Lehrgebiet Entwerfen Prof. Jean Flammang SZ / RG im Sommersemester 2018: villa arpel revisited Das natürliche Maß des Menschen muss als Basis für alle Maßsstäbe dienen, die eine Beziehung zum Leben und zu den verschiedenen Funktionen des Daseins haben sollen. Die Skala der Maße, die auf Flächen oder Entfernungen anzuwenden sind, die Skala der Entfernungen, die in ihrer Beziehung zum natürlichen Verhalten des Menschen geprüft werden müssen, Maßstäbe für Stunden-Pläne, die bestimmt werden müssen, indem man den Tageslauf der Sonne berücksichtigt. Charta von Athen (1933) Ich bin überhaupt nicht gegen die moderne Architektur, aber ich glaube, dass man nicht nur eine Baugenehmigung benötigen sollte, sondern auch eine Wohngenehmigung. Jacques Tati (1972) Die Villa Arpel, Set von Jacques Tatis Mon Oncle (1958), wird gern als Karikatur der modernen Architektur bezeichnet. Tati und sein Ausstatter Jacques Lagrange haben dies allerdings entschieden zurückgewiesen. In der Tat entsteht hier die Komik weniger durch das Design an sich, als durch das Zusammentreffen mit seinen Benutzern, welche sich genötigt fühlen, Möbel und Architektur nicht als Gebrauchsgegenstände, sondern als Statements zu sehen. Dieses Phänomen einer absurden vorauseilenden Selbstentmündigung dürfte zeitlos sein. Vielleicht interessant, zu überlegen, wie heute, 60 Jahre später, das Anwesen einer Familie Arpel aussehen könnte. 1
Aufgabe Wie würde eine Villa Arpel heute aussehen? Was sind die Must-haves unserer Zeit, wie prägen, erleichtern oder erschweren sie unser Leben? Wenn man die Geschichte von Mon Oncle heute erzählen müsste, wie sähe das aus? Also Szenenbild. Auch bei dieser Aufgabe gibt es, nicht anders als bei Architektur- oder Bühnenbildentwürfen, die klassischen drei Phasen: Recherche, Entwurf und Darstellung. 1. Recherche Er (Tati) bat mich um eine Kulisse. Mittels internationaler Architekturzeitschriften, Schere und Kleber habe ich eine Montage gemacht. Ich habe von überall her Elemente genommen: Bullaugen, idiotische Pergolen, kurvige Wege, um das Grundstück größer erscheinen zu lasse. (...) Das alles war sehr genau überlegt. Es war das Nonplusultra. Es ist eine architektonisches Potpourri. Jacques Lagrange Zunächst einmal sollten Sie, nicht anders als ein Wissenschaftler und ein Künstler es tun würde, sammeln. Dabei werden Sie nicht umhin kommen, einiges an aktuellen Architektur- und Designpublikationen zu sichten, und zwar sowohl in Buch- als auch in Zeitschriftenform. Vor einer reinen Internetrecherche sei indes gewarnt: Ihnen fehlen Wissen und Distanz um das Relevante vom Irrelevanten zu unterscheiden. Im Sinne des auf Seite 1 Gesagten sollten Sie sich aber nicht nur mit dem zeitgenössischen Design, sondern auch mit den Verhaltensweisen bei dessen Benutzung auseinandersetzen. Dazu ist z.b. ausgiebiger Fernsehkonsum gut geeignet. Nicht zuletzt in der Werbung werden Sie stets über das gerade Angesagte auf dem Laufenden gehalten. Was den gelegentlich absurden Umgang mit modernen Medien, zum Beispiel Smartphones, angeht, würden wir zur Selbstbeobachtung raten. "Ich bin in eine Glastür gelaufen, im ersten Stock des Apple Park, als ich nach draußen gehen wollte, was ziemlich blöd war", berichtete ein Mitarbeiter dem Notruf. In