Am Ende kam Tag 1 Tag 5912 Tag 5913
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- Ruth Förstner
- vor 6 Jahren
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2 Am Ende kam Tag 1 Tag 5912 Langsam öffne ich meine Augen, um mich orientieren zu können. Mein Name ist Finn, zumindest für heute. Es mag sich suspekt anhören, doch ich lebe jeden Tag in einem anderen Körper, jeden Tag lebe ich das Leben eines mir völlig Unbekannten. Ich weiß nicht genau, wer oder wohl eher was ich bin. Bereits als ich klein war, habe ich gemerkt, dass ich nicht wie jeder andere bin, dass es nicht normal ist, jeden Tag jemand anders zu sein, jeden Tag andere Familien zu haben. Das Einzige, das mir über die Jahre bewusst geworden ist, ist, dass ich nur in Körpern von Jungen und Mädchen lebe, die etwa in meinem Alter sind und in Deutschland wohnen. Und da heute Montag ist und ich bzw. Finn erst 16 ist, stehe ich auf und mache mich fertig, um für ihn in die Schule zu gehen, um sein Leben für den Tag seiner Abwesenheit fortzuführen. Da ich auf das Gedächtnis desjenigen, dessen Körper ich für den Tag bewohne, zurückgreifen kann, kenne ich Finns Tagesabläufe genau. So weiß ich, wo ich wann hin muss, wer meine Freunde sind, wen ich besser ignorieren sollte, und der Tag geht schnell und ohne besondere Ereignisse vorbei. Abends liege ich müde im Bett. Tschüss Finn, sage ich leise, bevor ich einschlafe. Tag 5913 Wer war ich gestern? Mit diesem Gedanken wache ich im Körper von Maren auf. Oft kann ich mich nicht an die Körper erinnern, in denen ich mich aufgehalten habe. Das sind einfach zu viele und wenn nichts Besonderes passiert, kann es sein, dass ich Gedächtnislücken von Tagen, Wochen oder sogar Monaten habe. Maren muss heute in die Schule, doch schnell merke ich, dass sich ihr Körper dagegen wehrt. Trotz des Widerstandes mache ich mich fertig und fahre mit dem Bus zur Schule. Dort angekommen merke ich schnell, warum Maren nicht hier sein will. Sie wird gemobbt. In ihrem Gedächtnis finde ich keine Erinnerungen an Freunde, also werde ich den Tag alleine verbringen müssen. Das ist aber leichter gesagt als getan. Ständig sprechen mich Mitschüler an, um Maren zu beleidigen oder ihr blöde Streiche zu spielen. Am liebsten würde ich heulend auf die Toilette rennen, doch entscheide ich mich dazu, alles zu ignorieren, was um mich passiert. Trotzdem fühle ich mich die ganze Zeit über beobachtet und verfolgt. Maren scheint täglich von dieser Situation eingeschüchtert zu sein, und so bin ich es auch. In ihren Erinnerungen verbringt sie jede freie Minute in der Bibliothek, ihrem liebsten Ort in der Schule. Nicht um zu lesen, sondern weil ihre Mobber sich nicht
3 hineintrauen. Die Bibliothek ist oft leer, da jeder etwas Angst vor der Bibliothekarin hat, die wegen jeder Kleinigkeit direkt wie von einer Furie besessen schreit. So mache ich mich auf den Weg und merke schnell, dass ich am liebsten den ganzen Tag hier verbringen würde. Hier bin ich sicher, hier fühle mich wohl. Alleine und weg von den Problemen, die eigentlich Maren gehören, doch auch meine Gedanken einnehmen. Wie Maren möchte ich einfach nur, dass der Tag schnell vorbeigeht. Es ist schon nicht leicht, solch eine Situation für einen Tag ertragen zu müssen, doch ich möchte mir nicht vorstellen, wie es sich für Maren anfühlt, diese Schikanen jeden Tag durchmachen zu müssen. Aber auch der schlimmste Tag geht vorbei und so kann ich wieder heim, wo schon das