Systematische Ansätze zur Reduktion von Polypharmazie : Eine Übersicht mit praktischen Anleitungen
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- Lothar Winter
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1 Zurich Open Repository and Archive University of Zurich Main Library Strickhofstrasse 39 CH-8057 Zurich Year: 2017 Systematische Ansätze zur Reduktion von Polypharmazie : Eine Übersicht mit praktischen Anleitungen Neuner-Jehle, S Abstract: Hintergrund: Polypharmazie stellt bei älteren und multimorbiden Patienten ein zunehmendes Problem dar und geht mit einer Steigerung der Morbidität, der stationären Behandlungsbedürftigkeit, von Pflegeheimeintritten, Mortalität und Kosten einher. Am häufigsten lösen Antikoagulanzien und Antidiabetika unerwünschte Arzneimittelwirkungen aus. Reduktion der negativen Folgen einer Polypharmazie: Wirksame Maßnahmen hierfür sind eine systematische Bestandsaufnahme aller eingenommenen Medikamente, gefolgt von einer Bewertung jedes einzelnen davon bezüglich Indikation, Nebenwirkung, Dosis und besserer Alternativen. Dafür ist es entscheidend, sich Gedanken um die Priorität der Behandlungsziele und die Präferenzen des Patienten zu machen. Schließlich sind für eine erfolgreiche Intervention gegen Polypharmazie die gemeinsame Entscheidungsfindung und ein klarer Medikamentenplan erforderlich. Hierfür werden praktikable Instrumente vorgestellt. Problembereiche: Den Nutzen und Schaden eines Medikamentes abzuwägen, ist nicht einfach, und nicht für jede Indikation stehen valide Daten oder Scores zur Verfügung. Ebenso anspruchsvoll ist die Kommunikation mit dem Patienten über Therapieziele oder Restlebenserwartung. Herausforderungen bleiben genug: das Problem der knappen Zeit für solche Gespräche; das Einbinden nichtärztlicher Berufsgruppen in diese Interventionen sowie deren Integration in die Software von Praxen und Krankenhäusern. Resümee: Das kritische Hinterfragen von Medikamenten beim polypharmazierten, multimorbiden Patienten ist eine wichtige Aufgabe, die ganz im Zeichen der Qualitätsverbesserung medizinischer Versorgung steht. DOI: Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of Zurich ZORA URL: Accepted Version Originally published at: Neuner-Jehle, S (2017). Systematische Ansätze zur Reduktion von Polypharmazie : Eine Übersicht mit praktischen Anleitungen. Der Diabetologe, 13(2): DOI:
2 Systematische Ansätze zur Reduktion von Polpharmazie Eine Übersicht mit praktischen Anleitungen Systematic approaches to reduce polypharmacy An overview with practical tools Autor: Stefan Neuner-Jehle, Dr. Med., MPH Senior researcher and lecturer Institut für Hausarztmedizin, Universitätsspital und Universität Zürich Pestalozzistrasse Zürich, Schweiz Tel.: Fax:
3 2 Zusammenfassung Polypharmazie ist bei älteren und multimorbiden Patienten ein zunehmendes Problem und führt zu erhöhter Morbidität, Hospitalisationen, Pflegeheimeintritten, Mortalität und Kosten. Am häufigsten lösen dabei Antikoagulantien und Antidiabetica unerwünsche Arzneimittelwirkungen aus. Wirksame Massnahmen dagegen sind eine systematische Bestandesaufnahme aller eingenommenen Medikamente, gefolgt von einer Bewertung jedes einzelnen Medikamentes bezüglich Indikation, Nebenwirkung, Dosis und besserer Alternativen. Dafür ist es entscheidend, sich Gedanken um die Priorität bei den Behandlungszielen und um die Präferenzen des Patienten zu machen. Schliesslich braucht es für eine erfolgreiche Intervention gegen Polypharmazie die gemeinsame Entscheidungsfindung und einen klaren Medikamentenplan. Wir stellen dazu einige praktikable Instrumente vor. Das Abwägen von Nutzen und Schaden eines Medikamentes ist anspruchsvoll, und nicht für jede Indikation sind valide Daten oder Scores zur Verfügung. Ebenso anspruchsvoll ist die Kommunikation mit Patienten über Therapieziele oder Restlebenserwartung. Herausforderungen bleiben genug: das Problem der knappen Zeit für solche Gespräche; das Einbinden nicht-ärztlicher Berufsgruppen in diese Interventionen; die Integration solcher Intervention in die Software von Praxen und Spitälern. Das kritische Hinterfragen von Medikamenten beim polypharmazierten, multimorbiden Patienten ist eine wichtige Aufgabe, die ganz im Zeichen der Qualitätsverbesserung medizinischer Versorgung steht. Schlüsselwörter: Polypharmazie - unerwünschte Medikamentenwirkung - gemeinsame Entscheidungsfindung - Medikamentenreduktion
