine fremde Welt in Venedig. Guter Freund, Ihr wollt nicht behaupten, dass Ihr bei den Tartaren wart,

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1 Marco Polo in China Staunender Blick auf eine fremde Welt 1295 in Venedig Guter Freund, Ihr wollt nicht behaupten, dass Ihr bei den Tartaren wart, bei den mongolischen Reiterhorden aus der anderen Welt, die unser Land immer wieder verheeren. Ob Ihr es glaubt oder nicht, ich war beim Großkhan der Mongolen. Er ist der Kaiser von Cathay. Ich sah, was keiner vor mir sah. Weit im Osten, viele Hundert Tagesreisen, hinter dem Meer, hinter der Wüste, hinter dem höchsten Gebirge und noch mal hinter Wüsten. Und dort, so glaube mir, gebietet der Khan über ein unvorstellbares Reich. Mit prachtvollen Städten voll goldverzierter Häuser. Voll wundersamer Erfindungen, voll Wohlstand, eilfertiger Büttel und Beamter, die des Kaisers Staat in Ordnung halten. Sein oberster Adlatus, der durfte ich sein, durch sein Gebiet reisen. Ich habe viel zu erzählen. Ein Venezianer im Gespräch mit Marco Polo

2 Marco Polo in China Staunender Blick auf eine fremde Welt 73 Marco Polo ( ) hat wirklich viel zu erzählen und lässt es aufschreiben. Sein Buch von den Wundern der Welt wird viel gelesen. Mehr als 80 Abschriften, dazu noch mehrere Übersetzungen und 200 Jahre später unzählige gedruckte Ausgaben stillen den Wissensdurst der gelehrten, seefahrenden oder einfach lesenden Europäer. Denn vor Marco Polos Reisebericht weiß man in Europa nur Ungenaues von Cathay, wie man das heutige China damals nannte. Eine lange Straße führt dorthin, die längste der Welt, die Seidenstraße. Sie führt nicht nur nach China, sondern auch zum Land der Mongolen, jenes Volks von Reiternomaden, das Europa immer wieder mal in Angst und Schrecken versetzt, blutige Kriege führt und Verwüstungen anrichtet. Marco Polo auf Reisen Wie kommt Marco Polo nach China? Handelsleuten, wie der Juweliersfamilie Polo aus Venedig, ist die Seidenstraße ein Begriff. Die Republik Venedig ist im 13. Jahrhundert nicht nur eine große Handels- und Hafenstadt, sondern sie beherrscht auch die illyrische Küste, die griechischen Inseln und die Zufahrt zum Schwarzen und zum Kaspischen Meer und kennt damit auch die Zugänge zur Seidenstraße. Schon seit Beginn unserer Zeitrechnung gelangen Waren über diese Karawanenstraße aus China nach Europa: Seide und Gewürze reisen Wissen spezial Die Seidenstraße... bezeichnet ein altes Netz von Karawanen- und Handelsstraßen. Ihren Namen erhielt sie von einem Stoff, der in China hergestellt wurde und in ganz Europa von Fürsten und Königen begehrt wurde: Seide.

3 74 Die Seidenstraße mit Orten aus damaliger Zeit ( ) und Staatsgrenzen ( ) Rechts: ein Abakus, Rechenmaschine Diese Buchmalerei zeigt Marco Polo beim Khan. von Ost nach West, Gold und andere edle Metalle in die Gegenrichtung. Die Fracht wechselt oft den Besitzer und der Zwischenhandel blüht. Niemand reist, wie Marco Polo, sein Vater und sein Onkel es taten, selbst über die gesamte Entfernung der Seidenstraße. Niemand weiß, wie es am anderen Ende aussieht. Bruchstücke fantastischer Erzählungen erlauben in Europa ein märchenhaftes, aber kein wirkliches Bild von China, vom mongolischen Khan oder vom Kaiser von China. Wer kann sich damals in Europa schon vorstellen, dass am Ende der Welt ein großes Reich liegt, das in der Technik, der Landwirtschaft und der Wissenschaft dem Abendland ebenbürtig und in manchen Dingen sogar voraus ist? Porzellan, Papier, ja sogar Papiergeld und das Bank- und Kreditwesen, der Kompass, eine primitive Rechenmaschine

