Strapazierte Generationensolidarität?
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- August Kalb
- vor 6 Jahren
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1 CARE- zwischen Betreuung, Pflege und Abgrenzung Strapazierte Generationensolidarität? Pflegende Töchter und Söhne zwischen Sollen und Können Prof. Dr. Pasqualina Perrig-Chiello " 1 Ausgangslage Schweiz 2011: sehr hohe Lebenserwartung 2
2 Auswirkungen auf die Generationenbeziehungen in Gesellschaft und Familie Viele offene Fragen, Verunsicherungen und Vorurteile Die grundlegenden demographischen und gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte haben die Generationenbeziehungen verändert. Herausforderung, Chance oder ein Problem? Ende des Generationenvertrags? Ende der familialen Solidarität? Generationenkrieg? 3 Wer hilft und pflegt hochaltrige Menschen? Familiale Hilfs- und Pflegeleistungen in der Schweiz gesellschaftlich und privat erwartet In der Schweiz zeigt sich eine starke Diskrepanz zwischen Familienideologie und Pflegerealität. Die Pflegerealität zeigt viele Gemeinsamkeiten mit skandinavischen Ländern (vermehrte Professionalisierung und Institutionalisierung), hingegen herrscht bezüglich kultureller Normen eine starke Nähe zu familienbasierten Pflegemodellen vor (Pflege als private, familiale Angelegenheit). Gefordert sind Partner und Partnerinnen, aber auch die erwachsenen Kinder, die selber durch Familie und Beruf stark beansprucht sind. 4
3 Zu Hause bleiben bis am Ende - ein universelles Grundbedürfnis Die zentrale Bedeutung des zu Hause bleiben Könnens - trotz oder gerade auch bei Krankheit und Behinderung: > Die Bedeutung von Intimität, Nähe, Privatheit > Die Bedeutung der eigenen Rhythmen > Die Bedeutung von Autonomie und Selbstbestimmung > Die Bedeutung intergenerationeller familialer Solidarität > Die zunehmende Individualisierung und Singularisierung verstärken die Tendenz. 5 Erstmals eine aussagekräftige Datenbasis Ein Forschungsprojekt Pflegebedürftigkeit und informell Pflegende in der Schweiz Analyse grosser nationaler Datensätze Befindlichkeit, Probleme, Ressourcen Pflegender Fremd- und Selbstwahrnehmung Fragebogenstudie und qualitative Interviews Ableitung künftiger Entwicklungen 6
4 Leben zu Hause: Schweiz Trend Alter % 99% % 98% % 96% % 90% % 78% % 62% % 55% 7 Wer sind die pflegenden Angehörigen älterer Menschen? Verwandtschaftliches Verhältnis zur gepflegten Person Pflegende Bezugsperson Romandie Italienischsprechend Deutschschweiz Kind 38% 57% 36% (Ehe-) Partner/in 51% 34% 54% Schwiegertochter/- 3% 2% 4% sohn Andere 8% 7% 6% 8
5 Pflegende Angehörige im innerschweizerischen Vergleich Das PartnerInnen-Pflegesetting ist in der Deutschschweiz und in der Romandie viel stärker vertreten als in der italienischsprechenden Schweiz, wo das Tochter-Kind- Pflegesetting vorherrschend ist. Der Anteil der pflegenden Männer variiert beträchtlich nach Sprachregion: In der Romandie beträgt er rund ein Viertel, in der italienischsprechenden Schweiz ein Sechstel und in der deutschsprachigen Schweiz beträgt er mehr als ein Drittel. => Kulturelle Unterschiede in der Interpretation familialer Rollen, aber auch unterschiedliches Geschlechtsrollenverständnis 9 Die hilfs- und pflegebedürftigen Personen Demenzkranke nach Pflegesetting und Region 100% 80% Demenz keine Demenz weiss nicht % % 70 20% % PartnerInnen Kinder PartnerInnen Kinder PartnerInnen Kinder Deutschschweiz Romandie Ital. Schweiz 10
6 Primärer Stressor Zeitinvestment in Hilfe und Pflege durch die Angehörigen Ist-Wunsch-Zustand/Deutschschweiz 11 Zeitinvestment für Hilfe und Pflege durch die Angehörigen Ist- und Wunschzustand/ in Stunden pro Woche/latein. Schweiz Stunden pro Woche Investierte Zeit pro Woche (alle Antworten) Gewünschtes Zeitinvestment 20 0 PartnerInnen Kinder PartnerInnen Kinder Romandie Italienischspr. Schweiz 12