4 3 Summary Polypharmacy increasingly is a problem in the care of multimorbid and elderly patients, and affects morbidity, mortality, hospitalization rates and cost. The most frequent contributors to adverse drug events among patients with polypharmacy are anticoagulants (including platelet inhibitors) and antidiabetics. A systematic listing of all medicaments taken by the patient ("brown bag review"), followed by a critical appraisal of indication, side effects, dosage and alternatives of every single drug is a promising intervention against polypharmacy. To consider and to discuss priorities and preferences of patients in regard to treatment goals is crucial for the success. Finally, shared decision making approaches and a clear medication plan for the patient is necessary. We present some helpful tools for this purpose. Weighing benefits and harms of a medicament is sometimes difficult, as not for every indication valid data or scores are available. Similarly communication with patients about treatment goals and life expectancy can be a major challenge. Further challenges in deprescribing are the lack of time among physicians, the integration of non-academic health professionals (like hospital or practice staff) and computer-assisted solutions for reviewing medication lists. Critical appraisal of drugs and appropriate deprescribing in multimorbid patients with polypharmacy is an important task for improving quality in health care. Key words: Polypharmacy - inappropriate prescribing - adverse drug events - deprescribing - shared decision making Hinweis: Teile dieses Artikels wurden in einem Artikel der Zeitschrift Internistische Praxis, Marseille Verlag, publiziert [1]. Der teilweise Nachdruck wurde vom Marseille Verlag freundlich genehmigt.
5 4 Fazit für die Praxis Will man Polypharmazie mit all seinen Risiken für den Patienten erfolgreich angehen, so lohnt sich ein systematisches Vorgehen. Wesentliche Elemente sind dabei 1. Eine Bestandesaufnahme (Auflistung) der eingenommenen Medikamente, 2. Die Bewertung jedes einzelnen Medikamentes nach Indikationen, Nebenwirkungsrisiko, Interaktionsrisiko und Dosierungsoptimum gemäss verfügbarer Evidenz, 3. Das Gespräch mit dem Patienten, um dessen Präferenzen, Haltung und Prioritäten zu berücksichtigen, und 4. Das Erstellen und Abgeben eines Medikamentenplans. Dass wir nicht immer über die aktuelle Evidenz zum Einsatz eines Medikamentes bei genau unserem Patienten verfügen, macht diese Aufgabe anspruchsvoll. Gespräche über Behandlungsziele und Prioritäten (zum Beispiel über die Lebenserwartung oder über den Verzicht auf eine Behandlung) können schwierig sein, und benötigen kommunikatives Geschick. Dazu stellen wir einen einfachen Review-Algorithmus und ein Priorisierungs-Tool vor. Drei mögliche Eye-catcher: 1. Die optimale Patientenbetreuung stützt sich auf das Optimieren der Medikation und erschöpft sich nicht einfach im Reduzieren der Medikationslisten. 2. Beim Festlegen der Therapieziele ist eine gute Portion Zurückhaltung und Vorsicht zugunsten unserer Patienten angesagt. 3. In unserer konsumorientierten und technikgläubigen Gesellschaft scheint der Verzicht eine schwierige Aktion zu sein, was vielleicht auch mit dem
6 5 psychologischen Effekt der Verlustaversion zusammenhängt. (Intro) Mit der zunehmenden Anzahl multimorbider Patienten steigt die Anzahl der Patienten mit Polypharmazie mitsamt deren negativen Auswirkungen an. Dieser ungünstigen Entwicklung gegenüber sind wir aber nicht machtlos: Um die Medikation bei polypharmazierten Patienten zu optimieren, existieren einige vielversprechende Ansätze und Instrumente. Entscheidend, aber auch schwierig, für die Umsetzung ist letztlich die Kommunikation mit dem Patienten. In diesem Artikel stellen wir einige dieser Ansätze und Instrumente vor, und diskutieren die Stolpersteine einer systematischen Medikamentenreduktion. Polypharmazie, eine neue Epidemie Polypharmazie, in der Literatur als die dauerhafte Einnahme von vier bis sechs Medikamenten oder mehr beim gleichen Patienten definiert, ist ein zunehmendes Problem in der Betreuung multimoribder und älterer Menschen. Auch wenn nicht jede Interaktion der Medikamente untereinander klinisch relevant ist, nimmt doch ihre Anzahl bei mehreren gleichzeitig eingesetzten Medikamenten exponentiell zu (Tabelle 1): Theoretisch kann jedes einzelne Medikament mit jedem anderen interagieren, dazu gibt es Interaktionen unter Duplets und Triplets, und so weiter [2]. Aufgrund der demografischen Entwicklung sehen wir in unseren Praxen und Spitälern zunehmend multimorbide und damit polypharmazierte Patienten1: Die Anzahl Medikamente pro Patient korreliert mit Alter, Komorbidität und 1 Zugunsten der Lesbarkeit wurde die männliche Form verwendet. Selbstverständlich ist gleichbedeutend immer auch die weibliche Form gemeint.
