Epidemiologische Aspekte der psychotherapeutischen Bedarfsplanung Theoretischer Hintergrund und Daten aus der Versorgungsanalyse Eva Bitzer*, Thomas Grobe und Hans Dörning ISEG Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitssystemforschung Hannover/Witten *und Pädagogische Hochschule Freiburg, Gesundheitspädagogik Was erwartet Sie? Theoretische Einführung: Bedarf und Nachfrage in der gesundheitlichen Versorgung Wie kann man Bedarf erheben? Was sagen Abrechnungsdaten von Krankenkassen zum Bedarf an psychotherapeutischer Versorgung? Theorie des Bedarfs Basierend auf dem Gutachten des Sachverständigenrates zur Unter-, Über- und Fehlversorgung aus dem Jahr 2000 (vgl. auch Schwartz & Bitzer 2002) Bedarf im SGB V Bedarfsgerechte Versorgung (SGB V 70) Bedarfspläne zur ambulanten Sicherstellung (SGB V 99) Bedarfsgerechte Krankenhausversorgung (KHG) Aber: Keine Konkretisierung des Bedarfsbegriffs oder seiner Kriterien Wissenschaftlicher Kontext Bedarf Nachfrage Nutzung / Inanspruchnahme Angebot Bedarf und Nachfrage Angebot vorhanden Nachfrage = Subjektiver Wunsch nach Leistungen Inanspruchnahme = Subjektiver Bedarf = Bedürfnis Kein Angebot Latente Nachfrage 1
Bedarf in der Gesundheitsversorgung Subjektiver Bedarf Betroffener, Patient Bedarf in der Gesundheitsversorgung Subjektiver Bedarf Krankheit oder Behinderung Profession, Wissenschaft Krankheit oder Behinderung Nicht notwendig deckungsgleich Behandlungsbedarf Profession, Wissenschaft Existenz geeigneter Behandlungsverfahren Behandlungsbedarf Geeignete Behandlungsverfahren: aussichtsreich & mit vertretbaren Risiken Latenter Bedarf = objektiver Bedarf ohne subjektiven Bedarf Bedarf in der Gesundheitsversorgung Subjektiver Bedarf Krankheit oder Behinderung Behandlungsbedarf = Bedarf in der Gesundheitlichen Versorgung Gesellschaftl./kultureller Kontext Bedarf in der Gesundheitsversorgung Bedarf ist ein Zustand, dessen Behandlung durch spezifizierbare Maßnahmen gesundheitlichen Nutzen erwarten lässt. Bedarf und Inanspruchnahme in der GKV Abhängig von der Nachfrage (dem subjektiven Bedarf) ist allein die initiale Inanspruchnahme ärztlicher/psychotherapeutsicher Beratung. Alle weitergehenden Maßnahmen der Diagnostik und Therapie unterliegen den An- und Verordnungen der Ärzte und Psychotherapeuten mit informierter Einwilligung des Patienten. Bedarf und Inanspruchnahme in der GKV D.h. der objektivierte Bedarf (d.h. Feststellung von Erkrankung und Behandlungsbedarf) liegt bei (niedergelassenen/ im Krankenhaus tätigen) Ärzten und Psychotherapeuten Allerdings müssen ärztliche Entscheidungen nachprüfbar sein, d.h. objektiv nachvollziehbaren Sachfeststellungen und allgemein anerkannten Regeln bzw. dem Stand der Medizin entsprechen. 2
Erhebung des Bedarfs an Psychotherapie Subjektiver Bedarf Krankheit oder Behinderung Behandlungsbedarf Befragung z.b. Diagnostisches Interview Wie hoch ist der Bedarf? Mögliche Datenquellen Bundesgesundheitssurvey 1998 Zusatzmodul Psychische Störungen Telefonische Gesundheitssurveys des Robert-Koch-Institutes (weniger ausführlich) Kinder- und Jugendgesundheitssurvey Alterssurvey? Psychische Störungen Ein-Jahres-Prävalenz (18-65 Jahre) Verhaltensauffälligkeiten 11-17 Jährige (KIGGS-SH) Somatoforme Störungen (F45) Affektive Störungen (F3) Gesamt Frauen Männer Störungen d. psychotrope Substanzen (F1) Angststörungen (F40 - F42) Irgendeine psychische Störung (F0 - F99) 0% 5% 10% 15% 20% 25% 30% 35% 40% BGS 1998 nach RK 2010, 18-65 Wiesbaden, Jahre 29. Oktober 2010 Hyperaktivität 11-17 Jährige (KIGGS-SH) Probleme Bundesweit repräsentativ, aber nicht ausreichend detailliert für kleinräumige Analysen Beispiel KIGGS: Schleswig-Holstein-Modul 1.900 einbezogene Kinder 200 aus dem bundesweiten Survey 1.700 aus zusätzlichen Stichproben 3
