Impfthemen in der Kontroverse
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- Justus Gerber
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1 Impfthemen in der Kontroverse J. Leidel 3. Nationale Impfkonferenz München 15. bis 16. Mai 2013
2 Mein heutiges Thema ist nicht die grundsätzliche Auseinandersetzung mit Impfgegnern oder Impfskeptikern, sondern die subtilere Kontroverse innerhalb einer scientific community, die das Impfen grundsätzlich befürwortet. Ich möchte dies an Kontroversen um drei STIKO- Empfehlungen beispielhaft darstellen: allgemeine Varizellenimpfung der Kinder; HPV-Impfung; Kontroversen um die Impfung gegen Influenza bei allen ab 60 Jahren.
3 Vorbemerkungen Vor einer Impfempfehlung steht die (nationale oder europäische) Zulassung der Impfstoffe. Dabei werden vor allem Wirksamkeit und Sicherheit geprüft. Es gibt zwei unterschiedliche Empfehlungen mit gesetzlicher Grundlage: die öffentlichen Impfempfehlungen der Länder ( 20 Abs. 3 IfSG) und die Empfehlungen der STIKO ( 20 Abs. 2 IfSG). Die öffentlichen Empfehlungen der Länder haben ihren Ursprung im BSeuchG und dienen zwei Zwecken: sie sind der Rat an die Bürgerinnen und Bürger, sich oder ihre Kinder (auch im öffentlichen Interesse) gegen bestimmte übertragbare Krankheiten impfen zu lassen und die Voraussetzung dafür, dass bei einem über das übliche Maß einer Impfreaktion hinausgehenden Gesundheitsschaden eine Entschädigung erfolgt.
4 Bedeutung der STIKO-Empfehlungen Die STIKO wurde 1972 am damaligen Bundesgesundheitsamt eingerichtet. Aufgabe: Beratung der Länder bei der Entscheidung, welche Impfungen öffentlich empfohlen werden sollten bezeichnete der BGH die Empfehlungen der STIKO als medizinischen Standard (mit Konsequenzen für Bürger und Ärzteschaft) wurden die Empfehlungen der STIKO zur Grundlage für die Schutzimpfungsrichtlinie des Gemeinsamen Bundesausschuss.
5 Werdegang einer STIKO-Empfehlung Ermittlung der Evidenz für bestimmte Forschungsfragen anhand systematischer Literaturrecherchen in Arbeitsgruppen mit wissenschaftlicher Unterstützung durch RKI Von der Evidenz zum Empfehlungsvorschlag nach (seit 2011) standardisiertem und publizierten Verfahren (GRADE) Ggf. Anhörung externer Experten, Erfassung des Vorgehens in vergleichbaren Staaten, Prüfung der Integrierbarkeit in bestehende Impfpläne Beschlussfassung Beteiligung betroffener Kreise : Länder, G-BA, wiss. Fachgesellschaften Erneute Befassung und Beschlussfassung Veröffentlichung der Empfehlungen sowie umfangreicher Begründungen im Epidemiologischen Bulletin (im Internet verfügbar).
6 Kontroverse um die Empfehlung einer generellen Varizellenimpfung für Kinder im 2. Lebensjahr und Jugendliche
7 Gründe für die Empfehlung Erhebliche Krankheitslast: ca Erkrankungen pro Jahr Komplikationsrate: 0,85% bis 5,7 % Hospitalisierungsrate: 2,5 bis 7 pro E (USA 6,2/ , Frankreich 5,9) Mortalität: 0,03 bis 0,05 je Personenjahre (UK 0,04 0,05, Frankreich 0,04, Italien 0,08); hohe soziale und ökonomische Belastung Gute Erfahrungen in den USA, wo die Varizellenimpfung seit 1996 empfohlen wird Impfziele: Reduktion der Morbidität Reduktion von Komplikationen und Hospitalisierungen Herdenimmunität zum Schutz von Säuglingen, Schwangeren und anderen Risikopersonen
8 Die wichtigsten Gründe für die Kritik Die Impfung sei nicht erforderlich, da die Varizellen in den allermeisten Fällen eine gut überwindbare Krankheit seien, Angaben über die Häufigkeit von Komplikationen seien übertrieben und aus Praxiserfahrung nicht nachvollziehbar; zur Zielerreichung nötige Impfraten seien unrealistisch, bei Ärzteschaft und Eltern sei Akzeptanz zu gering; das Risiko der Verschiebung der Krankheit in höhere Altersgruppen sei nicht verantwortbar; auch das Risiko vermehrter Zoster-Erkrankungen sei zu hoch.