7 6 Behinderungsgrad [3]. Polypharmazie und ungeeignete Medikation (inappropriate medication use) führen zu erhöhter Morbidität, Hospitalisationen, Pflegeheimplatzierungen und Mortalität [4]. Mit jedem zusätzlichen Medikament pro Patient resultiert ein Anstieg unerwünschter Arzneimittelwirkungen (UAW) um 8.6% [5]. Polypharmazie stellt durch seine Verbreitung und seine Folgen einen erheblichen Kostentreiber im Gesundheitswesen dar: in den USA nehmen 40% der stationär aufgenommenen, über 65jährigen Patienten fünf bis neun Medikamente ein, und ein erheblicher Anteil der Notaufnahmen erfolgt aufgrund von UAW oder einer Medikamentenüberdosierung [6]. Das Risiko, nach einem Spitalaufenthalt aufgrund einer UAW wiederholt hospitalisiert zu werden, betrug in einer australischen Kohorte 18%, war bei Multimorbiden besonders hoch und über die letzten Jahrzehnte zunehmend [7]. Besonders heikel ist die Phase des Spitalaustrittes, wo die Medikamentenzahl pro Patient noch höher ist als bei Spitaleintritt (was bedingt durch die Behandlung einer akuten Gesundheitsstörung ja auch Sinn macht), aber oft darüber hinaus hoch bleibt [8]. Diese Schnittstelle zwischen Spitalentlassung und Weiterbetreuung durch den niedergelassenen Hausarzt ist von grosser Bedeutung bei der Optimierung von Polypharmazie und UAW. Ein weiterer Treiber der Polypharmazie, über Alter und Multimorbidität hinaus, ist die fraktionierte Betreuung der chronisch Kranken: Wenn ein Spezialist vom Einsatz des anderen nichts weiss und der Hausarzt keinen Überblick über die von Dritten geleisteten Behandlungen am Patienten mehr hat, ist die Gefahr gross, dass parallel verschiedene Medikamente eingenommen werden, die gegenseitig interagieren oder dieselbe Indikation haben. Schliesslich ist die Diskrepanz zwischen Empfehlungen durch Leitlinien und der Situation multimorbider Patienten ein weiterer Grund für die Polypharmazie. Multiple Erkrankungen führen bei strikter Anwendung von Guidelines zu multipler, aber letztlich inadäquater Medikation [9], und zu einer Häufung gefährlicher UAW's, sind multimorbide Patienten doch besonders
8 7 vulnerabel für solche Ereignisse. Guidelines für Multimorbide, und Anwendungsempfehlungen von krankheitsspezifischen Guidelines bei Multimorbiden, sind dringend nötig. Welche Medikamentengruppen sind am gefährlichsten hinsichtlich UAW? Bei polypharmazierten Patienten sind zwei Medikamentenklassen im Vordergrund, die zusammen drei Viertel der UAW verursachen: Antikoagulantien (inklusive Thrombocytenaggregationshemmer) und Antidiabetica (Insuline und perorale Antidiabetica) [6] (Abbildung 1). Dementsprechend gehören Antikoagulantienblutungen und Hypoglykämien zu den häufigsten UAW bei polypharmazierten Patienten. Die "Klassiker" wie Opiate oder Diuretica verursachen demgegenüber deutlich seltener UAW; je nach untersuchter Population kann dies aber variieren. Es lohnt sich aber, will man die grösste Wirkung erzielen, nach diesen beiden Medikamentenklassen zu fahnden. Gleichzeitig haben diese Substanzen - behutsam eingesetzt - oft auch einen grossen Nutzen bei älteren Patienten. Doch zu diesem Dilemma später mehr. Strategien gegen Polypharmazie Bisherige Programme zur Reduktion von Polypharmazie wurden vorwiegend in geriatrischen Populationen entwickelt und getestet. Eine mögliche Strategie ist das Vermeiden von Medikamenten unter Gebrauch von Negativlisten, zum Beispiel die Beers-Liste in USA [10] oder die Priscus-Liste im deutschsprachigen Raum [11]). Eine weitere Möglichkeit besteht in der systematischen Anwendung von Kriterien, die zur Weiterverordnung eines Präparates erfüllt sein müssen. Der erste solche Index war der Medication Appropriateness Index (MAI) [12], der zwar durch Vollständigkeit, nicht aber durch Anwenderfreundlichkeit brilliert. In Anlehnung an den MAI wurde kürzlich ein Algorithmus (Good Palliative-Geriatric Practice, GPGP) entwickelt und bei
