6. Fachtagung Soziale Diagnostik
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- Hildegard Bieber
- vor 6 Jahren
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1 Entwicklung einer Klassifikation für die Soziale Arbeit auf der Grundlage des Capabilities Approachs und einer Theorie der Lebensführung durch Ressourcennutzung 6. Fachtagung Soziale Diagnostik Diagnostik in der Sozialen Arbeit - Konzepte der Wahrnehmung und Deutung der sozialen Realität, ihre theoretischen Grundlagen und Wirkungen 16. September 2016, Prof. Dr. Dieter Röh, HAW Hamburg
2 Was Sie erwartet: 1. Was sind Klassifikationen? 2. Welche Klassifikationen in der Sozialen Arbeit gibt es bereits? 3. Eine universelle Klassifikation der Sozialen Arbeit auf Basis des Capabilities Approach 4. Ungeklärte Fragen
3 Was sind Klassifikationen?
4 Was sind Klassifikationen?»Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.«(immanuel Kant) Klassifikationen sind Einteilungen von Dingen oder Begriffen nach gemeinsamen Merkmalen, mit einer Systematik, die Sachen oder Wörter in eine bestimmte Hierarchie bringt und zwar unter Verwendung einer bestimmten Nomenklatur. vgl. Brockhaus-Lexikon
5 Fallverstehen oder Kategorialdiagnostik Eigene Abbildung auf Basis von Schrödter (2009, 68)
6 Welche Klassifikationen in der Sozialen Arbeit gibt es bereits?
7 Klassifikationen aus der Sozialen Arbeit Person-in-Environment-Klassifikation (Karls/Wandrei 1994) Standardisierte Aktenführung (Brack 2002) Sozialpädagogische Diagnose-Tabellen (Bayrisches LJA 2009) Fallgruppen der Sozialarbeit (Brühl 2004) Psychosoziale Diagnosen im Gesundheitswesen (Menzel 2014) Klassifikation der Betreuungsintensität in der Bewährungshilfe (Schmitt 2007) Multiaxiales Diagnosesystem Jugendhilfe (Jacob/Wahlen 2006) Psychosoziale ressourcenorientierte Diagnostik (Kuefner/Coenen/Indlekofer 2006)
8 weitere Klassifikationen Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Gesundheit und Behinderung (ICF) Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-IV) Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD)
9 Eine Klassifikation der Sozialen Arbeit aufbauend auf einer Theorie der daseinsmächtigen Lebensführung (Röh 2013), die wiederum Grundannahmen des Capabilities Approach (Amartya Sen, Martha Nussbaum) nutzt, sollten Achsen, Klassen/Gruppen gefunden werden können, die beschreiben, was: Gelingende Lebensführung braucht, nämlich: a) externe Ressourcen und b) interne Fähigkeiten und somit einen a) gesellschaftlichen und b) persönlichen Möglichkeitsraum
10 Eine Klassifikation Sozialer Arbeit sollte eine hohe Reichweite besitzen und möglichst viele (alle?) Bereiche der Sozialen Arbeit umfassen (Erwachsene und Kinder trennen?), einen mittleren Präzisionsgrad aufweisen, drei Achsen besitzen: 1. gesellschaftlicher und 2. persönlicher Möglichkeitsraum sowie 3. Qualität und Intensität des Problems
11 Vor- und Nachteile 1. These: Klassifikationen gefährden den weichen Blick auf Probleme, zum Teil werden die Probleme durch Klassifikationen in ihrer sozialen Bedeutung erst verfestigt 2. These: Klassifikationen sind die logische Folge von Sozialer Diagnostik, die selbst schon die Komplexität von Informationen im Fall zu weit reduziert. 3. These: Der Aufbau und der Einsatz von Klassifikationen sind das Ende der Vielfalt Sozialer Arbeit 4. These: Klassifikationen etikettieren Menschen mit bestimmten Eigenschaften, die nur z.t. aus ihrer Person, zum anderen Teil aber aus gesellschaftlichen Umwelt-Bedingungen resultieren. 5. These: Klassifikationen verdichten den Fall so stark, dass die Hilfe nicht mehr das Ergebnis eines reflexiv-kasuistischen Fallverstehens sondern einer statistischen Einordnung in festgelegte Raster ist. 6. These: Klassifikationen erfüllen die Funktion, den professionellen sozialarbeiterischen Hilfeprozess nachvollziehbar zu machen. 7. These: Klassifikationen erfüllen eine wichtige Funktion, um eine einheitliche Dokumentation und Statistik zu etablieren. 8. These: Klassifikationen befördern die Inter-Professionalität der Sozialen Arbeit durch klare Aussagen. 9. These: Klassifikationen eröffnen die Möglichkeit, prognostische Hinweise auf Fallverläufe oder zukünftige Problemlösungen zu geben. 10. These: Hilfeplanung enthält bereits jetzt klassifikatorische Elemente 11