9 Evaluation der Varizellen-Impfempfehlung EpiBull 1/2013 Impfziele bisher im Wesentlichen erreicht: Im AGV-Sentinel Rückgang der Erkrankungen um 85% Belege für verbesserte Herdenimmunität, Rückgang der Komplikationen im Sentinel um 93%, Rückgang der Hospitalisierungen bei den < 15-jährigen von 12 auf 3 pro in dieser Altersgruppe, KV-Daten: Impfbeteiligung stetig gestiegen (84,6% bzw. 60,2%) Noch ungelöste Probleme: Dauer der Immunität nach zwei Impfungen, Auswirkungen auf die Inzidenz des H. Zoster (Mehrzahl entsprechender Studien zeigt dies nicht), Verschiebung der Krankheitslast in höhere Altersgruppen (bisher nicht zu beobachten).
10 Fazit Die mit der Empfehlung verbundenen Impfziele wurden im Wesentlichen erreicht. Die am 29. März 2013 in Kraft getretene Meldepflicht für Windpocken wird die Datenlage verbessern. Es bedarf darüber hinaus weiterer Erhebungen und Studien (z. B. mathematischer Modellierungen) zur Klärung noch offener Fragen. Die wichtigste Maßnahme zur nachhaltigen Vermeidung einer Verschiebung der Krankheitslast in höhere Altersgruppen und zur Zunahme der Zoster-Inzidenz ist die weitere engagierte Empfehlung und Durchführung der Impfung. In 5 Jahren wird die STIKO ihre Empfehlung erneut evaluieren und ggf. anpassen.
11 Kontroverse um die Empfehlung der HPV-Impfung für Mädchen und junge Frauen von 12 bis 17 Jahren
12 STIKO-Empfehlung zur HPV- Impfung (2007) Die STIKO empfiehlt zur Reduktion der Krankheitslast durch Gebärmutterhalskrebs die Impfung aller Mädchen von 12 bis 17 Jahren. Nach Möglichkeit sollte die Impfung vor dem ersten Geschlechtsverkehr abgeschlossen sein. Die Frage zur Notwendigkeit einer eventuellen Wiederimpfung kann noch nicht beantwortet werden. Zum epidemiologischen Effekt der Impfung von Jungen und Männern auf die Erkrankungshäufigkeit bei Frauen liegen keine ausreichenden Daten vor. Ob auch Frauen jenseits des 17. Lebensjahres von der Impfung profitieren, ist nicht sicher bekannt.
13 Epidemiologische Grundlagen In Deutschland erkranken jährlich etwa Frauen, von denen ca sterben. Ein erster Erkrankungsgipfel liegt zwischen 35 und 55 Jahren. Das mittlere Erkrankungsalter beträgt 51 Jahre und liegt damit 18 Jahre unter dem für Krebs insgesamt.
14 Kritik Schon bald kam es zu ungewöhnlich heftiger Kritik an der HPV-Impfung allgemein und an der STIKO- Empfehlung im Besonderen. Zuerst äußerten sich mit Frauengesundheit und Frauenpolitik beschäftigte Organisationen sehr kritisch. Diese Kritik wurde politisch von Bündnis 90/Die Grünen aufgegriffen. Schließlich forderten im Dezember Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine Neubewertung der HPV-Impfung und ein Ende der irreführenden Informationen.
