Gesund Aufwachsen in NRW
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- Jasper Beck
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1 Sebastian Ehlen Gesund Aufwachsen in NRW Status Quo und Entwicklungsperspektiven kommunaler Präventionsketten Der Forschungsverbund Gesund aufwachsen untersucht in vier Modellkommunen vernetzte und lebenslauforientierte Gesundheitsförderung für Kinder in Form von integrierten kommunalen Gesamtansätzen - in der Praxis auch Präventionsketten genannt - und wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert ( ). Das Teilvorhaben Soziale Teilhabe und Ernährung am KATALYSE Institut in Köln hat im Zuge des interdisziplinären Forschungsprojektes eine qualitative Bestandsaufnahme kommunaler Gesamtansätze in Hinsicht auf ihre organisatorische und strukturelle Implementierung und die Gesundheitschancen sozial benachteiligter Familien und Familien mit Zuwanderungsgeschichte durchgeführt. Im Rahmen der qualitativen Bestandsaufnahme wurden die zentralen kommunalen Strukturebenen der integrierten Gesamtansätze und damit verbundene Angebote und Maßnahmen der Gesundheitsförderung erfasst und analysiert. Hierfür wurden semistrukturierte, leitfadengestützte Experteninterviews mit kommunalen Schlüsselakteuren aus Verwaltung und Koordination sowie Fachkräften aus Kindertagesstätten, Familienzentren und Grundschulen durchgeführt. Die Rekrutierung erfolgte über Gatekeeper. Die Erkenntnisse aus den Einzelinterviews wurden in Expertenworkshops mit ausgewählten Schlüsselakteuren und Fachkräften systematisch verdichtet und intersubjektiv validiert. Wahrnehmungen, Einstellungen von und Zugangsbarrieren zu Angeboten der kommunalen Gesundheitsförderung von sozial benachteiligten Eltern und Eltern mit Zuwanderungsgeschichte wurden in Gruppendiskussionen exploriert. Die qualitativen Daten wurden computergestützt inhaltsanalytisch (ATLAS.ti) ausgewertet. Die zentralen Forschungsfragen der Bestandsaufnahme lauten wie folgt: Wie ist der Status quo der präventiven Gesamtansätze in den Modellkommunen? Wie stellt sich die Angebots- und Maßnahmenstruktur insbesondere in sozialschwachen Quartieren dar (Kindertagesstätten bzw. Familienzentren, Grundschulen)? Wie ist die Wahrnehmung, Akzeptanz und Teilnahmebereitschaft sozial benachteiligter Familien und Familien mit Zuwanderungsgeschichte bezüglich der Angebote und Maßnahmen kommunaler Gesundheitsförderung? Theoretischer Hintergrund Eine konzeptionelle Prämisse kommunaler Gesamtansätze ist, dass die Einbettung von Einzelmaßnahmen in eine kommunale Gesamtstrategie eine neue Qualität ausmacht, Wirkung und Reichweite verstärkt und insbesondere sozial benachteiligte Familien profitieren. Diese Annahme wird in Zusammenhang mit komplexen Setting bezogenen Interventionen immer wieder formuliert, ist jedoch empirisch kaum belegt (Altgeld 2008; Engelmann und Halkow 2008; Reimann et al. 2010; Robert Koch-Institut, Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit 2012; Seite 1 von 5
2 Walter et al. 2015). Dass ein besonderer Bedarf an innovativen präventionsorientierten Interventionen und Konzepten existiert, die nicht sozial selektiv wirken, steht außer Frage (Bauer 2005; Rosenbrock und Gerlinger 2014). Der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey KiGGS hat zahlreiche Nachweise für einen Statusgradienten der Gesundheitschancen im Kindes- und Jugendalter geliefert: Je höher der soziale Status, desto besser sind die Chancen für ein gesundes Aufwachsen (Lampert et al. 2010: 76). Erste qualitative Ergebnisse Die qualitativen Daten der Experteninterviews (n=20), des Expertenworkshops (n=12) und der Gruppendiskussionen mit Eltern (n=20) wurden computergestützt (Atlas.ti) qualitativ (Bohnsack 2013; Mayring 2015) ausgewertet. Die Ergebnisse weisen hinsichtlich des Untersuchungsgegenstandes kommunaler Gesamtansätze auf einen mehrdimensionalen Entwicklungs- und Interventionsbedarf hin. Bislang sind Präventionsketten in den Modellkommunen nur lückenhaft implementiert. Es fehlt eine stringente Vernetzung und Kommunikation zwischen der gesamtkommunalen Verantwortungsebene und den Ebenen Quartier, Nachbarschaft und Institution. Netzwerkbildung