Die faschistischen Züge der Sektenjagd

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Transkript:

Die faschistischen Züge der Sektenjagd von Professor Dr. iur. Martin Kriele Erschienen in "Zeit-Fragen", Nr. 52. vom 01.11.98, siehe auch www.zeit-fragen.ch Der bekannte Staatsrechtler Professor Martin Kriele hat in einer Presseerklärung vom 24. August 1998 gesagt, die hysterische Verfolgung von religiösen und weltanschaulichen Minderheiten in Deutschland habe beinahe schon faschistische Züge angenommen. Zeit-Fragen hat ihn gefragt, ob er das näher erläutern könne. Seine Antwort macht deutlich, dass die prägnante Wortwahl nicht übertrieben ist. Die Sektenverfolgung zeigt tatsächlich beängstigende Tendenzen. Ich werfe den Sektenjägern nicht vor, dass sie Faschisten seien. Die meisten sind in ihrer politischen Orientierung eher dem breiten Spektrum der Sozialdemokratie zuzuordnen. Es geht um bestimmte Elemente ihres Denkens und Agierens, die stark an die dreissiger Jahre erinnern. 1. Instrumentalisierung der Kirchen Die kirchlichen Sektenbeauftragten instrumentalisieren die Kirchen im Dienst einer Ideologie der «Moderne» oder der sogenannten «modernen Weltanschauung». In ihren Kampforganen, z. B. dem «Berliner Dialog» oder dem Materialdienst der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen beziehen sie sich nicht auf Jesus Christus - der Name kommt gar nicht vor -, sondern auf beliebige Positionen, die gerade im Schwange sind. Die «Evangelische Bekenntnisbewegung» gehört zu den von ihnen angegriffenen und herabgesetzten Gruppen, ebenso wie andere evangelische und katholische Gemeinschaften, die noch an Christus und seine Auferstehung glauben. Diesen heidnischen Hintergrund haben sie mit den faschistischen sogenannten «Deutschen Christen» gemeinsam. Gegen diese richtete sich die Barmer Theologische Erklärung vom 30. Mai 1934: Sie weist die Einordnung der kirchlichen Verkündigung in andere weltanschauliche und politische Zusammenhänge zurück. Sie meint dies generell und grundsätzlich und trifft damit auch unseren heutigen kirchlichen Sektenjäger. 2. Aggressivität gegen Minderheiten Ein typisch faschistisches Element ist die Aggressivität gegen wehrlose Minderheiten. Diesmal sind es nicht Juden, Kommunisten, Zigeuner, wohl aber «Sekten», die - wie z. B. Jehovas Zeugen - auch schon im Nazireich zu den Verfolgten gehörten. Die Sektenjäger sind bis zur Wut gereizt, wenn sie Menschen mit Überzeugungen begegnen, die vom vorherrschenden Trend abweichen. Das Ausnutzen ihrer Wehrlosigkeit, die Verächtlichmachung, das Höhnen und Spotten, das Bestreben, schon Schüler zu Ausgrenzung und Ablehnung zu erziehen, der völlige Mangel an menschlichem Respekt, kurz: die Intoleranz und Inhumanität sind Ausdruck des Machtgenusses, der aus der Zugehörigkeit zum herrschenden Gross-Trend entspringt. 3. Ausländerfeindlichkeit Damit verbunden ist eine subtile Ausländerfeindlichkeit, die sich zwar nicht gegen Ausländer im Sinne der Staatsangehörigkeit oder Abkunft richtet, wohl aber gegen geistige Strömungen, die ihren Ursprung bei fernen Völkern haben, z. B. bei Indern, Chinesen, Tibetanern, Indianern. Nur ein Beispiel: In Neustadt-Rettin nahe Lübeck hat sich eine Yoga-Gruppe, die sich an dem indischen Philosophen Sri Aurobindo orientiert, ein Heim, «Schöpferisches Zentrum Oase», geschaffen. Es wurde Ziel eines Brandanschlags, bei dem die Bewohner beinahe ums Leben kamen. Die Tat ist von der Kriminalpolizei noch nicht aufgeklärt, vorausgegangen aber war eine wütende Hetze der Kieler und Lübecker Sektenbeauftragten

