2. Kafka lesen Kafka ein konservativer Moderner Realismus und/oder Expressionismus Kafkas Sprachkunst... 50

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2 Inhalt Inhalt 1. Leben und Legende Der Brief an den Vater Heiraten Ich bestehe aus Literatur Kafka lesen Kafka ein konservativer Moderner Realismus und/oder Expressionismus Kafkas Sprachkunst Körper Der Körper in der modernen Zeit Körper und gender Hungern Institutionen Herrschaft und Familie Prozesse Der organisierte Mensch Freiheit? Die letzten Dinge Wohin ist Gott? Über die letzten Dinge klar werden

3 6 Inhalt Anhang Werkausgaben Weiterführende Literatur Personenregister Werkregister

4 1. Leben und Legende 1. Leben und Legende 1. Leben und Legende Die rein äußeren Geschehnisse, die Kafkas Leben erfüllt und bestimmt haben, dürften einem unbefangenen Betrachter keineswegs ungewöhnlich, vielleicht sogar eher banal vorkommen. Geboren wurde er am 3. Juli 1883 in Prag. Seine Eltern Hermann und Julie Kafka betrieben dort ein kleines Geschäft, in dem sie Modeartikel, Regen- und Sonnenschirme, Hand- und Hausschuhe, Spazierstöcke und Ähnliches verkauften. Er war das älteste von sechs Kindern, wenn man zwei Brüder mitrechnet, die in früher Kindheit starben; seine drei Schwestern überlebten ihn alle. Er studierte von 1901 bis 1906 Jura an der Deutschen Universität in Prag und schloss sein Studium mit der Promotion zum Dr. iur. ab. Nach einem einjährigen Rechtspraktikum begann er seine berufliche Tätigkeit, und zwar zunächst bei der Prager Zweigstelle der Versicherungsgesellschaft Assicurazione Generali, die ihren Hauptsitz in Triest hatte. Nach einem Jahr wechselte er zur Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen in Prag. Seine dortige Tätigkeit beschränkte sich nicht nur auf die Bearbeitung von Versicherungsansprüchen, die aus Arbeitsunfällen resultierten, sondern schloss die Entwicklung von Maßnahmen zur Vermeidung solcher Unfälle ein. Im Rahmen dieser Aufgaben besuchte er Fabriken, überprüfte deren maschinelle Ausstattung und begutachtete ihre Unfallschutzvorkehrungen. Seine berufliche Tätigkeit in dieser Versicherungsanstalt dauerte bis In seiner Freizeit schrieb er Prosaskizzen und Erzählungen; sie erschienen in Zeitschriften und als schmale Bändchen. Das erste Betrachtung erschien im Jahre 1912.

5 8 1. Leben und Legende Im August 1912 lernte er Felice Bauer kennen. Sie war vier Jahre jünger als er und war zu Besuch aus Berlin gekommen, wo sie in einer Firma beschäftigt war, die Bürogeräte herstellte. Ihre Beziehung einschließlich zweier Verlobungen spielte sich im Wesentlichen auf brieflichem Wege ab sie haben sich insgesamt nur bei siebzehn Gelegenheiten getroffen; die bei weitem längste gemeinsam verbrachte Zeit bestand in einem zehntägigen Aufenthalt in einem Hotel im Juli Sie ging schließlich zu Ende, als Kafka im August 1917 einen Blutsturz erlitt, der sich als Symptom einer Tuberkulose erwies. Er musste zur Genesung aufs Land, allerdings ohne zu wissen, welche Lebenserwartung ihm noch verbleiben würde. Danach wechselten kurze Phasen der Rückkehr an den Arbeitsplatz sich ab mit Sanatoriumsaufenthalten, bis er 1922 vorzeitig in den Ruhestand trat. Im Jahre 1919 hatte Kafka kurzzeitig ein Verhältnis mit Julie Wohryzek, einer achtundzwanzig Jahre alten Frau, die in Prag einen kleinen Modesalon betrieb. Dieses Verhältnis ging jedoch zu Ende, als er Milena Pollak, geborene Jesenská, kennen lernte. Sie, eine geistvolle Journalistin, war mit ihrem Gatten, der sich ihr gegenüber gleichgültig bis abweisend verhielt, nicht glücklich geworden. Sie hatte einige Werke Kafkas ins Tschechische übersetzt. Da Milena in Wien lebte, kam es nur zu wenigen Zusammentreffen, und ihre Beziehung endete bereits wieder im Jahre Zwei Jahre danach verließ Kafka Prag und ließ sich zusammen mit Dora Diamant, einer jungen Frau, die sich von ihrer ultraorthodoxen jüdischen Familie in Polen gelöst hatte, in Berlin nieder. Seine Gesundheit verschlechterte sich jedoch so schnell und so drastisch, dass er nach mehreren Aufenthalten in Kliniken und Sanatorien in der Umgebung Wiens am 3. Juni 1924 starb. Während seiner Lebenszeit veröffentlichte er sieben dünne Bücher, aber er hinterließ drei unvollendete Romane und eine ungemein große Menge an Notizheften und Tagebüchern. Sie sind uns nur deshalb erhalten geblieben, weil sein Freund Max Brod Kafkas ausdrücklicher Anweisung, sie zu verbrennen, nicht nachgekommen ist.

