Gastrointestinale Infektionen - ein Update: Noroviren. Joachim Kühn, Institut für Medizinische Mikrobiologie - Klinische Virologie Münster
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- Cathrin Schäfer
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1 Gastrointestinale Infektionen - ein Update: Noroviren Joachim Kühn, Institut für Medizinische Mikrobiologie - Klinische Virologie Münster
2 Noroviren (NoV) als Krankheitserreger 1929 Beschreibung der sog. Winter Vomiting Disease 1968 Ausbruch von akuter Gastroenteritis an einer Grundschule in Norwalk, Ohio: Norwalk-Virus (NV) >100 Primärfälle (Schüler, Lehrer), Kontaktfälle (Familie) Ultrafiltrat aus dem Stuhl eines Sekundärfalles verursacht typische Erkrankung bei ca. 50% von Freiwilligen keine Vermehrung in Zell- oder Organkulturen und Versuchstieren 1972 elektronenmikroskopischer Nachweis 1981 Klassifizierung als Calicivirus 1993 erste Genomsequenz 2000 Genus Norovirus (NoV) 2002 neue NoV-Variante: massiver Anstieg von Ausbrüchen viraler Gastroenteritis weltweit
3 Familie Caliciviridae Genus Lagovirus Genus Norovirus Genus Sapovirus Genus Vesivirus Noroviren (NoV) nicht umhüllte RNA-Viren Virionen mit ikosaedrischer Symmetrie (T=3) nm groß +ss-rna-genom, 2 transkriptionelle Einheiten 1 Nichtstruktur-Polyprotein (ORF1) 2 Strukturproteine (ORF2, ORF3) lt. calyx/gr. καλυξ = Kelch
4 Klinische Symptomatik heftiges, explosives Erbrechen starke Durchfälle cave: massive Flüssigkeits- und Elektrolytverluste Abdominalkrämpfe Übelkeit Kopfschmerzen, Myalgien, Mattigkeit kein oder nur mäßiges Fieber symptomatische Phase 12 bis 72 Stunden leichtere oligosymptomatische Verläufe möglich
5 Pathogenese Replikation im oberen Verdauungstrakt (Jejunum) Verbreiterung und Verkürzung von Villi im proximalen Dünndarm, Mukosa intakt Epithelzellen zeigen verkürzte Mikrovilli Monozyteninfiltration und Zellvakuolisierung transiente Maladsorption (Fett, D-Xylose und Lactose) keine erhöhten Adenylatcyclase- oder Interferonspiegel deutlich verminderte Magenentleerung bei Erkrankten gestörte Magenmotorik vermutlich verantwortlich für Übelkeit und Erbrechen
6 Infektionsweg und Inkubationszeiten Ausscheidung über Stuhl und Erbrochenes fäkal-orale Übertragung hohe Infektiosität (>10 11 Genome/mL im Darm) sehr niedrige minimale Infektionsdosis (ca. 10 Viruspartikel!) Infektion durch kontaminierte Speisen und Getränke (häufig bei Indexfällen) direkte Mensch-zu-Mensch Übertragung (Sekundärfälle) Tröpfcheninfektion bei explosivem Erbrechen Hände Kontakt mit kontaminierten Oberflächen und Gegenständen Inkubationszeit <1 bis 3 Tage, im Mittel 24 Stunden Attack-Rate bis zu 50% und höher
7 Dauer der Ansteckungsfähigkeit Infektiosität bereits kurz vor der symptomatischen Phase (Speichel?) hohe Infektiosität während der gesamten symptomatischen Phase und bis mindestens 48 Stunden nach Ende der Erkrankung Erbrochenes Stuhl kontaminierte Körperoberflächen (Hände!) und Kleidung Virusausscheidung bis zu 2 Wochen und länger nach Ende der Erkrankung möglich mehrmonatige Ausscheidung bei Immunsupprimierten beschrieben (Gallimore et al., 2003)
8 Vorkommen von Noroviren verantwortlich für einen Großteil der nicht bakteriell bedingten akuten Gastroenteritiden (AGE) jährlich mehr als 20 Mio. Fälle von NoV-Infektionen in den USA in Industrieländern häufigste Einzelursache (70-80%) von AGE- Ausbrüchen in Krankenhäusern Gemeinschaftseinrichtungen (Alten-, Pflege- u. Kinderheimen) Schulen und Institutionen Feriencamps und Hotelanlagen Kreuzfahrtschiffen Familien