gegen diese fremde Einrichtung, so dass ein Kausalzusammenhang höchstwahrscheinlich ist. Entlarvend ist auch die Perversion der Sprache: Während Ausländerbeauftragte die Aufgabe haben, Ausländer in Schutz zu nehmen, haben Sektenbeauftragte die Aufgabe, Rufmordkampagnen gegen Sekten zu initiieren und zu organisieren. 4. Ressentiment gegen geistigen Rang Diese Kampagnen richten sich keineswegs nur gegen Menschen, die eher schlichten Geistes sind, wie z. B. Mun oder Baghwan, sondern auch und sogar besonders intensiv gegen bedeutende, profunde Denker, um die sich Freunde und Schüler scharen, und zwar gerade dann, wenn sie tiefgründig - aber eben «fremd» - argumentieren, wie z. B. Rudolf Steiner oder zurzeit der Dalai Lama. Zunehmend werden auch perfide Kampagnen gegen hochangesehene und erfolgreiche Psychologen und Psychotherapeuten entfacht, z. B. gegen Bert Hellinger, Karl-Heinz Wolfgang, Sepp Schleicher, die die Sektenbeauftragten von ihrem Amt her eigentlich gar nichts angehen. Was hier vor allem zum Ausdruck kommt, ist - neben den Konkurrenzinteressen von kirchlich angestellten Psychologen - das Ressentiment gegen subtile und differenzierte Geistigkeit, zumal wenn es sich mit Herzensgüte und sozialem Engagement verbindet. Unverkennbar ist die Ähnlichkeit mit den SA-Kampagnen gegen «die Intellektuellen», die viele bedeutende Gelehrte, Dichter, Denker und Psychotherapeuten, auch wenn sie nicht Juden waren, aus Deutschland vertrieben. 5. Rechtsfremdheit Ein weiterer faschistischer Zug der Sektenjagd liegt in ihrer Rechtsfremdheit, d. h. in zahllosen Versuchen, die die Minderheiten schützenden Rechtsregeln zu durchlöchern, zu umgehen oder zu verletzen. Eine Reihe von Beispielen finden Sie in meinem Aufsatz «Die rechtspolitischen Empfehlungen der Sektenkommission» in der Zeitschrift für Rechtspolitik vom September 1998, S. 349ff., etwa die Missachtung - oder, wie in Schleswig-Holstein - die Durchbrechung der Datenschutzgesetze, die Indoktrination und Manipulation von Richtern an der Richterakademie usw. Ein weiteres Beispiel: In Berlin gibt es die charismatische «Gemeinde auf dem Weg», in der viele von der offiziellen Kirche enttäuschte evangelische Christen Gottesdienste feiern. Vor mir liegen Abschriften von Tonbandaufzeichnungen, die bei vertraulichen Gemeindestunden und Sitzungen der Gemeindeleitung gemacht wurden und die unter den Sektenjägern zirkulieren: Diese müssen dort Wanzen installiert haben. Auf einem der Protokolle, in dem über intime Details eines Gemeindemitglieds geredet wird, ist vermerkt: «Name ist der Sektenbeauftragten von Berlin, Fr. Ruehle, bekannt.» Eine Sitzung, in der es um Finanzfragen ging, leitete Pastor Wolfhard Margies mit den Worten ein: «Ich meine, dass wir unter uns sein sollten und dass niemand, der nicht Mitglied der Gemeinde ist, hierbleiben sollte. Bitte, ich meine es diesmal ziemlich deutlich.» Man kann sich das klammheimliche Vergnügen der Lauscher vorstellen, die den Text unter die Leute brachten. Die Indizien lassen den Verdacht aufkommen, dass eine Behörde des Berliner Senats so mit Methoden der Gestapo und der Stasi agiert haben könnte. 