und Schnittstellenmanagement müssen aus Sicht der Akteure weiterentwickelt werden. Das betrifft sowohl die ressort- und systemübergreifende Steuerung, als auch die Vernetzung kommunaler Netzwerke (z.b. Frühe Hilfen, Regionale Bildungsnetzwerke), Institutionen und Angebote im Quartier. Neben Familienzentren, Kindertagesstätten und Grundschulen gibt es weitere für die Kindergesundheit bedeutende kommunale Netzwerkakteure, die beteiligt werden sollen (z.b. Sportvereine, Stadtteilbüros). Es besteht somit bezüglich präventiver und gesundheitsförderlicher Strukturen und Angebote ein erheblicher Mangel an Transparenz unter den beteiligten Akteuren wie auch für Nutzerinnen und Nutzer. Verantwortliche aus Verwaltung und Koordination wie auch Fachkräfte formulieren den Wunsch nach einer Art kommunaler Landkarte, die Akteure der Gesundheitsförderung inklusive Ansprechpartnern und spezifischen Angeboten bis auf Stadtteilebene lebenslauforientiert und Kind zentriert abbildet. Darüber hinaus bemängeln Verantwortliche und Fachkräfte die fehlende Formalisierung des Übergangs zwischen Bildungsinstitutionen (z.b. KiTa - Grundschule). Es hängt an einzelnen engagierten Fachkräften, ob es eine kind- bzw. fallbezogene Übergabe im Sinne einer nahtlosen Bildungs- und Gesundheitsbiografie gibt. In sozial benachteiligten Quartieren äußern Fachkräfte deutliche strukturelle Überforderungen und Qualifizierungsbedarfe. Sie sehen sich mit einem erweiterten Erziehungsauftrag konfrontiert, der zunehmende Verlust von Alltags- und Erziehungskompetenzen macht eine verstärkte Arbeit mit Eltern bzw. dem familiären Umfeld der Kinder dringend erforderlich. Sie wünschen sich eine stärkere sozialraumbezogene Kapazitäts- und Organisationsentwicklung und damit verbunden eine Entlastung durch strukturell verankerte Angebote und Maßnahmen der Gesundheitsförderung (Alexander et al. 2010; Trojan et al. 2013; 2016). Insbesondere strukturelle Ernährungsangebote für arme Kinder spielen eine große Rolle. Die langfristige Finanzierung solcher Maßnahmen ist in der Regel nicht gesichert und wird als besonders herausfordernd empfunden. Einzelmaßnahmen und -projekte werden als nicht nachhaltig und eher belastend erlebt. Bezüglich der Weiterentwicklung von Angeboten, Maßnahmen und Partizipationsstrategien für sozial benachteiligte Familien und Familien mit Zuwanderungsgeschichte stoßen Fachkräfte an ihre professionellen Grenzen, fühlen sich ratlos und überfordert. Gängige Angebote und Maßnahmen funktionieren in den stark belasteten Sozialräumen nicht. Seite 2 von 5
3 Einrichtungen haben zunehmend ein multiethnisches und multireligiöses Klientel, 60 bis 90 Prozent der Familien haben eine Zuwanderungsgeschichte. Insbesondere Gruppenangebote werden wegen zu hoher Zugangsbarrieren (sprachliche Kompetenzen, Kosten usw.) nicht oder nur sehr schlecht besucht. Angebote müssen insgesamt sehr viel niederschwelliger konzipiert sowie individuelle und diversitätssensible Zugänge entwickelt werden. Zusätzlich sind kommunale Schlüsselakteure und Fachkräfte zurzeit durch kurzfristige Maßnahmen für geflüchtete Familien belastet. Fachkräfte stellen generell die Komm-Struktur ihrer Institutionen in Frage, bemängeln aber gleichzeitig, dass ihnen für niederschwellige und aufsuchende Angebote entsprechend qualifiziertes Personal fehlt. Nur in sehr wenigen Einrichtungen werden gezielte Bedarfserhebungen oder Maßnahmenevaluationen durchgeführt. Schlüsselakteure als auch Fachkräfte äußern in Puncto Evaluation einen deutlichen Qualifizierungsbedarf und wünschen sich Unterstützung durch regionale Partner (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 2015). Eltern aus sozial benachteiligten Quartieren verbalisieren starke soziale Ängste und Exklusionsbzw. Isolationserfahrungen (Bude und Lantermann 2006). Als Kernaspekte von Gesundheit benennen sie soziale Teilhabe und Einbindung in der Nachbarschaft. Ein Hauptanliegen der Eltern ist eine stärkere bürgerschaftliche Organisierung und nachbarschaftliche Entwicklung. Bezüglich der Angebote von Kindertagesstätten und Grundschulen wünschen sie sich eine weitreichendere Unterstützung bei der Verpflegung ihrer Kinder