Rede zur Erinnerung an einen 53 Jahre alten Mann

Transkript

1 Rede zur Erinnerung an einen 53 Jahre alten Mann Liebe Familienangehörige und Verwandte, liebe Freunde und Bekannte! Heute und in der kommenden Zeit sind Sie vermutlich in Gedanken häufig bei Ihrem Sohn, Bruder, Verwandten, Freund und Bekannten U. Sie erinnern sich an ihn. Sie sehen ihn vor sich - so, wie Sie ihn gekannt und geliebt haben. Wie er dieses oder jenes getan hat. Wie er sich gefreut hat. Wie er gelacht oder geweint hat. Wie er begeistert oder erschöpft gewesen ist. Wie er geredet oder auch geschwiegen hat Wenn wir heute, am Tag des Abschieds von U., einen Raum für die Bilder unserer Erinnerung öffnen, mögen wir uns fragen: Wer ist dieser Mann für mich gewesen? Was habe ich an ihm besonders geschätzt? Mit welchen seiner Wesenszüge kam ich nicht so gut klar? Wie ist unsere Beziehung, unser Miteinander gewesen? Wie gehe ich damit um, dass er jetzt nicht mehr da ist? Im Abschied von U. können wir Schritt für Schritt nachempfinden, was wir mit ihm verlieren. Es wird uns aber auch bewusst, was uns von ihm bleibt: gewissermaßen als Geschenk, das dieser originelle Mensch uns macht - durch die Spuren, die er in unserem Leben hinterlässt. Liebe Angehörige! Als ich am Sonntag bei Ihnen war, konnte ich spüren, wie sehr Sie alle - jeder auf eigene Weise mit U. verbunden sind. Wie Sie sich trotz aller Verschiedenheit im inneren und äußeren Leben und Erleben mit Ihrem Bruder und Schwager in einer Familie aufgehoben fühlen. Sie haben mir von U. erzählt. Es waren eine Menge ganz unterschiedlicher Eindrücke und Aussagen über diesen Menschen, den ich nicht gekannt habe. Aus all dem, was Sie erzählten, sind in meinem Inneren Bilder entstanden. Als ich dann nach Bielefeld zurückfuhr, fiel mir ein Lied ein, von dem ich glaube, dass es zu U. passt. Warum, weiß ich gar nicht so genau zu sagen! Vielleicht, weil sich darin Wehmut und Melancholie finden, auch eine gewisse Sehnsucht zum Ausdruck kommt. Zugleich schwingen in diesem bekannten Lied Staunen, Freude und Hoffnung mit: über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein, 1

2 alle Ängste, alle Sorgen, sagt man, blieben darunter verborgen; und dann würde, was uns groß und wichtig erscheint, plötzlich nichtig und klein So heißt es im Refrain. Die Sehnsucht nach Unbeschwertheit der Drang nach Freiheit der Wunsch, alle Sorgen und Ängste mögen einfach nicht mehr da sein Wie es ist, dies alles zu empfinden, kann vermutlich jeder von uns nachvollziehen. Der Wunsch frei und unbeschwert sein Leben zu führen ist umso verständlicher, wenn einem durch besondere Einschnitte im Leben klar wird, wie wenig Einfluss wir manchmal auf unseren geplanten Lebensweg, auf die eigenen Berufswünsche oder anderes mehr nehmen können. All diese Gedanken dürften U. nicht fremd gewesen sein. Am ist er in als jüngstes von Kindern geboren worden. Mir scheint, dass er von Anfang an sehr in seine Familie eingebunden gewesen ist - in diese Riege mit älteren Brüdern, älteren Schwester und Pflegebruder, die alle von ihrer Art gewiss sehr unterschiedlich sind. Dennoch eine Gemeinschaft! Wir machen alles zusammen. Das ist bei uns eben so! haben Sie, lieber, am Sonntag zu mir gesagt. Von seinem Äußeren her ist U. ziemlich schlank gewesen. Eigentlich könnte man auch dünn sagen. Nach dem Besuch der Schule hat er zunächst den Beruf des erlernt. Später seinen Meister gemacht. In studiert, einer Stadt, die ihm gut gefallen habe. Er sei angestellt gewesen. Die Firma habe Pleite gemacht. Sein beruflicher Ehrgeiz habe ihm nur wenig genützt. Er habe sich eben anders orientieren müssen. Wohl ein Einschnitt und Wendepunkt in seinem Leben... Nicht alles sei glatt verlaufen, irgendwann habe er für sich Frieden mit seinen Lebensumständen schließen können Mithilfe seiner Brüder habe er Aufgaben und Beschäftigungen gefunden, die ihn ausfüllten. Vielleicht war es U. auch nicht ganz unrecht, beruflich keinen Karriereweg zu beschreiten, sondern auf andere Weise zufrieden zu werden? In seiner freien Zeit waren vor allem: die Freunde er habe sich für die Formel I begeistern können Sauerbraten habe er geliebt und sehr gern Kuchen gebacken fast so etwas wie eine Leidenschaft wurde es für ihn, gemeinsam mit seinen Brüdern Gleitschirm zu fliegen. Ob nun auf Reisen in Marokko oder anderswo 2

