Die Aussagefreiheit des festgenommenen Beschuldigten - Ein Rechtsvergleich zwischen deutschem und türkischem Recht im Lichte der EMRK
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1 Die Aussagefreiheit des festgenommenen Beschuldigten - Ein Rechtsvergleich zwischen deutschem und türkischem Recht im Lichte der EMRK Mehmet Arslan, LL.M Kapplerstr. 57/ Freiburg m.arslan@mpicc.de
2 I. Gegenstand der Untersuchung Der Beschuldigte nimmt in einem Strafverfahren unterschiedliche Rollen ein. Einerseits bedroht ihn das Strafverfahren mit Zwangsmaßnahmen und Sanktionen. Insofern steht er im Visier des Strafverfahrens. Andererseits ist er auch eine Auskunftsperson, deren Aussagen bei der Aufklärung der ihm zur Last gelegten Straftat von Bedeutung sind. Eine Auskunftspflicht des Beschuldigten wird allerdings im heutigen Strafverfahren allgemein verneint, da er dadurch zum Objekt des Strafverfahrens herabgewürdigt würde. Im Gegenteil gestaltet er den Ablauf des Strafverfahrens mit, indem er zu seiner Verteidigung durch eigene Anregungen beiträgt. Seine daraus resultierende Subjektstellung im Strafverfahren schlägt sich im strafprozessualen Verfahrensprinzip nemo-tenetur se ipsum accusare (im Folgenden: nemo-tenetur) deutlich nieder, wonach er zur Mitwirkung seiner Überführung nicht verpflichtet ist. Das nemo-tenetur Prinzip genießt im türkischen Recht (Art. 36 Abs. 5 der türkverf) sowie im deutschen Recht (Art. 2 Abs. 1 i.v.m Art.1 Abs. 1 GG,) Verfassungsrang. Es ist insofern für beide Rechtsordnungen ein Justizgrundrecht, das es bei der Gestaltung des Strafverfahrensrechts umzusetzen gilt. Das Prinzip ist weiterhin ein völkerrechtlich geschütztes Menschenrecht. So darf der Beschuldigte nach 14 Abs. 3 lit. g Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966 nicht gezwungen werden, gegen sich selbst als Zeuge auszusagen oder sich schuldig zu bekennen. Ferner erkennt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR oder Gerichtshof) das Privileg gegen die Selbstbelastungsfreiheit als einen Anspruch des Beschuldigten auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (im Folgenden: EMRK) an. 1. Im Hinblick auf die Gewährleistung des nemo-tenetur Prinzips entstand in der Türkei insbesondere im Bereich des Terrorismus in naher Vergangenheit wegen häufiger und systematischer Anwendung der Folter an den inhaftierten Terrorverdächtigen erheblicher Zweifel. 1
3 So war die türkische Strafverfolgungspraxis bezüglich der Terrordelikte jahrelang mit überlang fortgesetzter Polizeiverwahrungen und sogenannter incommunicado-haft gekennzeichnet. Ferner sahen die Regeln der Notstandverwaltung, die am aufgehoben wurde die Geltung dieser Regeln ist seit dem Aufhebungsdatum gehemmt, weitere verschärfte Eingriffsmöglichkeiten in Rechte des festgenommenen Beschuldigten vor. Eklatantes Bespiel war die sogenannte Vernehmungshaft, bei der die mit einer richterlichen Anordnung verhafteten Beschuldigten gleich nach ihrer Unterbringung in einer Untersuchungshaftanstalt zur Vernehmung oder zur Durchführung anderer Ermittlungsmaßnahmen für eine praktisch unabsehbare Zeit erneut in polizeiliche Verwahrung genommen werden konnten. Sie dauerte in der Praxis manchmal gut sechs Monate. Angesichts dieser Umstände liegt es auf der Hand, dass die gezielte Haft des Beschuldigten zur Vernehmung bezüglich seiner Aussagefreiheit erhebliche Bedenken nach sich zieht. Infolgedessen hat der türkische Gesetzgeber die massiven Menschenrechtsverletzungen im Polizeigewahrsam, insbesondere bei der Strafverfolgung von Terrordelikten, mit der Abschaffung eines großen Teils der Einschränkungen der Rechte der Festgenommenen und der Einführung neuer Kontrollmechanismen hinsichtlich des Polizeigewahrsams durch die 2005 in Kraft getretene neue Strafprozessordnung berücksichtigt. In der Tat ist bei Folter-und Misshandlungsvorwürfen in der Praxis des türkischen Polizeigewahrsams seit 2002 auch hinsichtlich der Terrorverdächtigen eine beachtliche Abnahme zu verzeichnen, sodass die Aussagefreiheit des festgenommenen Beschuldigten vor einer eklatanten Verletzung mindestens zeitbedingt geschützt zu sein scheint. Es ist allerdings im Hinblick auf die gesetzliche Lage, die Rechtsprechung und die Praxis nicht befriedigend, wie die Garantien und Rechte des festgenommenen Beschuldigten zwecks einer angemessenen Gewährleistung seiner Aussagefreiheit, etwa die Belehrungspflichten oder das Recht auf den Beistand eines Verteidigers, im türkischen 2