9 Norovirusinfektionen in der BRD Ausgeprägte Saisonalität Winter 2007/8 bislang heftigste Norovirus-Saison 2007 über gemeldete Fälle derzeit häufigste meldepflichtige Erkrankung
10 Norovirus-Ausbrüche auf Schiffen z.b. im Jahr Ausbrüche auf 10 Kreuzfahrt- Schiffen, Ausbrüche am CDC untersucht selbst Desinfektion des ganzen Schiffes unterbricht Infektionskette nicht vollständig Reinfektion über Oberflächen (Teppiche etc.) Kreuzfahrt = Freiwilligenexperiment mit Noroviren auch militärisch relevant: Auszeit der USS Saratoga wg. Noroviren im Irakkrieg für einige Tage
11 Norovirusausbrüche durch kontaminierte Lebensmittel Epidemie durch kontaminierte Austern Ausbruch im September 93 zahlreiche Personen in den ganzen USA betroffen gemeinsamer Risikofaktor: Austernkonsum alle Austern aus dem gleichen Anbaugebiet (9 km 2 ) Fischer mit Gastroenteritis, stand im seichten Wasser, erleichterte sich mehrmals ins Wasser Norovirus-Stamm bei Fischer und Betroffenen identisch Fischer infizierte in 3 Tagen ca. 6 Millionen Austern, die in 14 Bundesstaaten verkauft wurden (MMWR 42 (49) )
12 Diagnostik von Norovirus-Infektionen typische Klinik einer AGE Erbrechen und/oder Durchfall kurze Inkubationszeiten (10 bis 50 Stunden) kurze Krankheitsdauer (1 bis 2 Tage) labordiagnostischer Nachweis Trefferquote << 100%, bei Ausbruch Stuhlproben von mehreren typisch erkrankten Personen einsenden Nukleinsäurenachweis (RT-PCR) ggf. auch Elektronenmikroskopie (geringe Sensitivität, Detektion weiterer Erreger, hoher Kosten- und Personalaufwand), keine Differenzierung versch. Caliciviren (SRSV = small round structured viruses) Antigennachweis (ELISA) mit kritisch niedriger Spezifität epidemiologische Bestätigung Zusammenhang mit labordiagnostisch nachgewiesener Infektion Mensch-zu-Mensch-Übertragung gemeinsame Expositionsquelle (z.b. Lebensmittel) Verzehr eines Lebensmittels, in dem labordiagnostisch Noroviren nachgewiesen wurden
13 Therapie kausale antivirale Therapie nicht möglich symptomatische Therapie, Ersatz der Elektrolyt- und Flüssigkeitsverluste orale Rehydration (Elektrolyte, Zucker) ggf. parenterale Rehydration Loperamid o. Diphenoxylat nicht empfohlen cave: lebensbedrohliche Verläufe möglich bei sehr alten und sehr jungen Patienten mangelernährten Kindern Patienten mit schweren Grunderkrankungen
14 Prävention Prävention kein Impfstoff verfügbar partielle mukosale Immunität Infektion verleiht kurzfristigen (?) Schutz gegen Reinfektion mit gleichem Erreger Vermeidung von Index-Fällen durch Lebensmittel Händehygiene in Gemeinschaftseinrichtungen und Küchen gutes Durchgaren von Fisch und Meeresfrüchten cave: extrem niedrige Infektionsdosen sehr hohe Umweltresistenz und hohe Temperaturstabilität des Erregers bis zu 60 C
15 Maßnahmen bei Erkrankungen in Gemeinschaftseinrichtungen sofortige Einleitung von Hygienemaßnahmen zur Vermeidung von aerogener Übertragung (explosives Erbrechen) direkter Mensch-zu-Mensch-Übertragung (Hände) fäkal-oraler Schmierinfektionen (Flächenkontaminationen) Eindämmung einer weiteren Ausbreitung der Infektion in Gemeinschaftseinrichtungen Einschränkung von Patienten-, Bewohner- und Personalbewegungen mit möglichem Erregerkontakt Freistellung von erkranktem Personal bis frühestens 2 Tage nach Ende der klinischen Symptomatik ätiologischen Klärung gezielte Diagnostik zum Nachweis von Noroviren Einsenden von Stuhlproben typisch Erkrankter (z.b. 5 Fälle) Ausschaltung potentieller Infektionsquellen in Form von kontaminierter Nahrung und Getränke