6 1. Leben und Legende 9 In diesen seinen Hinterlassenschaften liegen die Gründe dafür, dass Kafka zur mythisch-legendären Symbolfigur der modernen Kultur geworden ist. Einen sinnbildlichen Ausdruck findet dieser mythische Kafka in der leidvollen Vereinsamung, wie sie Peter Capaldis Kurzfilm Franz Kafka s It s a Wonderful Life (1994) zugrunde liegt. Der leidende Kafka ist für das 20. (und das beginnende 21.) Jahrhundert das geworden, was die melancholische Figur Lord Byrons ( ) für das 19. Jahrhundert war. Kafkaesk ist ein ebenso aussagekräftiges Adjektiv, wie es byronisch einmal gewesen ist. Während jedoch Byron das Bild eines überheblichen, libertinen Aristokraten abgegeben hat, der sich über alle sozialen und religiösen Tabus hinwegsetzt, hinterlässt Kafka im Gegensatz dazu das Bild eines Demokraten. Die klare Übersichtlichkeit seiner Biographie trägt zu dem Eindruck bei, dass er einer von uns war: Verwurzelt im alltäglichen Leben, litt er unter den Ängsten, dem Kummer, den Frustrationen aller oder gab ihnen bildlichen Ausdruck und zwar in einer solchen Intensität, dass wir alle sie nach- und mitempfinden können. Das ist deswegen so, weil sie, wenn schon nicht unseren täglichen Erfahrungen, so doch unseren Ahnungen, wenn nicht sogar unseren Alpträumen entsprechen. Der Mythos Kafka lag genau so wie der Mythos Byron begründet im Autor selbst. Er beruht, wenn nicht auf den unmittelbaren Erfahrungen des Autors, dann doch auf der Art und Weise, in der er diese Erfahrungen gestaltet und ihnen Ausdruck gibt, indem er sie gedanklich verarbeitet und sie niederschreibt zunächst zur Selbstverständigung, dann auch zur Verwendung in der Öffentlichkeit. In beiden Fällen ist der Autor selbst kaum zu unterscheiden von den fiktionalen Projektionen seines Selbst. Byrons Leser stellten sich vor, er selbst sei genau so illusionslos und schwermütig wie die Hauptfiguren seiner epischen oder dramatischen Gedichte. Genau so schwierig ist es, Kafka von den Protagonisten seiner Romane zu unterscheiden, deren Namen in zunehmendem Maß verkürzt werden: Karl Rossmann, Josef K., und schließlich das bloße K. für die Hauptfigur des Romans Das