9 8 ambulanten geriatrischen Patienten getestet. Der Algorithmus bietet eine gute Diskussions- und Entscheidungshilfe mit dem Ziel der Medikamentenreduktion [13]. Auf dem GPGP aufbauend haben wir in Zürich eine noch einfachere Intervention für die Praxis entwickelt (Tabelle 2) [14], die wir nach erfolgreicher Pilotierung aktuell in einem randomisiert-klinischen Trial (RCT) weiterbeforschen [15]. Inzwischen existieren schon eine ganze Reihe von validierten Instrumenten für den Umgang mit Polypharmazie im ambulanten und stationären Setting, in unterschiedlichem Komplexitätsgrad: Die STOPP-/START-Anleitungen aus Irland [16], das STRIP-Programm aus Holland [17], der Ansatz der POLITE-Studie [18] und das PRIMA Decision Support Tool [19] aus Deutschland, das MORE Decision Support Tool [20] aus Neuseeland und das Tool der OPTI-SCRIPT Studie aus Irland [21] sind einige Beispiele dafür. Ausserdem sind inzwischen Guidelines wie die hessische hausärztliche Leitlinie Multimedikation (unterstützt von der DEGAM) [22] oder die Nationale Schottische Guideline für Polypharmazie [23] publiziert. Gemeinsame Elemente all dieser Instrumente und Strategien sind: 1) Bestandesaufnahme der eingenommenen Medikamente (im englischen Sprachraum "brown bag review" genannt) 2) Alarmsysteme (alerts) und Handlungsanweisungen für den Fall inadäquat eingesetzter Medikamente 3) Bewertung der Medikamente, teilweise referenziert mit den entsprechenden Indikationen, Nebenwirkungsrisiko, Interaktionsrisiko und Dosierungsoptima gemäss verfügbarer Evidenz 4) Anleitungen zur Kommunikation zu den Änderungsvorschlägen mit dem Patienten, um dessen Präferenzen, Haltung und Prioritäten zu berücksichtigen, und zur Kommunikation mit anderen Betreuern 5) ein Medikamentenplan und andere Patienteninformations-Dokumente
10 9 Schon diese vereinfachte Übersicht zeigt, dass eine solche Intervention rasch komplex und zeitaufwändig werden kann, was der Umsetzbarkeit natürlich abträglich ist. Mehrere der aufgelisteten Instrumente sind daher in digitaler Form aufbereitet und als electronic decision support tool bezeichnet [19, 20]. Der Vorteil davon liegt auf der Hand: Es kann direkt auf Datenbanken zugegriffen werden (zum Beispiel zu Fragen der Evidenz oder der Interaktion), und das Instrument kann in eine bestehende digitale Plattform oder elektronische Krankenakte integriert werden. Erfreulicherweise werden aktuell die meisten dieser Ansätze [17-21] mittels cluster-randomisierter klinischer Studien auf ihre Anwendbarkeit und Wirksamkeit hin weiterverfolgt, mit relevanten klinischen Endpunkten. Allerdings zeigt eine im März 2016 publizierte Metaanalyse [24], dass die Diversität der Interventionen hoch und es darum schwierig ist, einen wirksamen guten Standard zu definieren oder die Wirksamkeit der Interventionen bezüglich harter klinischer Endpunkte zu beweisen zum gleichen Resultat waren Cochrane-Reviews 2012 und 2014 gekommen: "It is unclear whether interventions to improve appropriate polypharmacy, such as pharmaceutical care, resulted in clinically significant improvement; however, they appear beneficial in terms of reducing inappropriate prescribing" [25, 26]. Nach all dieser Komplexität sind in Tabelle 3 einige Ansätze aufgelistet, die auf eine kreative Weise darauf aufbauen, eine andere Perspektiven einzunehmen und den Medikamenteneinsatz kritisch zu hinterfragen im Sinne eines pragmatischen Denkanstosses, der sich einfach und direkt auf die praktische Arbeit anwenden lässt! Unterbehandlung Polypharmazie assoziieren wir mit Überbehandlung ( zuviel des Guten ). Irritierender Fakt ist aber, dass Polypharmazie oft gleichzeitig mit Unterbehandlung vorkommt. So waren in einer niederländischen Studie 43% der polypharmazierten geriatrischen Patienten unterbehandelt, ihre
