Die SchellenUrslis. Glückliche Glöckner Guardas Buben mit blauem Hemd und roter Zipfelmütze auf dem Weg zum Umzug. SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 33
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- Lisa Kalb
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Transkript
1 Die SchellenUrslis Glückliche Glöckner Guardas Buben mit blauem Hemd und roter Zipfelmütze auf dem Weg zum Umzug. Das Kinderbuch hat den CHALANDAMARZ berühmt gemacht: In GUARDA GR wird der Brauch besonders gefeiert. Wir begleiten Urslis und Ursinas, suchen die lärmigste Plumpa und finden sogar den wahren Ur-Ursli. SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 33
2 Schönheit muss leiden Mama Lisa Bonorand macht Ursinas Haar zurecht. Es rupft, zupft und schreit. Fan von Ursli und Chalandamarz Familie Bonorand. Von links: Lisa, 42, Ursina, 8, Maria, 13, René, 44, Linard, 12. Hochglanz Vor dem Umzug poliert Linard seine Schelle. Er hat sie bei einem Bauern ausgeliehen. 34 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE Aufstehen! Ursina schläft noch. Ihr Bruder Linard, bereits für den Umzug angezogen, weckt sie.
3 36 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE Nichts kann sie stoppen Bald startet der Umzug; von überall her kommen die Schellen-Buben. Im Kreis Auf ihrem Marsch durch Guardas Gassen umrunden die Chalandamarzer die Brunnen. Volles Rohr im Chor Ab und zu bleiben die Kinder stehen und singen romanische Lieder. Pausenglocken Der Umzug macht halt, die Kinder essen Zvieri, die Schellen werden deponiert.
4 Am Ende eines langen Tages Die Urslis sind müde (Linard 2. v. l.). Für sie schlägt heute nur noch das Gute-NachtGlöcklein. 38 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE
5 Er ist das Original Not Schlegel der Ur-Ursli aus Guarda Unbekannte Filmstars Tilly, 74, und Not Schlegel, 73. Als Kinder, 1953, spielten sie in einem USSchellen-UrsliFilm die Hauptrollen (oben rechts). Später heirateten sie. 40 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE Diese Ähnlichkeit! Not Schlegel als Bub mit Geissen im US-Film. Verblüffend, wie er dem Ursli aus dem Buch gleicht.
6 Hausbesuch Die bösen Geister werden aus den Stuben herausgeläutet. Linard mit grüner Hose. Trachtenfest Beim Ball in der Turnhalle hopsen die Mädchen wie wild. Ursinas Zöpfe fliegen (2. v. l.). TEXT MARCEL HUWYLER FOTOS KURT REICHENBACH Hier, in dieser Geschichte, heisst der Schellen- Ursli Ursina. Und die schläft noch. Obwohl die Sonne schon über die Unterengadiner Berge zündelt, obschon die ersten Touristen durch die vereisten Gassen von Guarda tapsen und die bulligen, Sgraffito-verzierten Steinhäuser bestaunen. Ursina, 8, schläft. Trotz dem Lärm vor ihrem Zimmer, weil ihr Bruder Linard seine Schelle, die Plumpa, poliert. Heute ist der grosse Tag, der grosse Umzug, heute ist Chalandamarz. Und Ursina rührt sich nicht. Zugegeben, es ist für die Kleine gestern auch reichlich spät geworden. Erst nach Mitternacht kam sie heim, vom Ballet da Chalandamarz, dem Kinderfest, das im Sala da gimnastica des Schulhauses stattgefunden hatte. Todmüde, aber überglücklich war Ursina in ihr Bett gesunken, aufgekratzt vom Tanzen und Coci- Trinken, voll aber erfüllt von all den Wienerli cun pan und den süssklebrigen Tuortas. Heute Morgen hat Ursinas Mutter die Schuhe ihres Töchterchens wegwerfen müssen, «die waren total durchgetanzt», sagt die Mama. Und lächelt. Weil sie es doch als Kind genauso erlebt hat, am wichtigsten Festtag des Jahres, immer am 1. März am Chalandamarz. Chalanda ist Romanisch und kommt von Kalenden, dem ersten Monatstag, Marz heisst März. In der Zeitrechnung der Römer war der 1. März Jahresanfang. Erst seit 1580 (auf Geheiss von Papst Gregor XIII.) beginnt das Jahr mit dem 1. Januar. Doch dieses katholische Diktat kratzte seinerzeit die reformierten, romanischsprachigen