7 Belastung pflegender Angehöriger Die Sicht der Spitex-Mitarbeiterinnen 13 Wichtigster sekundärer Stressor Chronischer Stress 14
8 Auszeit Bedürfnisse und Möglichkeiten Prozent Partner Parterinnen Söhne Töchter Ja, ich habe jetzt oder immer wieder mal eine Auszeit nötig Ja, es gibt jemand, der für mich einspringen würde wenn ich eine Auszeit brauche 15 Die gestresste mittlere Generation Hohe Ansprüche ernüchternde Realität Pflegebedürftigkeit alter Eltern führt zu oft ambivalent erlebten Rollenumkehrungen (alte Eltern müssen von ihren Kindern gepflegt werden). So ist das Pflichtgefühl sehr hoch, den Eltern zu helfen, wenn diese Unterstützung brauchen. Gleichzeitig äussert eine Mehrheit, dass die Eltern zu viel erwarten und zu wenig die Hilfe schätzen. Und fast die Hälfte der Töchter beklagt, dass die Eltern nicht realisieren würden, dass sie sich auch um die eigenen Partner kümmern müssen. 16
9 Pflege der Eltern ein zweiter Vereinbarkeitskonflikt Familie/Beruf - Viele Jährige (vor allem Frauen) erleben einen zweiten beruflich-familialen Vereinbarkeitskonflikt (Beruf/Pflege alter Eltern): - Hohe moralische Verpflichtung, geringe Unterstützung und Wertschätzung, schwindende berufliche Optionen. - Bei den pflegenden Töchtern fällt auf, dass sie aufgrund ihrer Pflegetätigkeit in ihrer Berufsausübung eingeschränkt wurden. - So geben zwei Drittel an, ihr Arbeitspensum reduziert zu haben und 16 Prozent gaben gar den Job auf. 17 Pflegemotive: eine komplexe Angelegenheit Was ist der Grund, weshalb Sie pflegen? 18
10 Pflichtgefühl, Hilfsbereitschaft und elterliche Erwartungen Anzahl zustimmende Antworten in Prozent Jedes Kind hat die Pflicht, seinen Eltern zu helfen, wenn diese Unterstützung brauchen. Wenn mich meine Eltern um Hilfe bitten, fühle ich mich verpflichtet, ihnen zu helfen. Wenn ich meine Eltern nicht die Hilfe geben kann, die sie benötigen, fühle ich mich schuldig. Söhne Töchter Total Meine Eltern schätzen zu wenig, was ich für sie tue Meine Eltern erwarten zu viel Hilfe von mir Meine Eltern realisieren nicht, dass ich mich auch um meinen Mann/meine Frau kümmern muss. Ich habe das Gefühl, meinen Eltern zu viel helfen zu müssen Was bringt wohl die Zukunft? 20
11 Herausforderung hohes Alter Die demographische Alterung wurde lange unterschätzt Szenarien zur Entwicklung der Lebenserwartung in der CH bis 2050 Projektierte Lebenserwartung ab Geburt in Jahren Männer Frauen Bundesamt für Statistik Bundesamt für Statistik Häufigkeit demenzieller Störungen pro 100 Personen (Prävalenzdaten) Jahre % 2010: rund ältere demenzerkrankte Menschen 2020: nahezu betroffene Menschen EuroCoDe (European Collaboration on Dementia, Prevalence of Dementia in Europe, Workpackage 7/06, Final Report, 7.Aug (mimeo.) 21! Trends Informelle Pflege: Wer wird pflegen? Wenig Geburten und Langlebigkeit führen zu mehr Bohnenstangen-Familien. Damit verteilt sich informelle Pflege zunehmend oft auf eine Tochter oder einen Sohn. Die Töchter sind allerdings zunehmend beruflich engagiert, geschieden, etc. Der Anteil an alten Personen ohne Nachkommen steigt an. Berufstätigkeit (auch in wichtigen Funktionen) und Scheidungsraten von Frauen zwischen 40 und 60 nehmen stark zu. 22
12 Trends Partnerbeziehung grosse Geschlechterunterschiede %-Anteil in Paarbeziehung * (nach Alter und Geschlecht 2010): Männer 83% 83% 80% 71% 62% 48% Frauen 64% 56% 43% 32% 18% 10% * Verheiratet oder unverheiratet zusammenlebend 23 Trends Partnerbeziehungen in der 2. Lebenshälfte für Männer wird bis ans Ende gesorgt 24