11 10 nicht-polypharmazierten Kontrollpatienten jedoch in nur 13.5% (OR 4.8, 95%-CI ) [27]. Aus dieser Erkenntnis heraus entstanden Instrumente, die eben nicht nur ein Absetzen, sondern auch - falls indiziert, aber nicht im Einsatz - das Starten eines Medikaments suggeriert, zum Beispiel der START-Algorithmus aus Irland [28]. Obwohl dies paradox scheint, müssen wir akzeptieren, dass eine moderate Polypharmazie beim multimorbiden Patienten auch einmal adäquat sein kann, solange sie sich mit den Behandlungszielen deckt. Daraus ergibt sich zwanglos, dass es nicht das oberste Ziel ist, die Anzahl der Medikamente zu reduzieren, sondern nur die inadäquat eingesetzten. Die optimale Patientenbetreuung stützt sich demnach auf das Optimieren der Medikation und erschöpft sich nicht einfach im Reduzieren der Medikationslisten. Therapieziele Die Bewertung, ob die Indikation für ein Medikament korrekt ist, schliesst auch das Therapieziel mit ein. Ist es beispielsweise beim älteren Diabetiker mit arterieller Hypertonie indiziert, ein zweites Antihypertensivum einzusetzen, wenn sein Blutdruck bei 150/90mmHg liegt? Und ist ein HbA1c von 6.5% in diesem Alter und Lebenserwartung adäquat, oder dürfen wir ein weniger scharfes Therapieziel verfolgen? Neuere Guidelines berücksichtigen, dass eine allzu strikte Einstellung bei älteren Menschen mehr Nachteile (Hypoglykämien) als Vorteile hat und empfehlen in dieser Situation durchaus ein HbA1c um 8% [29]. Beim Blutdruck sind die Empfehlungen ähnlich lockerer geworden fürs höhere Lebensalter und bei Komorbiditäten: Von der Rotterdam-Kohorte konnten wir lernen, dass ein Therapieziel von 150/90mmHg für ältere Patienten (über 80 Jahre) durchaus genügt [30]. Die vielzitierte SRPINT-Studie [31] hingegen propagiert aufgrund kleiner Benefits (0.5% absolute Risikoreduktion für einen kombinierten Endpunkt kardiovaskulärer Ereignisse) wieder eine schärfere Einstellung unter 120mmHg systolisch; allerdings ist dieser Nutzen erkauft durch ernsthafte
12 11 adverse Ereignisse durch die intensivierte Medikation, in der Grössenordnung von 0.6 bis 2.2%. Eine neue Arbeit von anfangs 2016 [32] zeigt wiederum, dass auch bei jüngeren Diabetikern die antihypertensive Behandlung nur dann erfolgreich hinsichtlich Mortalität, Myokardinfarktrate oder Entwicklung einer Herzinsuffizinz ist, wenn der Ausgangswert über 140mmHg systolisch liegt, nicht aber, wenn dieser tiefer liegt dann steigt nämlich die kardiovaskuläre Mortalität wieder an. Das Thema bleibt weiterhin kontrovers, jedenfalls ist eine gute Portion Zurückhaltung und Vorsicht beim Festlegen der Therapieziele zugunsten unserer Patienten angesagt. Hindernisse, und Strategien dagegen Bei all diesen Abwägungen spielen Lebenserwartung und Gebrechlichkeit (frailty) eine grosse Rolle: Wird der Patient, der nicht mehr allzu lange zu leben hat, überhaupt von der Wirkung eines Medikaments profitieren? Sich über seine eigene Restlebenserwartung Gedanken zu machen ist für viele nicht einfach. Dementsprechend schwer fällt es Patienten und auch Ärzten, übers