3 auch das Fallschirmspringen Da ist es wieder, dieses Lebensgefühl: Sich frei wie ein Vogel zu fühlen Wind Nord/Ost, Startbahn null-drei Bis hier hör' ich die Motoren Wie ein Pfeil zieht sie vorbei Und es dröhnt in meinen Ohren Und der nasse Asphalt bebt Wie ein Schleier staubt der Regen Bis sie abhebt und sie schwebt Der Sonne entgegen U. sei von seinem Charakter her: eher still und ruhig gewesen zielstrebig, mit einem eigenen Standpunkt; den er jedoch keinesfalls habe durchboxen wollen ein empfindsamer & sensibler Mensch jemand, der zwar wohl nach Vielem auf der Suche war der jedoch auch die Dinge so annehmen konnte, wie sie kamen in manchem vermutlich lethargisch oder nicht genügend auf sich selber achtend; in dem Sinn, dass er nicht unbedingt so gelebt hat, wie es ihm gut getan hätte dennoch scheint er mit seinem Leben zufrieden gewesen zu sein Wesentlich dazu beigetragen hat vermutlich, dass Uwe Margis in seine FAMILIE eingebunden war, mit den Geschwistern Dinge unternommen hat. ein WIR-Mensch sei er gewesen, ein Familienmensch er habe sich begeistern können, habe mitgemacht manchmal hat er dazu vermutlich einen kleinen Anstoß gebraucht doch man habe ihn anstecken können, Leidenschaft in ihm wecken: fürs Motorrad fahren oder andere Dinge Ich seh' ihr noch lange nach Seh' sie die Wolken erklimmen Bis die Lichter nach und nach Ganz im Regengrau verschwimmen Meine Augen haben schon Jenen winz'gen Punkt verloren 3

4 Nur von fern' klingt monoton Das Summen der Motoren Wie es vermutlich seiner Wesensart entsprach, hat er für sich allein gelebt, nicht in einer Partnerschaft oder Ehe. Mag sein, dass auch eine zerbrochene Liebesbeziehung dazu beigetragen hat. Gewissenhaft und zuverlässig sei er gewesen, höflich und freundlich anderen gegenüber. Habe nicht geklagt, scheint auf keinen Fall anderen zur Last fallen wollen. introvertiert, wie er war, habe er alles mit sich abgemacht Für mich klang es danach, dass er sich selber zurückgenommen hat, vermutlich auch seine eignen Bedürfnisse oftmals zurückgestellt hat, um andern zu helfen, für Andre da zu sein. In einem Kondolenzbrief hieß es: U. sei auf eine sonderliche Art eigenwillig und eigensinnig. Ein bemerkenswerter Mensch. Hilfsbereit, fast selbstlos Vor einem Jahr im Dezember ist bei U. Krebs diagnostiziert worden. Er habe versucht dagegen anzugehen, zu kämpfen. Vom bis zum diesen Jahres war er in der Reha. Dort muss etwas geschehen sein: Vermutlich hat man ihm eröffnet, dass er unheilbar krank sei und bald sterben müsse Zwar habe U. seine innersten Gedanken nicht geäußert. Dennoch konnten Sie alle spüren, dass Ihr Bruder sich sehr in sein Inneres zurückzog, dass ihn vieles gedanklich beschäftigt hat. Das gesamte letzte Jahr hat er bei Ihnen, liebe, gelebt. Er habe oft einfach nur auf der Terrasse gesessen, in den Garten geschaut. Schön, wieder zu Hause zu sein! Das habe Ihr Bruder U. gesagt, als er aus der Reha wieder zu Ihnen ins Haus zurückkam, liebe... Die Hoffnung, dass es mit ihm noch einmal gut würde, scheint er nie ganz aufgegeben zu haben. Nachdem die Not- OP gut verlaufen war und er seine Geschwister noch gesprochen habe, hätte er gesagt: Ich bin dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen! Seinen Geburtstag am habe er noch erleben wollen. Das sei wohl so etwas wie eine innere Grenze für ihn gewesen; eine Zielmarke, die er noch erreichen wollte. Als Geburtstagsessen habe es Grünkohl gegeben. Obwohl U. ja eigentlich meinte, das sei viel zu viel Aufwand - Er habe Ihnen so wenig Mühe, wie nötig, bereiten wollen. Daher habe er gesagt: Mach doch Stippgrütze! Die ist schon fertig. Die brauchst Du nur noch in die Pfanne tun! Saure Gurken dazu und frisches Brot Aber dann gab es doch Grünkohl Kurz vor fünf Uhr, als Sie, liebe, Ihren Bruder verließen, da hätten Sie ihn nach der Uhrzeit gefragt. Er habe schmunzelnd, etwas frech, gesagt: Na, da oben ist doch die Uhr, Ulla! Es ist kurz vor Fünf!. Ihr Bruder habe sie angelächelt und gesagt: Grüß alle schön! 4

5 Das waren seine letzten Worte ihnen gegenüber. Das letzte Bild von ihm, das Sie in Ihrer Erinnerung tragen... Dann ist alles still, ich geh' Regen durchdringt meine Jacke Irgendjemand kocht Kaffee In der Luftaufsichtsbaracke In den Pfützen schwimmt Benzin Schillernd wie ein Regenbogen Wolken spiegeln sich darin Ich wär' gern mitgeflogen über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein, alle Ängste, alle Sorgen, sagt man, blieben darunter verborgen; und dann würde, was uns groß und wichtig erscheint, plötzlich nichtig und klein 5