6. Diffamierender Stil Auffallend ist ferner der aggressive, diffamierende, oftmals geradezu hysterische Stil der Sektenjagd, der dem Stil der Nazipresse durchaus vergleichbar ist. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat den Ehrenschutz zugunsten der Meinungs- und Pressefreiheit soweit zurückgenommen, dass von Klagen wegen Verleumdung und übler Nachrede in der Regel abzuraten ist (Eine Darstellung der Rechtslage: Kriele, NJW 1994, 1897 ff.). Wer klagt, riskiert ein Urteil, das besagt: die angegriffenen Äusserungen seien mit Rücksicht auf die Meinungs- und Wertungsfreiheit gerade noch zulässig. Alsdann verbreiten die Sektenjäger:

«XY, über den man laut Urteil vom... folgendes sagen darf:...». Der rechtsunkundige Leser meint dann, das Gericht habe die Aussage überprüft und bestätigt. Vor mir liegt ein Rundschreiben des Kirchenrates der EKD vom 30. Mai 1996, das die evangelischen Sektenbeauftragten ausdrücklich ermuntert, «guten Mutes» den Spielraum der «Meinungsfreiheit» voll auszuschöpfen, die Kirche komme für alle etwaigen Anwalts- und Gerichtskosten auf. Es erläutert die Rechtslage so: Die Meinungsfreiheit geht «sehr weit und lässt sogar zugespitzte und pointiert vorgetragene Äusserungen zu». Tatsachenbehauptungen «sind als widerrechtlich anzusehen, wenn es sich erwiesenermassen um unwahre Tatsachenbehauptungen handelt». Das kann nur als Aufforderung verstanden werden, vor falschen Tatsachenbehauptungen nicht zurückzuschrecken, wenn der Gegner ihre Unwahrheit nicht beweisen kann. So kann man sich z. B. auf anonyme «Aussteiger» oder sonstige persönliche Feinde des Gegners mit der Formel berufen: «Es wird berichtet», oder diese sogar über die Medien anonym Lügen verbreiten lassen, weil sich die Medien alsdann auf Informantenschutz berufen können und eine Aufklärung somit unmöglich ist. Das Rundschreiben kann man nur als Aufforderung an die Sektenbeauftragten verstehen, in ihren Diffamierungskampagnen bis an die äusserste Grenze des Zulässigen zu gehen und sorglos das Risiko einzugehen, dass diese Grenze überschritten werden könnte. Die Bürger meinen, was kirchliche Beauftragte in Ausübung ihres Amtes verbreiten, sei verlässlich: «Die Kirche lügt nicht.» Dieses Vertrauen in die religiöse und moralische Integrität der Kirchen wird ohne Scham ausgenutzt, um arglose Bürger um so wirksamer irrezuführen. Die Kirchenleitungen scheinen daran keinen Anstoss zu nehmen; jedenfalls ist dienstaufsichtliches Einschreiten bisher nicht bekannt geworden. 7. Intellektuelle Primitivität Ein weiterer typisch faschistischer Zug ist, dass sich tückische Schläue mit intellektueller Primitivität verbindet. An die Stelle ernsthafter und respektvoller Auseinandersetzung mit religiösen Inhalten tritt die Beschimpfung der Gläubigen, z. B. als «Fundamentalisten» - um sie in die Nähe der wissenschaftsfeindlichen amerikanischen Bibelfundamentalisten oder der islamischen Terroristen zu rücken -, oder als «politisch rechtsstehend», «konservativ», «traditionalistisch», «antikommunistisch», «unkritisch», «Ethik-orientiert» usw. Damit gelten sie als «erledigt» wie früher durch das Label «jüdisch-bolschewistisch», so dass sich intellektuelle Anstrengungen erübrigen. Ein Beispiel bieten die Arbeitsblätter «Sekten» aus