Teile Graubündens wenig (wo Grinde und Charakter der Menschen genauso kantig sind wie ihre Dialekte und Hausberge). Sie feierten weiterhin am 1. März Jahresanfang und den Beginn der wärmeren Jahreszeit. Um den Winter zu vertreiben (und all die bösen Geister gleich mit dazu), veranstalteten die Kinder an Chalandamarz einen Umzug mit Glocken. An vielen Orten im Engadin finden noch heute solche Um züge statt, Guarda aber überflügelt alle, man hat hier halt einen Dorfhelden und Bilderbuchstar den Schellen-Ursli. Das 1945 erschienene Werk von Autorin Selina Chönz und Maler Alois Carigiet ist nach «Heidi» das erfolgreichste Schweizer Kinderbuch. Über eine Million Mal hat es sich verkauft. Die Geschichte spielt in Guarda und erzählt, wie der Bergbauernbub alle Strapazen auf sich nimmt, um an Chalandamarz mit der schönsten Schelle mitlaufen zu dürfen. Das Bilderbuch hat das 190-Seelen-Dorf berühmt gemacht. Dem Büblein begegnet man hier überall. Schellen-Ursli gibt es als Wanderweg, Schlittelweg, Museum, Briefmarke, Sondermünze; das Restaurant Val Tuoi bietet Touristen ein Schellen-Ursli-Fondue an, und mitten im Dorf steht gar sein Wohnhaus, Chasa 51. Ins trutzige Mauerwerk fein eingekratzt steht «Chesa Uorsin». Ursli hat Guarda fest im Griff, ein pfiffiges Kerlchen, ziemlich ausgeschlafen. Das ist Ursina jetzt endlich auch. Ein paar Häuser vom Ursli-Haus entfernt, Chasa 79, ist die Achtjährige aufgewacht. Und Verwandte Am Umzug mit dabei: Enkel und Urenkel von Buchautorin Selina Chönz: Simon, 43, und Lorin, 6. muss sich nun beeilen. Bald beginnt der Umzug. Familie Bonorand ist Chalandamarz- und Ursli-Fan: Vater Bap René, 44, Besitzer einer Schreinerei-Zimmerei im Dorf, Mutter Lisa, 42, und die Kinder Maria, 13, Linard, 12, und Ursina, 8. Hier spricht man Romanisch; erst ab der 3. Klasse werden die Kinder in Deutsch unterrichtet, und so ganz nebenbei lernen sie noch Schwiizertütsch. Oder weniger heimische Dialekte: Einige Guardaner haben deutsche Frauen geheiratet, erzählt Lisa Bonorand. «Wenn Ursina bei deren Kindern daheim spielt, spricht sie danach bayrischen oder sächsischen Dialekt.» Linard trägt bereits die traditionelle «Uniform»: blaue Bluse, rote Zipfelmütze, rotes Foulard. Und weil das stundenlange Schütteln der Schelle am Bauch scheuert, stopft man Linard ein Kissen unter die Bluse. «Jetzt hab ich eine Bauch wie Bap», frotzelt der und schwenkt die Schelle. Der Lärm wird nur noch von Ursinas Schreien übertroffen. Mama Lisa bürstet ihr drum rupf, zupf das Haar. Ursina trägt eine Bündner Arbeitstracht, die älteste Tochter, Maria, eine Festtagstracht. Die Schuhe dazu sind ein Erbstück der Grossmutter, Schuhgrösse 43. Doch Maria passen sie perfekt; Grosse Füsse, sagt die 13-Jährige, seien ein Vorteil beim Schlittschuhfahren. Oh, Eiskunstlaufprinzessin? Nein, sagt Maria, Eishockey. Sie spielt linker Flügel bei den Engiadina-Chicas. Fast 30 Kinder laufen heute in Guarda mit. Vor zehn Jahren, erzählt René Bonorand, waren es nur noch fünf Kinder, der alte Brauch drohte zu sterben. Das Dorf griff zu Notmass- u SCHWEIZER ILLUSTRIERTE 43
7 u nahmen, die Jahrhun derte lang tabu gewesen waren: Mädchen und Auswärtige. Die Mädchen durften jetzt ebenfalls Schellenschütteln, zudem bot man den Nachwuchs von Exil-Guardanern auf, und tatsächlich kamen da Kinder aus Zürich und dem Aargau und retteten die Tradition. 