7 10 1. Leben und Legende Schloss. Kafka machte persönlich Bekanntschaft mit dieser Schwierigkeit. Als er im Januar 1922 in Spindlermühle im Riesengebirge im Hotel eintraf, bemerkte er, dass die Angestellten seine Buchung falsch gelesen und seinen Namen als Josef K. eingetragen hatten. Trotzdem ich dem Hotel deutlich meinen Namen geschrieben habe, trotzdem auch sie mir zweimal schon richtig geschrieben haben, steht doch unten auf der Tafel Josef K. Soll ich sie aufklären oder soll ich mich von ihnen aufklären lassen?, fragt er sich im Tagebuch (T 893). Die mythisch-legendäre Ikone der modernen Kultur, zu der Kafka geworden ist, stammt letztlich aus ihm selbst und seinem eigenen Tun und Lassen. Deshalb gibt es keinen Weg, hinter dieses Selbst zurückgehen zu wollen, um den wirklichen Kafka aufzuspüren. Der nahezu besessene Tagebuchschreiber und der Verfasser nicht enden wollender, oft gequälter und quälender Briefe an Felice Bauer und Milena Jesenská sind genau so der wirkliche Kafka wie der beruflich höchst kompetente Versicherungsfachmann, der begeisterte Sportler und der Autor von Romanen, der sich gelegentlich selbst vergaß vor lauter Glück, wenn ihm das Schreiben leicht von der Hand ging. Es geht nicht darum, die legendäre Symbolfigur Kafka der Wirklichkeit anzupassen, sondern darum, auf Kafkas eigene Schriften zurückzugreifen und darauf zu achten, in welcher Weise er seine Lebenserfahrung und seine Lebensumstände in diese Symbolfigur umgewandelt hat. Dazu kommt, dass mancherlei faktische Irrtümer über Kafka im Umlauf sind. Manche gehen zurück auf falsche Darstellungen früherer Biographen oder missverständliche Aussagen von Zeitgenossen. Sie lassen sich richtigstellen, wenn man ein sorgfältig erarbeitetes, abgerundetes Bild seines Lebens und seines historischen Hintergrundes zu entwerfen sucht. Deshalb wollen wir mit Kafka selbst beginnen. Kafka war beim Schreiben ungemein selbstkritisch, zuweilen sogar selbstquälerisch. Seine Tagebücher und Briefe enthalten mancherlei Reflexionen über sein eigenes Leben und Überlegungen, warum es missglückt ist. Sein fiktionales Schreiben war für

8 Der Brief an den Vater 11 ihn nicht in erster Linie der unmittelbare Weg, seine Lebenserfahrung zu gestalten und zu begreifen. Als er sich zwei Wochen Urlaub genommen hatte, um den Roman Der Proceß voranzutreiben, notierte er am 15. Oktober 1914: 14 Tage, gute Arbeit zum Teil, vollständiges Begreifen meiner Lage (T 678). Wenn auch zahllose Fäden seine Lebenserfahrung und die fiktionale Welt seiner Dichtung verbinden und es durchaus sinnvoll ist, sie aufzusuchen, so kann sein Werk doch noch weniger als das anderer Schriftsteller auf seinen mutmaßlichen biographischen Ursprung reduziert werden. Gerade weil seine Dichtung so unendlich weit die ihr zugrunde liegenden Lebenssituationen hinter sich lässt, erfordert Kafka unsere besondere Aufmerksamkeit. Der Brief an den Vater Der Brief an den Vater Um ein Gefühl für Kafkas eigene Erfahrungsweise zu bekommen und um zu sehen, wie er seine konkrete Erfahrung immer stärker ins Fiktionale überführt, während er über sie reflektiert, wollen wir uns das längste Produkt seiner Selbstanalyse anschauen den berühmten Brief an den Vater. Kafka schrieb diesen Brief im November 1919, als er sein Verhältnis zu seinem Vater einer gründlichen Analyse unterzog. Offenbar hat er beabsichtigt, ihn tatsächlich an seinen Vater zu schicken in der Hoffnung, die getrübte Atmosphäre zu bereinigen, die zwischen ihnen herrschte. Seine Schwester Ottla allerdings, der er ihn zu lesen gab, und seine Mutter, der er ihn anscheinend zuerst gegeben hat, rieten davon ab. Er behielt ihn dann als ein persönliches Dokument; 1920 zeigte er ihn Milena, um ihr zu helfen, ihn besser zu verstehen. Der Brief ist zunächst und vor allem ein Versuch der Selbsttherapie. Kafka versucht, der Beziehung zu seinem Vater einen Sinn abzugewinnen, indem er sich selbst von ihm distanziert. Weil er somit einem Zweck in Kafkas eigener Entwicklung dient, dürfen wir ihn nicht als ausgewogenes oder auf Vollständigkeit