dem Klett-Verlag 1998, S. 45ff. Die Primitivität tritt auch in der Auseinandersetzung mit Kritikern der Sektenjäger zu Tage: Kritiker werden ohne Eingehen auf ihre Argumente einfach persönlich angegriffen. Vor allem heisst es, sie seien Sympathisanten der jeweils zur Diskussion stehenden Sekte. Zum Beispiel wurde einem katholischen CSU-Mitglied, der sich in seiner Eigenschaft als Universitätsprofessor für die Religionsfreiheit auch der Mun-Sekte aussprach, unterstellt, ein Mun-Anhänger zu sein; auf diese falsche Denunziation hin wurde er sogar vom bayerischen Wissenschaftsminister dienstlich gerügt. Reicht eine solche Unterstellung nicht hin, um den Kritiker auszuschalten, so wird er nach dem McCarthyistischen Modell «guilt by association» in diskreditierende Zusammenhänge gebracht: zum Beispiel, er habe in diesem Verlag oder jener Zeitschrift publiziert, wo auch XY etwas veröffentlicht habe, dem er folglich nahestehe - und dergleichen Unfug mehr. Mitunter werden lange Assoziationsketten aufgebaut. So wurde z. B. dem Turiner Religionswissenschaftler Professor Massimo Introvigne, der gewagt hatte, die Sektenjagd zu kritisieren - deutsch: «Schluss mit den Sekten», Diagonal Verlag Marburg 1998 - folgendes

angehängt: Er gehöre einer christdemokratischen Splittergruppe an, die gegen Abtreibung, Drogen und Sozialismus sei, und die folglich der internationalen Organisation «Tradition, family and property» nahestehe; diese habe «vermutlich» Beziehungen zur Mun-Sekte und zur freimaurerischen Loge P2, und diese habe bei Staatsstreichen und Todesschwadronen in Südamerika «im Hintergrund» gestanden. - Professor Introvigne ist ein durch und durch liberaler Katholik und ein Gelehrter von höchstem internationalem Ansehen, der aus grundsätzlichen Erwägungen für Religionsfreiheit eintritt. Ich habe nicht geprüft, wer alles schon in Zeit-Fragen zu Wort gekommen ist, wen diese Autoren kennen und mit wem die Bekannten ihrerseits einmal in Verbindung gestanden haben mögen, und bin mir des Risikos bewusst: «guilt by association» lässt sich immer irgendwie konstruieren. 8. Ängste des Umfelds Wer in die Schusslinie der Sektenjäger geraten ist, macht die Erfahrung, dass sein Umfeld von Angst wie gelähmt ist: Freunde, Nachbarn, Geschäftspartner, der Verein, die Partei, die Gemeinde: alle fürchten, sie könnten in die Rufmordkampagnen einbezogen werden, und wenden sich ab - so wie man in der Nazizeit «seinen» Juden nicht mehr kannte, mit dem man zuvor gute persönliche oder berufliche Kontakte pflegte. Verlobungen werden gelöst, Verträge gekündigt, behördliche Genehmigungen verweigert, Zusagen zurückgezogen, Steuerbescheide neuerlich überprüft, Gemeinnützigkeitsanerkennungen widerrufen, Veröffentlichungen von Inseraten verweigert, anwaltliche Rechtsvertretungen abgelehnt usw. 9. Erpresste Anbiederei Ein typisches Symptom für faschistischen Terror ist es, dass auch Mitbetroffene in Distanz zu anderen «Sekten» gehen und sich an der Kampagne gegen sie beteiligen, in der Hoffnung, bei den Sektenjägern gut Wetter zu machen. Ein Beispiel: Die Anthroposophen wurden von der Enquête-Kommission «Sogenannte Sekten und Psychogruppen» im Zwischenbericht übel angegriffen und auch im Endbericht noch diskreditierend erwähnt; doch ihre Zeitschrift «Novalis» reiht sich in die Reihe der Sektenjäger