1. März 2016, 13 Uhr. Der Umzug beginnt. Die Mädchen in ihren Trachten, die Buben, 18 Schellen-Urslis, lärmen mit Schellen aller Grössen: von der riesigen, dumpfen Plumpa aus Blech über die bronzene Brunzina bis zu den Talocs, den Geissenbimmelchen für die Knirpse. Einer von ihnen ist Lorin. Der Sechsjährige wohnt in Zürich und läuft dieses Jahr zum zweiten Mal mit. Sein Bap, Simon, 43, ist Exil-Guardaner. Mit Nachnamen Könz. Man stutzt. Er nickt. Schellen-Ursli-Autorin Selina Chönz war seine Grossmutter. «Sie hiess Könz mit K», erklärt der Enkel, «als sie nach Guarda zog, wählte sie den Künstlernamen Chönz mit Ch, weil das mehr romanisch klingt.» Der Umzug bewegt sich weiter. Brunnen werden umrundet, Wohnstuben besucht und mit dem Treichellärm von Geistern befreit. Ab und zu bleiben die Kinder stehen und singen Lieder, romanisch, mehrstimmig, manchmal etwas zu-viel-stimmig. Was solls. Die wohl hundert Touristen klatschen und knipsen. In Einerkolonne weiter, Schellen schütteln im Takt. Man macht einen Bogen um ein heranrollendes Auto mit ZH-Nummernschild, das sich ins (fast) verkehrsfreie Guarda verirrt hat. Dem Fahrer liegt anscheinend nicht sonderlich viel an einer beulen- und kratzerfreien Karrosserie denn er hupt. Nicht wer die grösste Schelle hat, läuft zuvorderst (wie es Thema ist im Schellen-Ursli-Buch), Die Kinder festen bis Mitternacht. Berauscht von Tanz, Suppe und Coci sondern es geht dem Alter nach. Ein Zuzüger-Bub aus Südtirol ist heuer der älteste, er geht voraus. «Sein erstes Chalandamarz», verrät René Bonorand, «der Bub war extrem nervös und hat das Marschieren und Schellen drum vorher daheim geübt im Keller.» Der Ursli scheint derzeit im Trend zu sein. Bereits eine halbe Million Zuschauer sahen im Kino den 2015 gestarteten «Schellen- Ursli». Auch Not Schlegel hat ihn angeschaut, zweimal sogar. Not Schlegel ist 73, hat lustig blinzelnde Äuglein, Chruseli wie ein Muneli und einen Prachtsbart. Not Schlegel ist pensionierter Paur und lernt grad Snowboarden («muesch ukogä schnell reagiere, weisch»), er jagt Gämsen, Hirsche und Steinböcke und lebt im Weiler Bos-cha, 20 Gehminuten von Guarda. Und er behauptet: «Ich, ich bin der wahre Schellen-Ursli. Autorin Selina Chönz hat immer zu mir gesagt: Du, Not, du bist mein Ursli.» Man will Beweise. Wir sollen ihn daheim besuchen, brummts aus dem Bart, sein Haus stehe beim Dorfbrunnen. Scherzbold, in Bos-cha stehen alle Häuser beim Brunnen. Man findet Not Schlegel dann doch, dort, wo es hinter einer geschnitzten Tür laut lacht. Seine Frau Tilly, 74, bittet herein. Wie war das jetzt mit dem einzig wahren Schellen-Ursli, Herr Schlegel? Also. Selina Chönz aus Guarda habe ihn, den kleinen Buben, damals mit an ihre Buchlesungen genommen, sozusagen als possierliche Kulisse, «weil ich aussah wie der Ursli in ihrem Buch». Noch besser kams dann Ein Filmteam aus den USA drehte in Guarda einen Schellen- Ursli-Film. In der Hauptrolle: Not Schlegel, damals zehn Jahre alt, Gage: 200 Franken. Not zeigt Fotos von damals. Er beim Dreh als Ursli: das pfiffige Gesicht, das Chruselihaar genau wie aus dem Kinderbuch. Ein anderes Foto zeigt ihn mit seiner Filmschwester Flurina. Es ist Tilly, seine heutige Frau! 14 Jahre nach den Filmaufnahmen haben die beiden geheiratet. Und der US- Ursli-Film? Kam nie in die Kinos, die Filmrollen sind verschollen. In Guarda ist der Umzug im Endspurt. Linard, mit mittlerweile plumpem Schritt, schwingt noch immer tapfer seine Plumpa, Maria und Ursina hüpfen herum, um sich warm zu halten. Unter den Zuschauern sind auch zwei Männer aus Deutschland. Sie planen, das Schellen-Ursli-Haus originalgetreu nachzubauen im Europa-Park Rust. Und dann ist alles vorbei. Der Umzug fertig. Die Kinder sinds auch. Die Heimischen trotten heim, die Touristen in die Beizen. Selbst die Tualettas sind hier touristisch durchdacht beschriftet: An der einen WC-Tür prangt ein Ursli-Bild, an der anderen das seiner Schwester Flurina. Guarda, das Dorf aus dem Bilderbuch ein Bilderbuchdorf. Das muss man gesehen haben. Schau da! Heisst auf Romanisch Guarda! En Guete Vor dem langen Ballabend stärken sich die Kinder mit natürlich Bündner Gerstensuppe. Beschwingt Unsere Maria Bonorand (Mitte) rauscht mit ihren Kolleginnen heim vom Tanzfest. 44 SCHWEIZER ILLUSTRIERTE
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