Daten aus der Versorgung Bedarf und Nachfrage Abrechnungsdaten Daten aus der Abrechnung zwischen Leistungserbringern und Krankenkassen Ambulante Arztkontakte, Arbeitsunfähigkeit Krankenhausaufenthalte Ambulante Psychotherapie Inanspruchnahme Angebot vorhanden Nachfrage = Kein Angebot Subjektiver Wunsch nach Leistungen Inanspruchnahme = Subjektiver Bedarf = Bedürfnis Latente Nachfrage Vorteile von Abrechnungsdaten Flächendeckend und kontinuierlich über mehrere Jahre verfügbar Nennerbezogen Regionalbezug gegeben Große Fallzahlen (bei großen Kassen) Ergebnisse aus mehr als 10 Jahren Versorgungsforschung auf der Basis von Routinedaten. Veröffentlicht in den Gesundheitsreports der Techniker Krankenkasse, Gmünder Ersatzkasse, KKK-Allianz und BARMER GEK Was verraten Abbrechnungsdaten der GKV über den Bedarf an psychotherapeutischer Versorgung? Ergebnisse zu Fall- und Diagnosehäufigkeit Verweildauer und Fehlzeiten Arzneimittelverordnungen Regionale Analysen 4
Fallhäufigkeit und Diagnoserate Diagnoserate ambulant 2008: 29,2% Krankenhausfälle 2009: 12,4 je 1000 VJ AU-Fälle 2009: 44 je 1000 VJ Fallhäufigkeit und Diagnoserate Diagnoserate ambulant 2008: 29,2% Krankenhausfälle 2009: 12,4 je 1000 VJ Psychische Erkrankungen rangieren im Mittelfeld der Diagnosekapitel AU-Fälle 2009: 44 je 1000 VJ Krankengeldfälle: 6,6 je 1000 VJ Krankengeldfälle: 6,6 je 1000 VJ Krankenhausfälle (je 1000 VJ) Anteil mit ambulanter Diagnose im KJ KH-Fälle (je 1000 VJ) 30,0 25,0 20,0 15,0 10,0 5,0 7,3 12,4 Anteil mit Diagnose im KJ (in %) 9,0 8,8 8,6 8,4 8,2 8,0 7,8 7,6 7,4 7,2 Platz 15 unter allen 3stelligen Einzeldiagnosen 8,2 7,7 8,1 8,4 8,1 8,1 Platz 24 unter allen dreistelligen Einzeldiagnosen 8,6 7,9 0,0 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 7,0 2004 2006 2007 2008 F32 F45 II V IX XIII Fallhäufigkeit und Diagnoserate Relative Veränderungen bei KH-Fällen 180,0 psychischer Störungen nehmen im zeitlichen Verlauf deutlich zu! Relative Veränderungen (1999 = 100%) 160,0 140,0 80,0 60,0 169,9 141,9 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 II V IX XIII 5
Relative Veränderungen bei ambulanten Diagnosen Relative Veränderungen bei AU-Fällen (Berufstätige) 140,0 Relative Veränderungen (2004 = 100%) 115,0 110,0 105,0 95,0 90,0 112,9 105,8 102,1 2004 2005 2006 2007 2008 Gesamt Frauen Männer Relative Veränderungen (2000 = 100%) 130,0 110,0 90,0 80,0 70,0 60,0 136,0 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 II V X XIII Relative Veränderungen bei KG-Fällen (Berufstätige) Relative Veränderungen (2002 = 100%) 130,0 110,0 90,0 80,0 70,0 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 II V XIII XIX Verweil- und Fehlzeiten Die besondere Bedeutung psychischer Erkrankungen resultiert maßgeblich aus ausgesprochen langen Verweilzeiten in Krankenhäusern (KH-Tage) sowie exorbitanten Fehlzeiten (AU- und KG-Tage) Krankenhaustage (je 1000 VJ) KH-Tage (je 1000 VJ) 350,0 Seit 2006 insgesamt Rang 1 unter allen Diagnosekapiteln 300,0 268,0 250,0 201,0 200,0 150,0 Seit 2007 sowohl bei Frauen als auch bei Männern Rang 1 50,0 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 II V IX XIII Anteil an allen KH-Tagen (in %) Anteil mit Diagnose im KJ (in %) 3,5 3,0 2,5 2,0 1,5 1,0 0,5 0,0 1,5 1,2 Platz 1 unter allen 3stelligen Einzeldiagnosen 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 F20 F32 F33 F43 3,0 2,9 Platz 2 unter allen 3stelligen Einzeldiagnosen 6
