Kinder- und Jugendärzte fordern, geplante Verschärfung der Anzeigepflicht bei Verdacht auf Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch auszusetzen!
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1 (ÖGKJ) Präsident: Sekretär: Prim. Univ.-Prof. Dr. Wilhelm Kaulfersch Abt. f. Kinder- u. Jugendheilkunde, LKH Klagenfurt Tel: +43 (0) Prim. Univ.-Prof. Dr. Reinhold Kerbl Abt. f. Kinder- u. Jugendheilkunde, LKH Leoben Tel: +43 (0) PRESSEAUSSENDUNG 19. Mai 2008 Die (ÖGKJ) nimmt Stellung zum Ministerialentwurf zum 2. Gewaltschutzgesetz des Bundesministeriums für Justiz, dessen Begutachtungsfrist am 15. Juni 2008 endet. Kinder- und Jugendärzte fordern, geplante Verschärfung der Anzeigepflicht bei Verdacht auf Kindesmisshandlung und Kindesmissbrauch auszusetzen! Österreichs Kinder- und Jugendfachärzte weisen mit diesem Schreiben ausdrücklich darauf hin, dass ihrer Meinung nach die im Ministerialentwurf zum 2. Gewaltschutzgesetz des Bundesministeriums für Justiz enthaltene Verschärfung der Anzeigepflicht bei Verdacht auf Misshandlung und Missbrauch für das Wohl der betroffenen Kinder und Jugendlichen kontraproduktiv ist. Bislang wurde im betreffenden Paragraphen 78 ( festgehalten, dass alles zum Schutz des Opfers unternommen werde müsse, erforderlichenfalls sei auch Anzeige zu erstatten Abs. 3 lautet: (3) Die Behörde oder öffentliche Dienststelle hat auch in den Fällen des Abs. 2 Z 1 alles zu unternehmen, was zum Schutz des Opfers oder anderer Personen vor Gefährdung notwendig ist und Anzeige zu erstatten, insbesondere soweit die konkrete Gefahr besteht, dass eine Person neuerlich Opfer einer im 65 Z 1 lit. a bezeichneten Tat wird. Aus dieser Regelung wird nun im neuen Entwurf durch eine entsprechende Ergänzung eine absolute Anzeigepflicht gemacht, die bereits bei Verdacht auch Laien dazu verpflichtet, Anzeige zu erstatten.
2 4. Nach dem 78 soll nun folgender 78a eingefügt werden: 78a. (1) Besteht auf Grund bestimmter Tatsachen der Verdacht, dass ein Minderjähriger Opfer einer im 65 Z 1 lit. a bezeichneten Tat geworden sein könnte, so haben Personen, denen die Pflege und Erziehung oder sonst die Sorge für die körperliche oder seelische Integrität des Minderjährigen obliegt, unverzüglich Anzeige an Kriminalpolizei oder Staatsanwaltschaft zu erstatten. (2) Keine Anzeige hat zu erstatten, wer 1. durch die Anzeige sich oder einen Angehörigen der Gefahr strafrechtlicher Verfolgung aussetzen würde, 2. von der Tat ausschließlich durch eine Mitteilung Kenntnis erhalten hat, die ihm in seiner Eigenschaft als Seelsorger anvertraut worden ist. Österreichs Kinder- und Jugendfachärzte anerkennen das Bemühen der Justiz um einen verbesserten Opferschutz, warnen jedoch vor einer gefährlichen Fehlentwicklung durch die Änderung der Anzeigenpflicht, denn: 1. Damit wird die bisherige Regelung, dass betreuende ÄrztInnen von einer absoluten Anzeigepflicht ausgenommen sind, außer Kraft gesetzt. Eine absolute Anzeigepflicht bei jedem Verdacht könnte aber aus Angst vor polizeilicher Verfolgung Angehörige in vielen Fällen davon abhalten, ihr verletztes Kind ärztlich untersuchen zu lassen! Dies könnte in gleicher Weise für tatsächlich misshandelte Kinder wie für Kinder nach Unfällen zutreffen! 2. Entsprechend der Novelle gilt die absolute Anzeigepflicht in jedem Verdachtsfall (!) auch für Laien, die über keine entsprechende Ausbildung verfügen. Wie sollen aber z.b. Kindergärtnerinnen ohne entsprechende Ausbildung erkennen können, ob ein Hämatom ( blauer Fleck ) verdächtig auf Misshandlung ist oder nicht, während ein erfahrener Kinderarzt an der Art und an der Lokalisation des Hämatoms sehr wohl einen belegbaren Verdacht oder sogar Gewissheit äußern kann. 3. Die ÖGKJ warnt in diesem Zusammenhang davor, das sinnvolle Bindeglied der Kinderschutzgruppen de facto auszuschalten. Derartige Kinderschutzgruppen sind an allen österreichischen Kinder- und Jugendabteilungen etabliert. Es handelt sich dabei um ein multidisziplinäres Team (u.a. bestehend aus ÄrztInnen, Diplomkrankenschwestern, LehrerInnen, PsychologInnen, Sozialarbeitern u.a.), welches nach bestem Wissen und Gewissen beurteilt ob bzw. wann eine Anzeige zum besten Wohl des Kindes ist. In der Praxis kann es durchaus gegen das Wohl des Kindes sein, wenn z.b. ein aus Überforderung der Eltern resultierender Klaps