zwei anderen Fällen berichten Mitarbeiter von Platzwunden und mehr oder minder schweren Blutungen. (...) Die von Norman Foster entworfene, umgerechnet 4,1 Milliarden Euro teure Apple-Zentrale besteht vor allem aus Glas. Im April soll sie endgültig fertiggestellt werden. Schon bei der Besichtigung Ende 2017 seien sieben Besucher gegen Glaswände gelaufen. (...) Post-it-Zettel, die vor der Verletzungsgefahr durch Glas warnen, würden "aus ästhetischen Gründen" wieder entfernt. (...) Auch die iphones der Mitarbeiter sollen an den Unfällen mit schuld sein. Einige der verunfallten Mitarbeiter hatten angeblich mehr auf ihr Smartphone geschaut, statt auf den Weg zu achten. aus: t-online.de, 06.03.2018 2. Entwurf Sie müssen alle Orte (Innenräume ebenso wie Außenanlagen, beides mit Möbeln und Requisiten) entwerfen, die für die in Mon Oncle gezeigten Villa-Arpel-Szenen benötigt werden. Umgekehrt gilt: alle Räume, die nicht im Bild sind, brauchen weder entworfen noch gebaut zu werden. (Beispiel: die Schlafzimmer der Villa Arpel werden im Film nicht gezeigt und sind deshalb auch nie gebaut worden genau genommen wäre auch gar kein Platz dafür vorhanden.) Klar ist, dass Sie sich, um den genauen szenischen Bedarf zu ermitteln, den Film mehrfach aufmerksam werden anschauen müssen, am besten mit einem Skizzen- und Notizbuch bewaffnet. Die DVD des Films ist bei ARTHAUS erschienen und kostet bei Amazon 9,29 ; als Blu-ray 11,99. Hilfreich ist es, wenn Sie sich ein sogenanntes Storyboard anfertigen, welches alle Szenen mit Ihren wesentlichen Bildeinstellungen festhält. 2
Links: aus dem Storyboard zu Hitchkocks The Birds (1963). Rechts sehen Sie die entsprechenden Filmszenen. Das Grundstück misst 30 x 30 m und ist ein Eckgrundstück, auf zwei Seiten an eine Straßenecke, auf den beiden anderen an bebaute Nachbargrundstücke grenzend. Die Lage von Eingang und Garagenzufahrt dürfen Sie straßenseitig frei wählen. Das gesamte Grundstück sollte von einer ca. 2,00 m hohen Mauer, Hecke o.ä. umgeben sein. Das ist wichtig, sonst müsste man die gesamte Umgebung ebenfalls als Kulisse bauen. 3. Darstellung Die Darstellungstechniken sind bei dieser Aufgabe freigestellt. CAD ist erlaubt, aber nicht Pflicht (könnte für die Perspektiven jedoch von Vorteil sein). Der gewählte Maßstab 1:50 bedeutet nicht, dass Sie korrekte Baupläne nach DIN anfertigen sollen. Bühnen- bzw. Setdesigner zeichnen zwar durchaus auch vermaßte Zeichnungen, diese liefern aber allenfalls grobe Größenangaben. Man kann in diesem Metier auf das Geschick und die Phantasie erfahrener Handwerker vertrauen. Im Übrigen muss das Ganze ja in der Regel nur für die Dauer der Dreharbeiten, d.h. wenige Wochen, halten. Selbst bei einem im Open-Air-Set, wie dem von Mon Oncle, muss man sich über baukonstruktive oder bauphysikalische Probleme wenig Sorgen machen. Sie dürfen nie vergessen: es sind nur Kulissen. Gebaut wird in der Regel aus Holz oder MDF, manchmal auch aus Aluminium. Die Kulissen sind, je nach Größe, zwischen 6 und 12 cm dick; ein Finish erhalten nur die Oberflächen, die später im Bild sein werden. Wie es dahinter aussieht, interessiert niemanden. Improvisation ist Trumpf. Umso wichtiger ist, dass Sie mit Ihren Zeichnungen und Modellen die Eindrücke vermitteln, die Sie nachher im Film sehen wollen. Das heißt, Sie müssen die Stimmung des Ganzen treffen. Ein guter Regisseur und ein guter Kameramann werden damit etwas anzufangen wissen. Der Eine oder die Andere wird darauf hinweisen, dass diese Art Filmarchitektur vielleicht etwas altmodisch ist. Wir wissen natürlich, dass heute vieles (aber eben längst nicht alles) am Computer hergestellt wird. Nicht jeder Film ist ein Hollywood-Blockbuster. 3