12 Schlussfolgerung Es gibt ernstzunehmende ethische und professionstheoretische Einwände, diese sind bei einem abgesicherten und abgestimmten, professionsinternen und disziplinären Prozess zur Findung einer geeigneten Klassifikation zu berücksichtigen. Klassifikationen können eine verbesserte Datenlage über das Vorkommen von Problemen der daseinsmächtigen Lebensführung (u.a. Gegenstandsdefinitionen) nach innen (Forschung der Sozialen Arbeit) und nach außen (vielleicht sogar im Sinne von sozialarbeiterischen Lebenslagenberichten) schaffen. Sie tragen das Potential in sich, eine gemeinsame Sprache zur professionsinternen Weiterentwicklung und zur professionsexternen Kooperation zu formulieren. 12
13 Eine universelle Klassifikation der Sozialen Arbeit auf Basis des Capabilities Approach
14 Nussbaums Capabilities Approach Verwirklichungschancen: Was Menschen zu tun und zu sein, in der Lage und fähig sein können! Partielle und minimale Gerechtigkeitstheorie kombiniert mit einer vagen, starken Theorie des Guten basic, internal, external und combined capabilities Anspruch an den Staat, aristotelische Sozialdemokratie (liberale Theorie?) Nicht Capabilities/Fähigkeitenansatz/ Verwirklichungschancen, sondern Teilhabe und Teilnahme (daseinsmächtige Lebensführung)
15 Leben Körperliche Gesundheit Körperliche Integrität Sinne, Vorstellungskraft und Denken Gefühle Praktische Vernunft Zugehörigkeit Andere Spezies Spiel Kontrolle über die eigene Umwelt (Quelle: Nussbaum 2010: 112 ff.) Die Fähigkeit, ein menschliches Leben normaler Dauer bis zum Ende zu leben; nicht frühzeitig zu sterben und nicht zu sterben, bevor dieses Leben so eingeschränkt ist, daß es nicht mehr lebenswert ist. Die Fähigkeit, bei guter Gesundheit zu sein, wozu auch die reproduktive Gesundheit, eine angemessene Ernährung und eine angemessene Unterkunft gehören. Die Fähigkeit, sich frei von einem Ort zum anderen zu bewegen; vor gewaltsamen Übergriffen sicher zu sein, sexuelle Übergriffe und häusliche Gewalt eingeschlossen; Gelegenheit zur sexuellen Befriedigung und zur freien Entscheidung im Bereich der Fortpflanzung zu haben. Die Fähigkeit, die Sinne zu benutzen, sich etwas vorzustellen, zu denken und zu schlußfolgern und dies alles auf jene wahrhaft menschliche Weise, die von einer angemessenen Erziehung und Ausbildung geprägt und kultiviert wird, die Lese- und Schreibfähigkeit sowie basale mathematische und wissenschaftliche Kenntnisse einschließt, aber keineswegs auf sie beschränkt ist. Die Fähigkeit, im Zusammenhang mit dem Erleben und Herstellen von selbstgewählten religiösen, literarischen, musikalischen etc. Werken und Ereignissen die Vorstellungskraft und das Denkvermögen zu erproben. Die Fähigkeit, sich seines Verstandes auf Weisen zu bedienen, die durch die Garantie der politischen und künstlerischen Meinungsfreiheit und die Freiheit der Religionsausübung geschützt werden. Die Fähigkeit, angenehme Erfahrungen zu machen und unnötigen Schmerz zu vermeiden. Die Fähigkeit, Bindungen zu Dingen und Personen außerhalb unser selbst aufzubauen; die Fähigkeit, auf Liebe und Sorge mit Zuneigung zu reagieren und auf die Abwesenheit dieser Wesen mit Trauer; ganz allgemein zu lieben, zu trauern, Sehnsucht, Dankbarkeit und berechtigten Zorn zu fühlen. Die Fähigkeit, an der eigenen emotionalen Entwicklung nicht durch Furcht und Angst gehindert zu werden. (Diese