AU-Tage je VJ (Berufstätige) AU-Tage je VJ (Berufstätige) 3,0 2,5 2,0 1,5 1,0 1,14 0,5 1,70 Rang 3 unter den Diagnosekapiteln KG-Tage je VJ (Berufstätige) KG-Tage je VJ (Berufstätige) Seit 2008 insgesamt Rang 1 unter allen Diagnosekapiteln 1,2 1,00 1,0 0,8 0,64 0,6 0,4 0,2 0,0 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 0,0 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 II V X XIII II V XIII IX Relative Veränderung der Verweil- und Fehlzeit Relative Veränderungen (in %) 60 56,3 49,1 50 40 33,3 30 20 10 0 KH-Tage AU-Tage KG-Tage (1999 bis 2009) (2000 bis 2009) (2002 bis 2009) Krankheitsgeschehen nach Geschlecht und Alter Ambulante Diagnosen Medikamentenverordnungen Diagnose F09-F99 nach Alter und Geschlecht (Erwerbspersonen) Betroffene je 1.000 Erwerbspersonen im Jahr 2006 400 350 300 250 200 150 100 50 Männer Männer AU Beliebige psychische Störung (F00-F99) Frauen Frauen AU Diagnose Depression nach Alter und Geschlecht (Erwerbspersonen) Betroffene je 1.000 Erwerbspersonen im Jahr 2006 200 180 160 140 120 100 80 60 40 20 Männer Männer AU Depressionen insgesamt Frauen Frauen AU 0 0 15-20- 25-30- 35-40- 45-50- 55-60-64 Altersgruppe 15-20- 25-30- 35-40- 45-50- 55-60-64 Altersgruppe 7
Diagnose Somatoforme Störungen nach Alter und Geschlecht (Erwerbsp.) Betroffene je 1.000 Erwerbspersonen im Jahr 2006 200 180 160 140 120 100 80 60 40 20 0 Männer Männer AU Somatoforme Störungen Frauen Frauen AU 15-20- 25-30- 35-40- 45-50- 55-60-64 Altersgruppe Antidepressiva Verordnungen 20% Frauen 2003 18% Frauen 1998 16% Männer 2003 Männer 1998 14% 12% 10% 8% 6% 4% 2% 0% 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 Psychische Störungen treten in allen Leistungsbereichen bei Frauen häufiger auf als bei Männern nehmen bis zum Renteneintritt bei beiden Geschlechtern kontinuierlich zu werden ambulant deutlich häufiger diagnostiziert als das sie zur Arbeitsunfähigkeit führen Ergebnisse mit Regionalbezug Diagnosehäufigkeit in der ambulanten ärztlichen Versorgung Verordnungshäufigkeit von Anti- Depressiva Einflussfaktoren auf die Diagnosehäufigkeit Abweichung der beobachteten von der erwarteten Diagnoserate Depressionen in Bundesländern (GEK 1. Quartal 2004, ohne Schleswig- Holstein, indirekte Alters- und Geschlechtsstandardisie rung Werte; n=1.223.557) An der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmende Psychologische Psychotherapeuten pro 100.00 Einwohner Quelle: GBE-Themenheft 41 Quelle: Grobe & BramesfeldWiesbaden, 2008 29. Oktober 2010 8
Abweichung der beobachteten von der erwarteten Verordnungsrate Antidepressiva in Bundesländern (GEK 1. Quartal 2004, indirekte Alters- und Geschlechtsstandardisieru ng; n=1.299.154) Bedarf & Inanspruchnahme Diagnosehäufigkeiten und medikamentösen Behandlungsraten variieren im Hinblick auf Depressionen auf Bundeslandebene um etwa 50%. In den Neuen Bundesländern finden sich durchgängig sowohl Diagnose- als auch Behandlungsraten, die um mehr als 20% unter den Werten liegen, welche aufgrund der spezifischen Alters- und Geschlechtsstruktur zu erwarten wären. Quelle: Grobe & BramesfeldWiesbaden, 2008 29. Oktober 2010 Die gleichgerichteten Ergebnisse zu beiden Erhebungsparametern sprechen für die Annahme eines reduzierten Erkrankungsrisikos im Hinblick auf Depressionen in den Neuen Bundesländern. Fazit Sowohl stationär als auch ambulant nimmt die Relevanz psychischer Erkrankungen im Zeitverlauf deutlich zu Die besondere Relevanz resultiert dabei vornehmlich aus der Langwierigkeit der Krankheiten dokumentiert durch extreme stationäre Leistungstage sowie AU- und Krankengeldtage Fazit Die Inanspruchnahme psychiatrischer/psychotherapeutischer und medikamentöser Versorgung ist regional unterschiedlich ausgeprägt. Dies ist nur zum Teil durch die unterschiedliche Versorgungsstruktur erklärbar und deutet daher auch auf einen regional unterschiedlich ausgeprägten Bedarf hin. Danke für Ihre Aufmerksamkeit! 9