Ken Adam: Zeichnung zum War Room aus Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb von Stanley Kubrick (1964) Kulissen von Metropolis von Fritz Lang. Bauten: Otto Hunte, Erich Kettelhut, Karl Vollbrecht (1927) 4
Leistungen Zeichnungen: Grundriss Erdgeschoss einschl. Außenanlagen M. 1:50 Alle erforderlichen Schnitte bzw. Ansichten M. 1:50 6 Perspektiven im Format 1,85 : 1 o. M. Die Zeichentechnik ist freigestellt. Modell: Modell der Gesamtanlage auf einer Platte von 60 x 60 cm M. 1:50 Das Modell muss, anders als bei Architekturmodellen üblich, Informationen über Oberflächenbeschaffenheiten (Material, Struktur, Farbe) liefern. CD die CD muss enthalten: alle Blätter einzeln als PDF (Dateien bitte nicht zu groß) zusätzlich die Perspektiven einzeln, als JPEGs Slimcase incl. Cover mit: Bild nach Wahl, Titel des Entwurfs, Semesterangabe, Name des/der Verfassers/in bitte unbedingt auch die CD selbst entsprechend beschriften! Präsentation der Arbeit in einem öffentlichen Prüfungscolloquium. Termine Der Kurs findet freitags von 14h00 bis 17h00 im Raum 2.23 statt. Einführungsveranstaltung; Filmvorführung Mon Oncle, (Pflichtveranstaltung!): * Freitag, 13. April 2018 Zwischentestat: Freitag, 01. Juni 2018 Prüfung: 29. 31. KW 2018 * Sie müssen die Teilnahme an der Einführungsveranstaltung unterschriftlich bestätigen. Hinweise Szenografie ist ein Wahlpflichtfach. Ihre regelmäßige Teilnahme wird vorausgesetzt, und zwar von Beginn der Veranstaltungen an. Es wird eine Liste über die von jedem/jeder Studierenden in Anspruch genommenen Korrekturen geführt. Szenografie ist im Modulverzeichnis mit 6 ECTS-Leistungspunkten ausgewiesen. Für das Selbststudium sind 120 Stunden vorgesehen. Demnach werden für diese Übung, über die in den Übungsstunden (Korrekturen) verbrachte Zeit hinaus, ca. 8 Stunden pro Woche vorausgesetzt. Die fristgerechte Fertigstellung ist wesentlicher Bestandteil des Entwurfs. Deshalb ist eine Prüfung in einem späteren Semester nicht möglich. Dies gilt nicht für den krankheitsbedingten Rücktritt von der Prüfung mit Attest. In diesem Fall ist die Arbeit am ersten Werktag nach Ablauf des Attests in Form einer DIN A4-Mappe (Verkleinerungen der Pläne, Modellfotos) beim Lehrenden oder im Sekretariat einzureichen. Später geprüft wird ausschließlich der Leistungsstand, der in dieser Mappe dokumentiert ist. Maximale Teilnehmerzahl: 20 Jean Flammang, im März 2018 5
Literatur Dietrich Neumann (Hrsg.): Filmarchitektur. Von Metropolis bis Blade Runner, Prestel, München 1996 Winfried Nerdinger (Hrsg.): Die Stadt des Monsieur Hulot. Jacques Tatis Blick auf die moderne Architektur, Architekturmuseum der TU München, 2004 Jacques Tati. The Complete Works. Taschen, Köln, erscheint voraussichtlich am 19.03.2018 Die DVD / Blu-ray des Films Mon Oncle ist bei ARTHAUS erschienen 6