Kürzen von "liebgewonnenen" Medikamenten zu reden [33-35]. Es gilt jedenfalls, den Eindruck der Entwertung ("es lohnt sich bei mir nicht mehr, Medikamente einzusetzen") oder des Sparzwangs zu vermeiden. In unserer konsumorientierten und technikgläubigen Gesellschaft scheint der Verzicht eine schwierige Aktion zu sein, was vielleicht auch mit dem psychologischen Effekt der Verlustaversion zusammenhängt. In unserem Pilottest [14] waren es immerhin ein Viertel der Patienten, welche die Änderungsvorschlägen ihres Arztes ablehnten. Den Grund für zögerliches Optimieren/Reduzieren von Medikationslisten gibt es also nicht, sondern eine Vielzahl davon, wie eine kürzlich publizierte systematische Review [36] ergab. Einige haben mit der Problemwahrnehmung und Selbstwirksamkeit von Ärzten zu tun: Nicht alle Ärzte trauen sich zu, die entstehenden anspruchsvollen Diskussionen (über Therapieziele, Lebenslänge etc) kommunikativ elegant zu meistern [34].
13 12 Eine weitere Barriere ist sicher die uns Ärzten zur Verfügung stehende, knappe Zeit. In unserem Pilotprojekt [14] konnten wir aber zeigen, dass im Durchschnitt 15 Minuten reichen, um ein systematisches Medikamentenreview durchzuführen, inklusive gemeinsamer Entscheidungsfindung mit dem Patienten. Ein weiteres Hindernis kann pekuniärer Natur sein: Gesprächsleistungen werden im aktuellen Tarifsystem gegenüber technischen Leistungen nicht sehr gut abgegolten, und wenn ein Arzt selbst Medikamente dispensiert, bringt er sich mit deren Reduktion um einen potentiellen Verdienst. Wenn es ums Abwägen verschiedener Therapieziele geht - zum Beispiel längeres Überleben versus Symptomlinderung - so kann folgendes Instrument nützlich sein [37]: Der Patient wird gebeten, auf einer vertikalen Skala zu gewichten, was ihm wichtiger und was weniger wichtig ist, zum Beispiel mit Schiebern. Natürlich kann man dasselbe auch rein verbal durchführen. Interessanterweise sind die von Fried et al. [37] vorgeschlagenen Begriffe exakt dieselben wie wir sie aus Patientenverfügungen kennen: Lebenslänge, Autonomie/Abhängigkeit, Schmerzkontrolle, Müdigkeit, Atemnot etc. Es können aber auch weitere Begriffe in dieses Tool eingesetzt werden. Mit oder ohne Skala zentral ist das Gespräch darüber, welche Ziele Patient und Arzt gemeinsam verfolgen wollen, und welches die wichtigsten davon sind. Herausforderungen und Ausblick Eine der Herausforderungen wird es sein, das kritische Bewerten von Medikamenten nicht nur in der Hausarztpraxis, sondern auch im stationären Bereich zu pflegen, besonders an der kritischen Schnittstelle bei Spitalaustritt. Genau aus diesem Grund haben wir als Forschergruppe ein Folgeprojekt zu unserem aktuellen RCT beim Schweizer Nationalfonds beantragt, bei dem es um dieses Setting "Spitalaustritt" geht. Eine weitere Herausforderung, aber durchaus im Trend der Interprofessionalität, ist die Frage, wie weit Medizinische Praxisassistentinnen
14 13 (Medizinische Fachangestellte, "Praxishelferin") oder eine Pflegefachfrau im Heim oder Spital in diese Tätigkeit eingebunden werden soll. Wenn ich an den jeweiligen Fachhochschulkursen das Thema lehre, plädiere ich jeweils für eine möglichst aktive intellektuelle Mitarbeit: Mitdenken, Vorschläge erarbeiten, wachsam sein für AUW oder lange Medikationslisten kann Leben retten. Eine weitere grosse Herausforderung ist, dass wir nicht immer die neuesten und besten Daten während der Sprechstunde zur Verfügung haben, um Schaden gegenüber Nutzen beim einzelnen Medikament und bezogen auf den individuellen Patienten abzuwägen. Da bleibt letztlich ein Spielraum, den nur professionelle Erfahrung und Intuition gemeinsam mit dem Patienten füllen kann. Abbildungen (Legenden) Abbildung 1. Verteilung der UAW nach Medikamentenklassen [6]. OAK = orale Antikoagulantien, Tc-Hemmer = Thrombocytenaggregationshemmer, ZNS = zentralnervös wirksame Agentien (inklusive Psychopharmaka und zentrale Analgetica), Kardiaka = kardiovaskulär regulierende Agentien (inklusive Antihypertensiva)