15 Wesentliche Inhalte der Kritik I voreilige Empfehlung vor Veröffentlichung relevanter Daten, (der STIKO standen auch noch unveröffentlichte Daten aus dem Zulassungsverfahren zur Verfügung) aggressive Vermarktung, hoher Preis (das trifft m. E. zu), irreführende Aussage, es handele sich um eine Impfung gegen Gebärmutterhalskrebs (kann man sich streiten) Gebärmutterhalskrebs sei sehr selten, daher sei es falsch, hier Ressourcen zu verschwenden, die an anderer Stelle sinnvoller ausgegeben werden sollten (möchte ich angesichts Todesfällen p. a. nicht kommentieren), es fehle eine Langzeiterhebung möglicher schwerer Nebenwirkungen (das ist ein grundsätzliches Problem; bei der Zulassung der HPV-Impfstoffe wurden etwa sechsmal so viele Daten hierzu erhoben wie üblich)
16 Inhalte der Kritik II Dauer des etwaigen Schutzes, Zeitpunkt einer notwendigen Auffrischimpfung seien nicht bekannt (das traf damals zu, jedoch wurde bald deutlich, dass eine langdauernde und boosterfähige Immunität induziert wird), Grad der Wirksamkeit werde inkorrekt dargestellt: Statt der immer wieder postulierten 70 % betrage der Schutz tatsächlich nur 7,8 bis 46,1 % (das ist nicht zutreffend), Endpunkt bei den Wirksamkeitsstudien war nicht das Zervixkarzinom, sondern dessen höhergradige Vorstufen (dies war von Anfang an so vorgesehen), empfohlen wird die Impfung für die 12- bis 17-jährigen, Wirksamkeitsstudien liegen aber erst für die 15- bis 17- jährigen vor (die Studien umfassten die Altersgruppen 9 bis 45 Jahre, allerdings bei den 9 15 jährigen nur Immunantwort).
17 Future II Endpunkt Läsionen durch HPV 16 oder 18 Verumgruppe (n= ) Plcebogruppe (n= ) Per-Protocol-Population 1 (5.305) 42 (5.260) Intention-to- Treat-Population Wirksamkeit (Konfidenzinterv.) 98 % (86 100) Läsionen durch HPV 16 oder (6.087) 148 (6.080) 44 % (26-58) Läsionen durch jegliche HPV- Typen 219 (6.087) 266 (6.080) 17 % (1 31) The Future II Study Group: NEJM; 2007; 356;
18 Kontroverse um die Empfehlung der Grippeschutzimpfung für alle ab 60 Jahren
19 Erhebliche Krankheitslast der Influenza RKI: saisonale Influenza verursacht in Deutschland jährlich 1 bis 5 Millionen zusätzliche Arztkontakte, bis zusätzliche Hospitalisierungen und 0 bis ca (1995/96) Exzesstodesfälle, die mittels statistischer Methoden geschätzt werden müssen. Influenzawelle 2012/2013: bis insgesamt laborbestätigte Erkrankungen (16% hospitalisiert) und 183 bestätigte Todesfälle gemeldet.
20 Wichtigste Präventionsmaßnahme ist die Impfung, aber es gibt Probleme: Antigendrift (und Antigenshift ) durch Veränderung wichtiger Glykoproteine, kontroverse Diskussion über die Effektivität der Impfung auf individuellem und Bevölkerungsniveau, Diskussionen um die Zielgruppen für die Impfung, unzureichende Akzeptanz der Impfung, überwiegend aus Unkenntnis aber auch durch die verwirrenden öffentlichen Kontroversen. Aber: Die Impfung bleibt wichtig, es gibt trotz Händewaschen und Hustenetikette keine überlegene Alternative.
21 Wirksamkeit und Nutzen Wirksamkeit der Impfung auf individueller Ebene (Verhinderung der Krankheit bei geimpften Personen; Efficacy ) und Nutzen auf Bevölkerungsebene (Rückgang der Erkrankung in einer geimpften Population; Effectiveness) hängen u. a. ab von: Übereinstimmung zwischen Impfstoff und zirkulierenden Viren (Matching), Immunkompetenz (und Alter) des Impflings, Immunogenität des Impfstoffs, Applikationsform (I. m., i. d., intranasal), Untersuchtem Endpunkt (Immunantwort, laborbestätigte Influenza, ILI, ARI, Pneumonie, Hospitalisierung, Todesfälle).
22 Die STIKO dankt für Ihre Aufmerksamkeit!
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