4 Polizeigewahrsam gehandhabt werden. Der türkische Kassationshof hat etwa bis jetzt keine Rechtsprechung entwickelt, die die konkreten rechtlichen Folgen einer unterbliebenen Belehrung des Beschuldigten über seine Aussagefreiheit im Polizeigewahrsam anbelangt. 2. In Bezug auf Deutschland ist die Aussagefreiheit des festgenommenen Beschuldigten nicht mit vergleichbaren Gefahren konfrontiert, wie bei der türkischen Terrorbekämpfungsstrategie beispielhaft dargestellt. Aus den Beanstandungen des EGMR bezüglich Deutschlands wird ersichtlich, dass die Diskussionen über die Aussagefreiheit des festgenommenen Beschuldigten in erster Linie eine rechtsdogmatische Natur haben. Im Falle Jalloh kamen etwa die Unterschiede zwischen dem deutschen und dem Straßburger nemo-tenetur-ansatz zutage. Der EGMR verurteilte hierbei Deutschland, weil er die Brechmitteleinsetzung zur Beweiserlangung an einem festgenommenen Beschuldigten als ein Verstoß gegen die Selbstbelastungsfreiheit ansah. Die beklagte Ermittlungsmaßnahme wurde jedoch im Gegensatz zum EGMR vorher durch die erfolglose Revision beim BGH und die nicht zur Entscheidung genommene Verfassungsbeschwerde beim BVerfG für menschenrechtlich unbedenklich erklärt. Die Verurteilung zeigt deutlich, dass der Schutzbereich des Prinzips nemo-tenetur nach deutschem und europäischem Recht voneinander abweichen und strukturell anders konturiert sind (Gaede, Karsten HRRS 7/2006 S. 248). Ferner hatte sich der Gerichtshof im Falle Gäfgen, mit der Frage auseinander zu setzen, ob die deutsche Beweisverwertungslehre bezüglich der Aussagen des festgenommenen Beschuldigten im Polizeigewahrsam konventionskonform ist, die nach dem deutschen Recht infolge einer verbotenen Vernehmungsmethode isv 136a Abs. 1 StPO und nach der Konvention unter Verstoß gegen das Verbot der unmenschlichen Behandlung gemäß Art. 3 EMRK gemacht wurden. Diese Frage stellt sich auch für die Verwendbarkeit der sachlichen Beweismittel, die nach Angaben des festgenommenen Beschuldigten in der polizeilichen Vernehmung sichergestellt wurden. Der Gerichtshof bestätigte die Konventionskonformität des Beweisverwertungsverbotes, das das nationale Gericht verhängt hatte, beanstandete jedoch die Feststellungen des Tatgerichts dahingehend, dass die sichergestellten sachlich belastenden Beweismittel 3
5 eine mittelbare Folge der verbotenen Vernehmungsmethode bzw. der unmenschlichen Behandlung isv Art. 3 der Konvention seien (Gäfgen 171). Zwar sprach er keine Verletzung des Art. 6 EMKR aufgrund der Verwertung dieser sachlichen Beweismittel aus. Begründet hat er dies allerdings mit seiner Beweisverwertungslehre bezüglich Art. 3 und 6 EMRK, die er auf das Verbot der konventionswidrigen Behandlung des Beschuldigten und die Berücksichtigung der Verteidigungsrechte und der Selbstbelastungsfreiheit stützt. Daran ist auch erkennbar, dass die konventionsrechtlichen Anforderungen an die Aussagen und die sachlichen Beweismittel, die unter Verstoß gegen Art. 3 und 6 EMRK erlangt wurden, gewisse Abweichungen vom deutschen Recht aufweisen. II. Ziel der Untersuchung Die Untersuchung soll die nationalen Bestimmungen bezüglich der Implementierung der Aussagefreiheit des festgenommenen Beschuldigten im Polizeigewahrsam unter den Vorgaben der EMRK sowie einem rechtvergleichenden Blickwinkel analysieren. Zusammenfassend soll dabei auf folgende konkrete Fragen eingegangen werden: 1. Als Grundlage der Untersuchung soll festgestellt werden, welche Bedingungen die Aussagefreiheit des festgenommenen Beschuldigten im Polizeigewahrsam in der Türkei und Deutschland beeinflussen oder beeinflussen können. Dabei geht es etwa um die Frage, wie die polizeiliche Vernehmung des festgenommenen Beschuldigten durchgeführt wird, wenn dadurch präventive Zwecke erreicht werden sollen oder die Frage, inwiefern die Ermittlungspersonen den Beschuldigten als eine Beweisperson in Anspruch zu nehmen pflegen (empirische Untersuchungsfrage). 2. Inwieweit gewährleisten die Rechtsordnungen Deutschlands und der Türkei und die EMRK die Aussagefreiheit des festgenommenen Beschuldigten im Polizeigewahrsam? Hierbei ist zu untersuchen, mit 4