nächste Problem auf mich wartet. Während ich mich in Marens Zimmer eingeschlossen habe, streiten ihre Eltern den ganzen Nachmittag, was noch schlimmer ist als die Schikanen die ich in der Schule ertragen musste. Schreie dringen durch die Wände und kein Ende ist in Sicht. Ich schalte den CD-Player an, drehe die Musik ganz laut und blende alles aus, was um mich passiert. Bald wird der Tag vorbei sein, auf diesen Gedanken stütze ich mich, um mich nicht von allem Bösen, das gerade in meinem Kopf vorgeht einnehmen zu lassen. Und so liege ich da ohne mich zu bewegen, ich versuche Positives zu sehen, verzweifelnd und hoffend, dass sich Marens Leben bessern wird. Der einzige glückliche Moment, den ich an diesem Tag erlebe, ist, als ich endlich einschlafe. Tag 5930 Ich wache auf, als mich eine Frau in einer anderen Sprache weckt. Über die Jahre war ich in vielen Körpern, deren Muttersprache nicht Deutsch ist und die somit zuhause eine andere Sprache sprechen. Auf Sprachen kann ich nicht zurückgreifen, so musste ich einige lernen. Doch die, die Rajeshs Mutter mit ihm spricht, ist mir unbekannt. Dank Rajeshs Erinnerungen weiß ich jedoch, dass seine Familie erst vor kurzem von Indien nach Deutschland gezogen ist und die deutsche Sprache noch nicht beherrscht. Ich frühstücke mit Rajeshs Geschwistern und seinen Eltern, anschließend fährt sein Vater mich in die Schule. In der Schule versteht Rajesh kaum etwas. Ihm ist nicht klar, wann er überhaupt in welchem Fach sitzt und was die Lehrer von ihm wollen, wenn sie ihn ansprechen. Doch trotz dieser Sprachbarriere helfen ihm seine Mitschüler weiter. Sie versuchen ihm auf irgendeine Weise klarzumachen, was gerade vor sich geht. Gestik, Deutsch und Google Übersetzer sind bei der Verständigung sehr große Hilfen. Durch die Toleranz seiner Mitschüler fühlt er sich in dem ihm neuen Land wohl. Die Freude, die durch die neuen
4 Freundschaften und die Akzeptanz in seinem Körper entsteht, breitet sich auch auf mich aus. Jeden Tag versucht Rajesh sein Deutsch zu verbessern, um in diesem Land besser klarzukommen, und so geht es nach der Schule direkt weiter mit dem Deutschlernen. Leider kann ich ihm hierbei nicht helfen, doch ich denke, er wird die Sprache auch allein lernen können, wenn er sich weiterhin so anstrengt. Abends lege ich Notizen, die ich in der Schule und während des Lernens gemacht habe, auf Rajeshs Schreibtisch und lege mich in sein Bett. Wegen Tagen wie heute bin ich froh, die Welt und die Menschen, die sie bewohnen, aus verschiedenen Perspektiven betrachten zu können. Oft stelle ich mir vor, wie es sein würde, nur einen Blickwinkel zu haben, wie es wäre, nur in einem Körper zu leben. Ich würde gerne eine eigene Familie haben, eigene Freunde, einen eigenen Geburtstag, einfach nur ein eigenes Leben, in dem ich sein kann, wie ich will. Aber mir ist es nicht gegönnt und so sehe ich nur das Positive in meinem Schicksal. Ich bin zufrieden damit, wie ich bin. Tag 5945 An diesem Samstag wache ich im Körper von David auf. Direkt greife ich auf sein Gedächtnis zurück und so weiß ich, dass er heute nichts vorhat, außer einer Party am Abend. Ich mag keine Partys. Es erfordert viel Übung, so auf Erinnerungen zurückzugreifen, dass man sich wie die Person, deren Körper man besetzt, verhält. Das ist schon in der Schule schwer, doch auf Partys wird das Ganze extrem. Am liebsten würde ich zuhause bleiben, doch ich merke, dass die Party wichtig für David ist. Mittags kommen