und generell eine individuellere Betreuung. Darüber hinaus wünschen sie sich mehr Spiel- und Freiflächen für ihre Kinder und die Pflege und Instandsetzung von vorhandenen Spiel- und Freiflächen. Ausblick In der laufenden Projektphase bis 2018 werden weitere Erhebungen in den Modellkommunen folgen (Elternbefragung, Gruppendiskussion etc.). Die Untersuchung liefert insbesondere unter den Aspekten Gesundheitschancen und soziale Teilhabe vulnerabler Familien erste Erkenntnisse zu Implementierung und Reichweite kommunaler Gesamtansätze in Nordrhein-Westfalen. Auf Grundlage der Ergebnisse werden Handlungsempfehlungen für Konzeption und Umsetzung kommunaler Gesamtansätze und der teilhabeorientierten und diversitätssensiblen Gestaltung von Angeboten entwickelt. Literaturverzeichnis Alexander, Jeffrey A.; Christianson, Jon B.; Hearld, Larry R.; Hurley, Robert; Scanlon, Dennis Patrick (2010): Challenges of Capacity Building in Multisector Community Alliances, Health Education and Behaviour (37), S Altgeld, Thomas (2008): Gesundheitsfördernde Settingsarbeit als Schlüsselstrategie zur Reduktion von gesundheitlichen Ungleichheiten. In: Ullrich Bauer, Uwe H. Bittlingmayer und Matthias Richter (Hg.): Health Inequalities. Determinanten und Mechanismen gesundheitlicher Ungleichheit. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S Bauer, Ullrich (2005): Das Präventionsdilemma: Potenziale schulischer Kompetenzförderung im Spiegel sozialer Polarisierung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Seite 3 von 5
4 Bohnsack, Ralf (2013): Gruppendiskussionsverfahren und dokumentarische Methode. In: Barbara Friebertshäuser, Antje Langer und Annedore Prengel (Hg.): Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. Auflage: 4. Weinheim, München: Juventa, S Bude, Heinz; Lantermann, Ernst-Dieter (2006): Soziale Exklusion und Exklusionsempfinden. In: Koelner Z.Soziol.u.Soz.Psychol 58 (2), S DOI: /s Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hg.) (2015): Gesamtprojektbericht. Kooperationsund Forschungsprojekt Gesundheitsförderung in Lebenswelten Entwicklung und Sicherung von Qualität. BZgA. Köln. Engelmann, Fabian; Halkow, Anja (2008): Der Setting-Ansatz in der Gesundheitsförderung: Genealogie, Konzeption, Praxis, Evidenzbasierung. Berlin: WZB (WZB Discussion Paper, SP I ). Online verfügbar unter Lampert, Thomas; Hagen, Christine; Heizmann, Boris (2010): Gesundheitliche Ungleichheit bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Berlin: RKI (Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes). Online verfügbar unter Mayring, Philipp (2015): Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken. 12., Neuausgabe, 12., vollständig überarbeitete und aktualisierte Aufl. Weinheim, Bergstr: Juventa (Beltz Pädagogik). Reimann, B.; Böhme, Christa; Bär, Gesine (2010): Mehr Gesundheit im Quartier. Prävention und Gesundheitsförderung in der Stadtentwicklung. Berlin: Difu. Robert Koch-Institut, Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (Hg.) (2012): Evaluation komplexer Interventionsprogramme in der Prävention: Lernende Systeme, lehrreiche Systeme? Beiträge zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Berlin: RKI. Rosenbrock, Rolf; Gerlinger, Thomas (2014): Gesundheitspolitik: eine systematische Einführung. 3. Auflage. Bern: Huber. Trojan, Alf; Reisig, Veronika; Kuhn, Joseph (2016): Gesundheitsförderung in Städten und Gemeinden. In: Präv Gesundheitsf 11 (4), S DOI: /s y. Trojan, Alf; Süß, Waldemar; Lorentz, Christian; Nickel, Stefan; Wolf, Karin (2013): Quartiersbezogene Gesundheitsförderung. Umsetzung und Evaluation eines integrierten lebensweltbezogenen Handlungsansatzes. Weinheim und Basel: Juventa. Walter, Ulla; Nöcker, Guido; Pawils, Silke; Robra, Bernt-Peter; Trojan, Alf; Franz, Matthias et al. (2015): Memorandum - Prävention und Gesundheitsförderung nachhaltig stärken: Herausforderungen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene. In: Gesundheitswesen 77 (5), S DOI: /s Seite 4 von 5
5 Sebastian Ehlen, M.A. KATALYSE Institut Kontakt: Gesundheits- & Ernährungsforschung Volksgartenstraße Köln Seite 5 von 5
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