6 welchen Rechten und Garantien der festgenommene Beschuldigte im Hinblick auf seine Aussagefreiheit ausgestattet ist. Beispielhaft ist der Frage nachzugehen, inwiefern ein Beweisverwertungsverbot, das eine bedeutsame Garantie für die wirksame Gewährleistung der Aussagefreiheit des festgenommenen Beschuldigten im Polizeigewahrsam darstellt, bei der Verletzung der genannten Rechte und Garantien in den zu vergleichenden Rechtsordnungen Anwendung findet (rechtliche Untersuchungsfrage). 3. Auf der horizontalen und vertikalen Ebene der Rechtsvergleichung ist zu überprüfen, ob das deutsche und das reformierte türkische Strafprozessrecht den Erfordernissen der EMRK bezüglich der Aussagefreiheit des festgenommenen Beschuldigten Genüge tut und welche Divergenzen und Konvergenzen zwischen dem deutschen und dem türkischen Recht bezüglich der Gewährleistung der Aussagefreiheit des festgenommenen Beschuldigten vorhanden sind (rechtsvergleichende Untersuchungsfrage). 4. Die Untersuchung bezweckt ferner, die rechtliche Stellung des festgenommenen Beschuldigten hinsichtlich seiner Aussagefreiheit unter normativen Prinzipien zu bewerten und anschließend rechtspolitische Vorschläge zu erarbeiten (normative Untersuchungsfrage). III. Methode der Untersuchung Die gesetzten Ziele möchte die Untersuchung in folgender Weise erreichen: 1. Die Bedingungen möglicher Beeinträchtigung der Aussagefreiheit des festgenommenen Beschuldigten im Polizeigewahrsam werden durch Bezugnahme auf die bisher geführten empirischen Forschungen, sekundären Fachliteratur, parlamentarische Anfragen und Berichte einzelner Parlamentsausschüsse und NGOs, die Analyse von einschlägigen Vorschriften und maßgebende Urteile in Deutschland und in der 5
7 Türkei festgestellt. 2. Die Erkenntnis des geltenden Rechts bezüglich der Aussagefreiheit des festgenommenen Beschuldigten erfolgt durch Gesetzesauslegung mithilfe einer Rechtsprechungs- und Literaturanalyse. 3. Das dritte Ziel der Untersuchung setzt im Hinblick auf die vertikale Rechtsvergleichung voraus, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs analysiert wird. In der Untersuchung wird insofern darauf abgestellt, anhand der Kasuistik des Gerichtshofs allgemeine Grundsätze und konkrete Gewährleistungen bezüglich der Aussagefreiheit des festgenommenen Beschuldigten im Polizeigewahrsam festzustellen. Herangezogen werden bei der horizontalen Rechtsvergleichung die deutschen und türkischen Rechtsordnungen. Mit dem deutschen Strafprozessrecht ist die Rechtsvergleichung deshalb insbesondere angebracht, als bei der Entstehung der neuen türkischen Strafprozessordnung im Jahre 2004 die deutsche StPO eine große Bedeutung hatte. Bereits 1929 hatte die Türkei die deutsche StPO von 1877 ins türkische Recht rezipiert. Die türkische Strafrechtswissenschaft ist daher von der deutschen stark beeinflusst. Insofern bestehen zwischen den beiden Rechtsordnungen prinzipiell ähnliche Strukturen und eine gemeinsame Strafrechtsterminologie, was wiederum einen erfolgreichen funktionalen Rechtsvergleich erleichtert. Weiterhin hat das deutsche Recht im Hinblick auf die Harmonisierungsbestrebungen im Recht anerkanntermaßen einen soliden Vorbildcharakter. Der Vergleich mit dem deutschen Recht dient insofern auch dem Aneinanderrücken europäischer Rechtsordnungen. 4. Die Bewertung de lege ferenda der rechtlichen Stellung des festgenommenen Beschuldigten hinsichtlich seiner Aussagefreiheit erfolgt anhand Prozessmaximen und verfassungsrechtlichen Prinzipien, vor allem zum Zwecke und aus Gründen der Selbstbelastungsfreiheit. 6
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