einige von Davids Freunden, die später mit ihm zusammen zur Party fahren, zu ihm, um etwas vorzuglühen. Da die Party weiter weg stattfindet, müssen sie bereits sehr früh losfahren. Alle sind angetrunken oder schon betrunken und doch mache ich mir keine Sorgen, als ich in das Auto einsteige, was sich bereits wenig später als Fehler erweist. Tag 1 Als ich zu mir komme, stehe ich in einem Krankenzimmer. Was ist passiert? Warum bin ich hier? Als ich Davids Körper auf dem Bett vor mir liegen sehe, fällt mir wieder ein, was passiert ist. Davids Freund war betrunken und ist mit dem Auto gegen einen Baum gefahren. Aber warum ist nur er verletzt und nicht auch ich? David vor mir liegen zu sehen ist komisch. Das ist mir noch nie passiert, noch nie stand ich
5 vor einem Körper, in dem ich davor schon war oder ich konnte mich einfach nur nicht an den Körper erinnern. Erst dann wird mir bewusst, dass ich den Körper gewechselt haben muss, und das, obwohl es erst Mittag ist. Ist er etwa tot? Aber nein, auf dem Elektrokardiogramm, das an seinen Körper angeschlossen ist, wird noch sein Herzschlag angezeigt. Als ich die Sorge um David abstreifen kann und auf das Gedächtnis des Körpers, in dem ich mich befinde, zurückgreifen will, finde ich nur meine eigenen Erinnerungen vor. Das ist unmöglich oder etwa doch nicht? Langsam gehe ich vor den Spiegel, gegenüber Davids Bett. Und da stehe ich. Nicht in irgendeinem Körper, sondern in meinem eigenen. Nie habe ich mir einen eigenen Körper vorgestellt, da ich es für unmöglich hielt, aus dem Kreislauf des Körperwechsels auszutreten. Doch jetzt stehe ich tatsächlich vor ihm, vor mir. Ich möchte jeden Zentimeter von mir betrachten, meinen Körper kennenlernen, aber plötzlich geht die Tür neben mir auf und Krankenschwestern rennen in den Raum. Erst jetzt bemerke ich das laute Piepsen des EKGs und sehe, dass Davids Herz aufgehört hat zu schlagen. Die Krankenschwestern versuchen ihn wiederzubeleben. Soll ich ihnen sagen, dass es keinen Zweck haben wird? Dass sein Körper praktisch leer ist? Doch dann zeigt der Monitor wieder einen Herzschlag an und ich höre die Krankenschwestern aufatmen. Wie kann das sein? Ist seine eigene Seele zurückgekehrt, jetzt wo der Körper wieder frei ist? Oder war sie erst gar nicht weg. Immer dachte ich, ich würde einen leeren Körper für einen Tag besetzen und habe mir nie Gedanken darüber gemacht, ob ich den Körper nur teile. Mit diesen Gedanken stehe ich da, als sich die Krankenschwestern in meine Richtung umdrehen. Panik ergreift mich. Was soll ich sagen, wenn sie fragen, wer ich bin und was ich hier mache? Ich spiele schon mit dem Gedanken wegzurennen, doch die Krankenschwestern laufen einfach an mir vorbei, als könnten sie mich nicht sehen. Verwirrt schaue ich ihnen nach, bin ich jetzt etwa immer noch kein Mensch? Darüber möchte ich mir aber noch keine Gedanken machen. Mein Blick richtet sich auf David und ich gehe auf ihn zu. Ich lege meine Hand auf seinen Arm. Danke für die Erlösung, sage ich. Selbst wenn er nichts dafür kann, bin ich doch froh, nun nicht mehr täglich den Körper wechseln und mich an andere anpassen zu müssen. Endlich bin ich diese Last los und kann herausfinden, wer ich eigentlich bin. Als ich mich von David in Richtung Tür abwende, um zu gehen, werde ich geblendet. Wo die Tür war, ist nun ein grelles Licht, in dem eine Frau in Weiß steht. Ich gehe auf sie zu: Mama?
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