13 Trends Ausserfamiliäre und ambulante Unterstützung werden zunehmend wichtig Teilweise - und in Zukunft vermehrt - werden familiale Beziehungen durch ausserfamiliale Beziehungen (Freundschaften, Nachbar schaften) ergänzt. Wahlverwandtschaften werden wichtiger. Ausbau der Unterstützung durch Freunde, Nachbarn oder Freiwillige ist nur realistisch, wenn auch die professionellen Angebote ausgebaut werden. Ein Ausbau der ambulanten Pflege (Spitex) führt nicht zur Verdrängung intergenerationeller Unterstützung, sondern stärkt die familialen Generationenbeziehungen. Gleichzeitig zeigt sich ein Trend zur Spezialisierung: Angehörige leisten primär informelle Hilfe, Professionelle leisten primär (intime) Pflegeleistungen. 25 Handlungsfelder Wie Können und Sollen vereinbaren? Sozialpolitische Ebene: Bereitstellung von Entlastungsmöglichkeiten und Information Institutionelle Ebene: Professionalisierung, Erweiterung und Flexibilisierung des Spitex-Angebots Alternative Angebote: teilstationäre Angebote Individuelle Ebene: Information und Stärkung der Kompetenzen von pflegenden Angehörigen 26
14 Sozialpolitische Ebene Bereitstellung von Entlastungsmöglichkeiten und Information Familiale Pflege ist nicht nur Privatsache! Flexible Entlastungsangebote für pflegende Angehörige sind gefragt. > Es fehlen die nötigen Entlastungsmöglichkeiten; allfällig vorhandene Entlastungsangebote sind den Adressaten entweder unbekannt oder werden von diesen nur zurückhaltend und erst dann in Anspruch genommen, wenn die Leute an den Grenzen ihrer Belastbarkeit angelangt sind. > Die Bereitstellung eines Angebotes an Tages- oder Nachtstrukturen ist ein wichtiges Glied in der Versorgungskette der Betreuung pflegebedürftiger alter Menschen zwischen familialer ambulanter Betreuung und stationärer Betreuung. > Was ferner von pflegenden Angehörigen als entlastungsrelevant angesehen aber vielfach nicht erschwinglich erachtet wird, sind hauswirtschaftliche Hilfeleistungen. 27 Institutionelle Ebene/Spitex/Pro Senectute/SRK... Professionalisierung, Erweiterung und Flexibilisierung des ambulanten Pflegeangebots Monierte Punkte trotz hoher Zufriedenheit mit Spitex: der häufige Wechsel der ambulanten Pflegeperson, Kommunikationsprobleme, fehlende Zeit und falsche Erwartungen. In den meisten Pflegesettings fehlt zudem ein Case-Management, welches helfen könnte, die Arbeit der in die Pflege eingebundenen Personen zu koordinieren. Empfehlenswert sind in der Konsequenz auch regelmässige Standortgespräche im Pflegesetting selbst. Sie dienen der kontinuierlichen Evaluation der Zusammenarbeit von professioneller ambulanter Pflege und informeller Pflege. Sie erlauben rechtzeitig ein Einschätzen der Rahmenbedingungen informeller Pflege. 28
15 Individuelle Ebene Information und Stärkung der Kompetenzen von pflegenden Angehörigen Die SwissAgeCare-Studie hat gezeigt, dass insbesondere stark belastete pflegende Angehörige mangelnde Information bzw. zu wenig Kompetenzen haben bezüglich: > Vermeidung sekundärer Stressoren (Anpassung des Zuhauses an die Betreuungssituation durch pflegetechnische Massnahmen, Information über allfällige finanzielle Ansprüche wie Hilflosenentschädigungen, Entlastungsmöglichkeiten, etc.); > Stärkung psychischer und sozialer Ressourcen (Selbsthilfegruppen und Austausch mit anderen Betroffenen, Thema Burn-out, Lernen Hilfe anzunehmen, Umgang mit Ambivalenz und Schuldgefühlen, Self-Care) als auch körperlicher Ressourcen (rückenschonendes Arbeiten etc.) !
16 Literatur Perrig-Chiello, P. & Höpflinger, F. (Hrsg.)(im Druck). Pflegende Angehörige in der Schweiz.Bern: Huber Perrig-Chiello, P. & Hutchison, S. (2010). Familial caregivers of elderly persons. A differential perspective on stressors, resources, and well-being. GeroPsych, The Journal of Gerontopsychology and Geriatric Psychiatry,23,4, Perrig-Chiello, P., Hoepflinger, F., & Schnegg, B. (2010). Pflegende Angehörige von älteren Menschen in der Schweiz. Fachunterlagen 31 Pflegequoten: Anteil pflegebedürftiger Personen 2008 in der Schweiz Alter: Alle Männer Frauen Quelle: Höpflinger, Bayer-Oglesby, Zumbrunn
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