4 Marco Polo in China Staunender Blick auf eine fremde Welt 75 Seidenherstellung im alten China und das Schießpulver, mit dem man kleine Raketen in den Himmel schießt, sind dort längst bekannt. Dieses sind alles Dinge, die zur Zeit des Marco Polo in Mitteleuropa noch fremd sind. Eine Armee aus Terrakotta Auch in China entwickeln sich frühe Hochkulturen entlang einem großen Fluss: dem Jangtsekiang, etwa 2000 v. Chr., später auch am Gelben Fluss. Auch die chinesischen Schriftzeichen gehen auf das 2. Jahrtausend v. Chr. zurück. Seitdem hat sich die nunmehr 4000 Jahre alte Schrift entwickelt und viele Zeichen kamen hinzu. Ende des 3. Jahrhunderts v. Chr. regiert die erste Dynastie von Kaisern: die Qin, oder auch Ch in, von denen sich der Name China herleitet. Der erste ihrer Herrscher ist bereits so mächtig und reich, dass er in einer riesigen unterirdischen Anlage beigesetzt wird, mit einer Grabbeigabe aus 3000 lebensgroßen Statuen von Soldaten aus Ton, dem sogenannten Terrakotta stoßen Bauern zufällig Wissen spezial Was bedeutet Khan? Khan ist das mongolische Wort für Kaiser, das die Mongolen zunächst nur für die Herrscher des chinesischen Nachbarlandes verwendeten. Als die mongolischen Völker sich zu einem Reich zusammenschlossen, ernannte ihr Fürstenrat den Herrscher Temüdschin zum Dschingis Khan.

5 76 Terrakottaarmee: lebensgroße Krieger aus der Grabanlage des ersten chinesischen Kaisers Qin Shi Huangdi. auf die Gruppe, als sie einen Brunnen bauen wollen. Seit dieser ersten Dynastie sind Aufzeichnungen zur Geschichte Chinas erhalten. Seitdem haben die Chinesen auch eine ausgeklügelte Landwirtschaft mit Terrassenanbau, Bewässerungssystemen und mechanischen Pumpen, ein gutes Verkehrssystem mit Straßen und Kanälen, einheitliche Maße, Gewichte und Schriftzeichen. Das Reitervolk aus dem Norden Das blühende Kaiserreich wird immer wieder von kriegerischen Nomadenstämmen aus dem Norden bedroht. Deshalb bauen die Chinesen dort eine riesige burgartig befestigte Mauer. Unüberwindbar Wissen spezial Wie lang ist die chinesische Mauer? ist sie allerdings nicht. Denn das nördliche China hat trotzdem mit einfallenden Stämmen aus dem Norden Die Große Mauer erstreckt sich über mehr als 6400 Kilometer an der Nordgrenze zu tun, besonders mit den Mongolen. Chinas von Osten nach Westen. Sie ist sehr breit und Sie dringen im 13. Jahrhundert n. Chr. weit über die Mauer hinaus nach Süden vor. Kublai Khan höher als die Bäume. Die ( ), als Mongolenführer ein Nachfahre des ersten Bauwerke entstanden legendären Dschingis Khan, erobert Peking und wird bereits 221 bis 210 v. Chr. Danach wurden immer mehr Stücke dazugebaut, bis sie im 14. Jahrhundert n. Chr. vollendet wurde. schließlich Kaiser von China. Dies ist die Zeit, als Marco Polo zusammen mit seinem Vater und seinem Onkel in China ankommt. Tausende von Kilometern hat er zurückgelegt, Han-

6 Marco Polo in China Staunender Blick auf eine fremde Welt 77 delsplätze gesehen, Wüsten und Gebirge überquert und das riesige Mongolenreich durchzogen bis nach Peking. Er ist fasziniert von dem Kult und Aufwand um den Kaiser: Die Leibwache des Großkhans besteht aus Reitern, heißt es in seinem Reisebericht. Der Großkhan hat sich aber nicht etwa aus Furcht mit dieser Wache umgeben, sondern nur, weil sie der Würde seiner Stellung entspricht. Von der Pracht am Hofe bekommt man eine Ahnung, wenn man weiter liest: Der Kaiser legt an seinem Geburtstag ein überaus kostbares golddurchwirktes Gewand an, und bei dieser Gelegenheit werden Fürsten, Edle und Oberhauptleute von ihm mit Gewändern bekleidet, die dem seinen in Farbe und Form ähnlich sind. Solche Behauptungen lassen Zweifel aufkommen, ob Marco Polo überhaupt in China, beim Khan, war. Kann man seinem Bericht nun glauben oder nicht? Die große Mauer zum Beispiel muss er auf seiner Reise gesehen haben. Aber er erwähnt sie mit keinem einzigen Wort. Auch die ansonsten sehr genauen chinesischen Geschichtsschreiber erwähnen die Anwesenheit Marco Polos am Hof des Khans nicht. Trotzdem weckt dieser Reisebericht das Interesse der Europäer für den Fernen Osten. Die Mongolen eroberten unter Dschingis Khan weite Teile Chinas.