ein, empfiehlt deren «Literatur», macht sich deren Hetze gegen Professor Introvigne, den derzeit wirkungsvollsten Verteidiger der Geistesfreiheit, zu eigen und greift ihn wie folgt an: «Sektenkritiker weisen darauf hin, dass Introvigne immer wieder einige sogenannte Sekten in Schutz nimmt. Die gemeinsame weit rechts stehende politische Linie dürfte hier verbindender wirken als verschiedene religiöse Überzeugungen.» (Heft 11, 1998, S. 38) Durch solche Anbiederei wird man freilich die Angriffe der Sektenjäger nur verzögern, auf Dauer aber kaum abwenden können. Denn, wie das Sprichwort sagt: Wer mit den Wölfen heult, wird etwas später gefressen. 10. Konformität und Mitläufertum Typisch faschistisch ist auch das Streben, Gruppen zu spalten, den kleineren Teil zu isolieren und den grösseren zur Distanzierung von ihm zu bestimmen. Zum Beispiel wurde der VPM Opfer einer Kampagne, weil er CDU-Positionen in der Drogen- und Bildungspolitik mit besonderer Vehemenz verfocht; daraufhin beteiligten sich einige CDU- und CSU-Politiker an dieser Kampagne. Ihre Stiftungen luden den Hauptverfolger zu Vorträgen ein, und der katholische Sektenbeauftragte Gasper sekundierte ihm wider besseres Wissen mit dem - mir gegenüber geäusserten - Argument: «Ich kann doch meinen evangelischen Kollegen nicht im Regen stehen lassen.» Die Junge Union beteiligte sich mit einer Broschüre «In-Sekten - nein danke», deren Titelblatt Insekten zeigt, die mit einer Fliegenklatsche erschlagen werden. Dass ausgerechnet die Junge Union das Tabu der Ungeziefer- und Säuberungsmetaphorik durchbrach, das selbst die wüstesten Sektenhetzer noch respektiert hatten, zeigt wieder einmal, welchen Sog zum Mitlaufen, ja Überbieten Diffamierungskampagnen erzeugen.

Seitdem ich - gemeinsam mit anderen Universitätsprofessoren - die Sektenjagd in Deutschland öffentlich kritisiert habe, gingen mir von vielen Seiten erschütternde Berichte über fast unglaubliche Vorgänge zu. Unschuldige Gottsucher - ernsthafte, ehrfürchtige, betende, meditierende, herzensgute, sozial engagierte Menschen - werden isoliert und bedroht, lächerlich und verächtlich gemacht. Sie verbringen ihre Nächte schlaflos, geängstigt und in Tränen; manche erwägen die Emigration - wie einst zur Nazizeit. Der Papst räumt in seiner «Verkündigungsbulle des grossen Jubiläums des Jahres 2000» die Ungerechtigkeiten der Ketzer- und Hexenverfolgung ein und bittet dafür um Vergebung. In diesem ehrenhaften Bestreben fallen ihm deutsche Behörden und Kirchenleitungen in den Rücken und setzen ihn dem Hohn aus: es habe sich wenig geändert. «Sekte» ist ein anderes Wort für «Ketzer», und für einen Ketzer galt früher und gilt in Deutschland heute wieder: «Exterminandus est» - wenn nicht durch Feuer (wie in der Nähe von Lübeck), dann durch Rufmord, Isolation und wirtschaftliche Vernichtung. Es herrscht ein Klima des Terrors und der Hysterie, und es ist keineswegs übertrieben, zu sagen, dass es beinahe schon faschistische Züge angenommen hat. l Prof. Dr. iur. Martin Kriele Geb. 1931, em. Professor für Allgemeine Staatslehre und Öffentliches Recht, ehem. Richter am Verfassungsgerichtshof des Landes Nordrhein-Westfalen. Professor Kriele gilt heute als einer der führenden Verfassungsrechtsexperten in Deutschland. Quelle: http://www.tolzin.de/sekten/ (Abrufbar am 20. Mai 2004)