16 Maßnahmen für Patienten und Kontaktpersonen Kinder unter 6 Jahren mit AGE oder Verdacht auf AGE dürfen Gemeinschaftseinrichtungen nicht besuchen ( 34 Abs.1 IfSG) Erkrankte dürfen nicht in Lebensmittelberufen ( 42 IfSG) tätig sein und keine betreuenden Tätigkeiten in Gesundheits- und Gemeinschaftseinrichtungen ausüben Wiederaufnahme der Tätigkeit frühestens 2 Tage nach Abklingen der Symptome Virusausscheidung auch nach Sistieren der Symptome möglich, daher intensive persönliche Hygienmaßnahmen noch für mindestens 2 Wochen durchführen namentliche Meldepflicht nach 6 IfSG Abs.2 und 7 IfSG Abs.1
17 Persistenz von NoV in der Bevölkerung: enorme genetische Diversität Gruppe stark heterogener Viren (genetic clade) Genogruppe 5 Genogruppen (GI - GV) bis zu 60% Divergenz in Kapsidproteinsequenz Genotyp mit diversen Clustern 20-30% Divergenz in Kapsidproteinsequenz NoV GII.4 derzeit häufigster Genotyp bei Ausbrüchen Genogruppe I: humane NoV, derzeit 8 Genotypen Genogruppe II: humane & porcine NoV, derzeit 19 Genotypen Genogruppe III: bovine NoV, derzeit 2 Genotypen Genogruppe IV: humane NoV Genogruppe V: murine NoV (Klassifikations-/Nomenklaturvorschlag nach Zheng D et al._2006)
18 Evolution von NoV GII.4 Epochales Muster Phasen der relativen Stabilität Phasen rascher Veränderung plötzliches Auftreten neuer epidemischer Cluster zeitlich lineare Abfolge epidemischer Cluster
19 Histoblutgruppenantigene (HBGA): NoV-Rezeptoren FUT2-Gen (alpha-1,2-fucosyltransferase): Suszeptibilitäts-Allel für Norovirusinfektionen FUT2-negative Individuen (ca % in Skandinavien) sind komplett resistent gegen Norwalk-Virus Infektion(G I.1) mit größerer Wahrscheinlich asymptomatisch nach GII.4 Exposition FUT2 überträgt einen Fucoserest auf den H-Typ 1-Precursor: H-Typ 1 Antigen wird gebildet H-Typ 1-Antigen dient als Precursor für die Übertragung von A und B Blutgruppenantigenen FUT2-positive Individuen besitzen Sekretor-Phänotyp (SeSe oder Sese) und exprimieren HBGA auf mukosalen Oberflächen und in Sekreten Nonsense-Mutationen in FUT2-Gen verursachen Nonsekretor-Phänotyp HBGA sehr heterogen, Rolle weiterer Glykosyltransferasen?
20 Vorkommen humaner NoV bei Nutz- und Zootieren: animales Reservoir - zoonotische Übertragung? NoV GIV bei Zootier (2007) NoV GII.4 bei Nutztieren (2007)
21 Homologe RNA-Rekombination im ORF1-ORF2-Übergang Nachweis von NoV-Rekombinanten mit zunehmender Häufigkeit vermutlich Template Switch-Mechanismus der Polymerase meist Erhalt der Polymerase-Sequenz und Austausch der Kapsid- Sequenzen häufiger Polymerase-Genotyp (z.b. GII.4) mit 4 bis 5 unterschiedlichen Kapsid-Genotypen assoziiert effektiver Ausweg aus Populationsengpässen Fehlen eines allgemein anerkannten Klassifikationssystems: Mehrfachbeschreibungen Rekombination zwischen humanpathogenen und tierpathogenen NoV?
22 Noroviren: Erfolg durch enorme genetische Plastizität Wird NoV GII.4 weiter dominieren? Suszeptibler Pool in der Bevölkerung determiniert durch HBGA-Muster und vorbestehende Immunität Antigendrift, Selektionsdruck durch Stamm-spezifische Immunität zunehmend geringere Suszeptibilität der Zielpopulation strukturelle Flexibilität der HBGA-Rezeptordomäne HBGA-Rezeptor-Switch: Erschließung neuer suszeptibler Bevölkerungsanteile oder Niedergang
23 Wie könnte die NoV-Epidemie nach GII.4 aussehen? persistierende alte NoV in der Warteschleife, neue Erreger mit geänderten Eigenschaften durch Rekombination: Antigen-Shift Epidemiologisch relevanter Speziessprung, Rekombination innerhalb verschiedener Säuger-NoV: massiv veränderte Pathogenität und Virulenz?
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