3 grundsätzlich immer zur Anzeige gebracht werden muss. Es ist zu befürchten, dass in vielen Fällen aus dieser Kriminalisierung einer eher geringfügigen Misshandlung heraus sich der familiäre Konflikt erst entwickelt bzw. verstärkt und das Kind als an dieser Situation Schuldiger erst recht die Konsequenzen zu spüren bekommt. Das Kind wird in solchen Fällen diese Schuld oft auch subjektiv empfinden und sich davor hüten, sich in weiteren Fällen von (dann ev. schwerer) Misshandlung anderen anzuvertrauen! 4. Die vorgesehene Neuregelung würde unter Verzicht auf die Expertise der Kinderschutzgruppen - eine Umkehrung der sinnvollen Kette Verdacht Abklärung Anzeige Verfahren zur Reihenfolge Verdacht Anzeige Verfahren Abklärung bedeuten! 5. Es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass ein Verdacht, der nach der Neuregelung angezeigt werden muss, sich durchaus auch als unbegründet herausstellen kann. Was aber wird einer Familie angetan, wenn sich der Verdacht auf Misshandlung nicht bestätigt, aber vorher die Polizei das Kind aus Kindergarten/Schule und den Vater von der Arbeit holt? Bei derartigen Anzeigen kommt ein gerade diensthabender Polizist, der in vielen Fällen mit der speziellen Problematik nicht vertraut sein wird und die kindliche und familiäre Traumatisierung durchaus noch verstärken kann. 6. Durch die Verpflichtung zur Anzeige wäre das bisher vor dem Strafverfahren faktische Zuwarten (Betreuung des Kindes in einer Kinderschutzeinrichtung einer öffentlichen Krankenanstalt) nicht mehr möglich, sondern es soll nunmehr im Strafverfahren selbst die Möglichkeit geschaffen werden, bei Überwiegen des Opferinteresses mit der Fortführung des Verfahrens inne zuhalten. Hier wird der Opferschutzgedanke geradezu auf den Kopf gestellt. Statt die Einrichtung der Kinderschutzgruppen zu stärken, soll gleich ein Strafverfahren eingeleitet werden, dass dann mitunter für längstens 6 Monaten ausgesetzt werden kann. Es ist aber klar, dass nach erfolgter Anzeige der/die Betroffene ob begründet oder nicht längst als kriminell eingestuft wird. 7. Die ÖGKJ ist der Meinung dass die bisherigen Bestimmungen des 78 dem Kindeswohl besser entsprechen als die geplante Novelle mit der Ergänzung der absoluten Verpflichtung zur Anzeige in jedem Verdachtsfall ( 78a).
4 Die (ÖGKJ) lehnt eine derartige letztlich nicht dem Kindeswohl dienende Anlassgesetzgebung ab und sieht in der oben genannten Verschärfung der Anzeigepflicht kein geeignetes Mittel, um Kindesmisshandlung oder Kindesmissbrauch zu erschweren bzw. zu verhindern. Österreichs Kinder- und Jugendfachärzte fordern stattdessen bessere Aufklärung, verstärkte präventive Maßnahmen, regelmäßige ärztliche Untersuchungen aller Kinder, sowie eine Vernetzung aller mit Kinderschutz befassten Institutionen. 1. So wurden in den letzten Jahren zwar flächendeckend an den stationären Versorgungseinheiten für Kinder und Jugendliche dem Gesetz entsprechend hervorragend arbeitende Kinderschutzgruppen etabliert, aber leider wurden (etwa in Wien) die in diese Schutzgruppen eingebundenen SozialarbeiterInnen - wie es heißt aus Kostengründen - abgezogen. 2. Über die Grenzen eines Bundeslandes hinaus muss außerdem eine vernünftige Versorgung durch die Jugendwohlfahrt im Sinn eines Netzwerkes mit adäquatem Informationsaustausch erreicht werden. 3. Personell bessere Ausstattung der zuständigen Jugendwohlfahrt-Behörden, die in vielen Fällen wesentlich effizienter eingreifen und helfen können als etwa uniformierte Beamte der Exekutive, v.a. wenn diese über keine Spezialausbildung verfügen. 4. Die Einführung verpflichtender jährlicher Vorsorgeuntersuchungen im Rahmen der Mutter/Kind-Pass-Untersuchungen, die eine regelmäßige Kontrolle des körperlichen, geistigen und sozialen Zustandes von Kindern ermöglichen. Mit der Bitte um Veröffentlichung unserer Pressemitteilung in Ihrem Medium verbleiben wir mit freundlichen Grüßen,
5 Primar Univ.-Prof. Dr. Wilhelm Kaulfersch Präsident der LKH Klagenfurt MR Primar Dr. Olaf Arne Jürgenssen Mitglied der Arbeitsgruppe Ethik der KH Wiener Neustadt MR Dr. Dietmar Baumgartner Bundesfachgruppenobmann der FA für Wiener Neustadt Primar Univ.-Prof. Dr. Reinhold Kerbl 1.Sekretär der LKH Leoben-Eisenerz
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