15 14 Tabellen Tabelle 1: Anzahl möglicher Kombinationen bei wachsender Anzahl gleichzeitig eingenommener Medikamente [2] Anzahl gleichzeitig eingenommener Medikamente Anzahl möglicher Kombinationen und damit Interaktionen Tabelle 2: Review-Algorithmus für jedes Medikament [14] [15], in Anlehnung an den Good Palliative-Geriatric Practice (GPGP) [13] Schlüsselfrage Ist die Indikation für das Medikament gegeben, d.h. valide und relevant für das Alter und die Antwort und Reaktion Falls nein: Medikament stopp Falls ja: weiter zur nächsten Frage Erkrankung des Patienten? Ist der (potentielle) Nutzen des Medikamentes grösser als (potentielle oder bereits bestehende) Falls nein: Medikament stopp Falls ja: weiter zur nächsten Frage Nebenwirkungen, bei diesem Patienten? Kann die Dosis ohne signifikante Einbusse an Nutzen reduziert werden? Gibt es eine Alternative, die dem aktuell eingesetzten Medikament überlegen ist? Falls ja: Dosis reduzieren Falls nein: weiter zur nächsten Frage Falls ja: Medikament wechseln Falls nein: aktuelles Medikament weiter
16 15 Tabelle 3: Verschiedene Ansätze, wie wir mit Polypharmazie umgehen können. Priorisieren der Medikamente, je nach Beschwerden / Therapiezielen Nutzen gegen Schaden abwägen (Primum nil nocere!) Rest-Lebenserwartung und Latenz der Medikamentenwirkung beachten Verschreibungskaskaden vermeiden Peer Reviewing, z.b. durch Stellvertreter, eröffnet neue Perspektiven Rollentausch: Würde ich als Patient so viele Medikamente einnehmen? Reduzierte Nierenfunktion im Alter beachten, tiefe Dosierungen anstreben Interaktionen beachten Unangebrachte Medikamente stoppen (Negativlisten) Komorbiditäten beachten (z.b. Diuretica bei Sturzneigung meiden) Referenzen 1. Neuner-Jehle Stefan. Wie vermeide ich Polypharmazie in Praxis und Spital? Internistische Praxis 2016; in press (ist nach Publikation whs. im November 2016 zu präzisieren) 2. Haefeli W (2011) Polypharmazie. Swiss Med Forum 11: Lau DT, et al (2005) Hospitalization and death associated with potentially inappropriate medication prescriptions among elderly nursing home residents. Arch Intern Med 165: Frazier SC (2005) Health outcomes and polypharmacy in elderly individuals: an integrated literature review. J Gerontol Nurs 31: Viktil K, et al (2006) Polypharmacy as commonly defined is an indicator of limited value in the assessment of drug-related problems. Br J Clin Pharmacology 63: Budnitz DS, et al (2011) Emergency hospitalizations for adverse drug events in older americans. N Engl J Med 365: Zhang M, et al (2009) Co-morbidity and repeated admission to hospital for adverse drug reactions in older adults. BMJ 338:a Corsonello A, et al (2007) On behalf of the Gruppo Italiano di Farmacovigilanza nell Anziano (GIFA) investigators. Polypharmacy in elderly patients at discharge from the acute care hospital. Ther Clin Risk Management 3: Hughes L, et al (2013) Guidelines for people not for diseases: the challenges of applying UK clinical guidelines to people with multimorbidity. Age Ageing 42: Fick DM, et al (2003) Updating the Beers criteria for potentially inappropriate medication
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