9 Personenregister Personenregister Das Register bezieht sich auf den laufenden Text, nicht aber auf die weiterführende Literatur. Fiktionale Figuren sind nicht berücksichtigt. Abraham 146, 147, 156 Adorno, Theodor W. 33, 145 Altenberg, Peter 28, 75 Althusser, Louis 95, 101 Auden, Wystan H. 31 Augustinus 145 Barthes, Roland 34 Bauer, Felice 8, 10, 19, 20 Bebel, August 115 Beck, Evelyn Torton 143 Benjamin, Walter 92, 144, 145 Bloch, Grete 128 Blüher, Hans 23 Brecht, Bertolt 34 Brod, Max 64, 93, 97, 109, 125, Brown, Peter 84, 85 Buber. Martin 142, 143 Byron, Lord 9 Capaldi, Peter 9 Chaplin, Charlie 29 Commanville, Caroline 27 Conrad, Joseph 53, 114 Darwin, Charles 47 Descartes, René 61 Diamant, Dora 8, 22, 126 Dickens, Charles 28, 68 Dostojewski, Fjodor 27 Dreyfus, Alfred 115 Eliot, George 130 Flaubert, Gustave 27, 85, 130, 157, 161 Foucault, Michel 89 Freud, Sigmund 15, 73, 148 Goethe, Johann Wolfgang 31, 123, 124 Goffman, Erving 89, 117 Grillparzer, Franz 27 Gross, Otto 93 Haeckel, Ernst 47 Heidegger, Martin 52 Heller, Erich 84

10 174 Hermann, Karl 150 Heym, Georg 42 Huizinga, Johan 113 Ibsen, Henrik 131 James, William 158 Janouch, Gustav 32 Jesenská, Milena 8, 10, 11, 20, 21, 22, 24, 26, 65, 90, 128, 149 Kafka, Bruno 13 Kafka, Elli 64, 93, 94 Kafka, Hermann 7, 12 16, 95 Kafka, Julie 7, 13, 18 Kafka, Ottla 11, 13, 129, 150 Kaiser, Georg 42 Kierkegaard, Sören , 159, 161 Kleist, Heinrich von 27 Langer, Georg 142 Lawrence, D. H. 131 Löwy, Joseph 114 Mann, Thomas 28, 35, 36, 63 Marc, Franz 42 Masaryk, Tomáš 124 Moses 154 Muir, William und Edwin 31 Musil, Robert 30 Nabokov, Vladimir 42 Napoleon 28 Neill, A. S. 93 Personenregister Nietzsche, Friedrich 47, 48, 62, 63, 73, 76, 77, 122, 135, 136, 139, 140 Olsen, Regine 146 Pascal, Blaise 145 Paulus 52, 80, 140, 156, 160 Pollak, Ernst 21 Rilke, Rainer Maria 30, 31 Rowohlt, Ernst 30 Sand, George 27 Scholem, Gershom 144, 145 Schopenhauer, Arthur 145, 158 Sternheim, Carl 30 Strindberg, August 131, 132 Succi, Giovanni 75 Susman, Margarete 144 Swift, Jonathan 94 Tanner, Henry 75 Tschechow, Anton 28 Tolstoi, Leo 145 Vialatte, Alexandre 31 Walser, Robert 28 Weber, Max 110, 111 Werfel, Franz 22, 23, 30 Wohryzek, Julie 8, 21 Wolff, Kurt 26, 30 Yeats, W. B. 135

11 Werkregister Betrachtung 7, 30, 36, 37, 135 Blumfeld, ein älterer Junggeselle 58 Brief an den Vater 5, 11, 13, 15, 17, 19, 95 Das Schloß 33, 53, 71, 121, 122, 128, 132, 138, 147, 157, 161 Das Schweigen der Sirenen 82 Das Urteil 16, 18, 25, 30, 31, 37, 39, 40, 41, 43, 51, 80, 91, 139, 140, 143, 148 Der Fahrgast 36, 49 Der Heizer 23 Der Jäger Gracchus 53 Der Kübelreiter 74 Der neue Advokat 45 Der Proceß 37, 45, 51 57, 70, 96, 99, 101, 114, 129, 132, 137, 143, 144, 148 Der Schlag ans Hoftor 97 Der Verschollene 14, 19, 23, 53, 57, 70, 78, 92, 96, 99, 126, 137, 141 Die Bäume 135 Die Sorge des Hausvaters 58 Die Verwandlung 18, 30, 41, 91, 104, 139, 141 Ein altes Blatt 113 Ein Bericht für eine Akademie 80, 123 Ein Hungerkünstler: Vier Geschichten 30 Ein Hungerkünstler 14, 48, 78 Eine kaiserliche Botschaft 137 Ein Landarzt 48, 78, 137, 139 Ein Landarzt: Kleine Erzählungen 30, 45 Erinnerung an die Kaldabahn 23 Erstes Leid 73 Forschungen eines Hundes 48, 78, 85 Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande 53 In der Strafkolonie 25, 26, 30, 31, 49, 71, 97, 114, 115, 139 Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse 59, 86 Wunsch, Indianer zu werden 74, 92