Fähigkeit zu unterstützen heißt auch, jene Arten der menschlichen Gemeinschaft zu fördern, die erwiesenermaßen für die menschliche Entwicklung entscheidend sind.) Die Fähigkeit, selbst eine persönliche Auffassung des Guten zu bilden und über die eigene Lebensplanung auf kritische Weise nachzudenken. (Hierzu gehört der Schutz der Gewissens- und Religionsfreiheit.) A. Die Fähigkeit, mit anderen und für andere zu leben, andere Menschen anzuerkennen und Interesse an ihnen zu zeigen, sich auf verschiedene Formen der sozialen Interaktion einzulassen; sich in die Lage eines anderen hineinzuversetzen. (Der Schutz dieser Fähigkeit erfordert den Schutz jener Institutionen, die diese Formen der Zugehörigkeit konstituieren und fördern, sowie der Versammlungs- und Redefreiheit.) B. Über die sozialen Grundlagen der Selbstachtung und der Nichtdemütigung zu verfügen; die Fähigkeit, als Wesen mit Würde behandelt zu werden, dessen Wert dem anderen gleich ist. Hierzu gehören Maßnahmen gegen die Diskriminierung auf der Grundlage ethnischer Zugehörigkeit, Geschlecht, sexueller Orientierung, Kaste, Religion und nationaler Herkunft. Die Fähigkeit, in Anteilnahme für und in Beziehung zu Tieren, Pflanzen und zur Welt der Natur zu leben. Die Fähigkeit zu lachen, zu spielen und erholsame Tätigkeiten zu genießen. A. Politisch: Die Fähigkeit, wirksam an den politischen Entscheidungen teilzunehmen, die das eigene Leben betreffen; ein Recht auf politische Partizipation, auf Schutz der freien Rede und auf politische Vereinigung zu haben. B. Inhaltlich: Die Fähigkeit, Eigentum (an Land und an beweglichen Gütern) zu besitzen und Eigentumsrechte auf der gleichen Grundlage wie andere zu haben; das Recht zu haben, eine Beschäftigung auf der gleichen Grundlage wie andere zu suchen; vor ungerechtfertigter Durchsuchung und Festnahme geschützt zu sein. Die Fähigkeit, als Mensch zu arbeiten, die praktische Vernunft am Arbeitsplatz ausüben zu können und in sinnvolle Beziehungen der wechselseitigen Anerkennung mit anderen Arbeitern treten zu können.
16 vorhandene Ressourcen notwendige Ressourcen Teilhabebarrieren Kompetenzen zur Ressourcentransformation/ Teilnahmebarrieren notwendige Ressourcen vorhandene Ressourcen HAW Hamburg: Wissen fürs Leben 1. Achse, gesell. MR Diskrepanz = Problem Diskrepanz = Problem 2. Achse, pers. MR - Soziale Sicherung - Rechtsanerkennung - Arbeitswelt - Bildungssystem - Gesundheitssystem - soziale Beziehungen - Sicherheit - Infrastruktur - Bürgerschaft, Partizipation - Kultur - Natur - Alter - Geschlecht - Gesundheit - Bildung - Beschäftigung - Familienstatus - Rechtsstatus - Sozialraum/ Wohnsituation/Haushalt - Psyche - Soziales - Lebensstil - Logos, Spiritualität 3. Achse, Qualität und Intensität des Problems eingeschränkter daseinsmächtiger Lebensführung - Aneignungsformen - Beteiligungsformen - Machtverhältnisse - Ressourcenmangel - Ressourcentransformation - Dauer - subjektive Belastung
17 ungeklärte Fragen Sind die einzelnen Gruppen und Kategorien genügend voneinander getrennt? Stimmen die Gruppen innerhalb der Achsen? Detailliertere Beschreibung der Gruppen? Entwicklung einer vierten (Beziehung zwischen Sozialarbeiter/in und Klient/in) und fünften Achse (Formen der Sozialen Arbeit als Intervention)?
18 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Zuletzt: Röh, Dieter (2012): Klassifikationen in der Sozialen Arbeit Vorschlag eines gegenstandsund funktionsbasierten Rahmens. In: Gahleitner, Silke/Hahn, Gernot/Glemser, Rolf (Hrsg.): Klinische Sozialarbeit. Psychosoziale Diagnostik. Bonn: Psychiatrie-Verlag, Relaunch des Internetauftritts der HAW Hamburg 2009/10
Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg - Fakultät Wirtschaft und Soziales Department Soziale Arbeit - Prof. Dr. Dieter Röh Seite 1
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