Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin Vorlesung im Sommersemester 2009 Rationalitätstheorie Argumentationsstruktur nachgezeichnet von Johann Schulenburg; eventuelle Rückfragen an johann.schulenburg@lrz.uni-muenchen.de Vorlesung XII 13. Juli 2009 Strukturelle Rationalität II spezifische Lektüre zu dieser Sitzung: XII.1 Nida-Rümelin, J. (2001): Strukturelle Rationalität. Ein philosophischer Essay über praktische Vernunft, Stuttgart (insbesondere Kapitel 3 & 7). Handlungsstrukturen die programmatische These in Kapitel 3 der Strukturellen Rationalität lautet: Die bewusste Lebensgestaltung einer rationalen Person äußert sich darin, dass sie ihrem Leben eine Struktur gibt. Sie verfolgt längerfristige Projekte, die sich nur realisieren lassen, wenn hinreichende Teile ihres Handelns auf diese Projekte ausgerichtet sind auch die moralischen Überzeugungen einer rationalen Person schlagen sich in bestimmten Strukturen ihres Handelns nieder dies stimmt vor allem damit überein, dass die Zuschreibung moralischer Überzeugungen im Abgleich mit der Praxis erfolgt der Aspekt der Willensschwäche ist vor diesem Hintergrund als eine situative Abweichung von der proklamierten Überzeugung zu interpretieren auch für Charaktereigenschaften, Tugenden (im aristotelischen Sinne) und andere Merkmale einer individuellen Lebensform und der sich in dieser Lebensform realisierenden Persönlichkeit gilt dieser strukturelle Charakter die empirische Relevanz, die diese strukturellen Merkmale für unser Handeln haben, ist eher unumstritten; dies gilt jedoch weit weniger für die rationalitätstheoretische Interpretation bzw. für die Frage, wie sich diese strukturellen Merkmale in eine Konzeption praktischer Rationalität integrieren lassen in Bezug auf letztere Fragen gibt es zwei die philosophische Landschaft dominierende Antworten: 1. die erste Antwort interpretiert die strukturellen Merkmale im Wesentlichen als externe Beschränkungen im Sinne der kausalen Bedingtheit des Handelns - diese Interpretation ist damit vereinbar, dass einige dieser strukturellen Merkmale frei gewählt sind - es ist auch in der Tat so, dass ein Gutteil der lebensweltlichen Handlungsstrukturen entweder extern in dem Sinne sind, dass keine Kontrolle über sie besteht, oder dass sie wie beispielsweise genetische Eigenschaften kausal wirksam sind - extern sind solche Strukturen jedoch erst dann, wenn das Handeln gemäß dieser Strukturen nicht mehr als frei im substantiellen Sinne zu bezeichnen ist - strukturelle Merkmale im Sinne der Theorie Struktureller Rationalität hingegen müssen so interpretiert werden, dass sie mit menschlicher Freiheit vereinbar sind
- davon abweichende strukturelle Merkmale sind dann nicht mehr Teil einer Handlungsbeschreibung - eine vollständige Beschreibung menschlicher Handlungen besteht aus einer Beschreibung des Verhaltens bzw. einer Sachlage sowie aus der Zuschreibung von Intentionen (Beispiel aus dem StGB: Unterscheidung zwischen Mord und Totschlag) - diese Zweidimensionalität des Handlungsbegriffs gilt universell - eine nicht unbedeutende philosophische Schule: die sogenannten Behaviouristen stellt dieser Auffassung des Handlungsbegriffs die These entgegen, dass in einer idealen Wissenschaft dieser als folk psychology bezeichnete Typus der intentionalen Handlungsbeschreibung verschwinden müsste - eine solche Ersetzungspraxis wird jedoch nicht gelingen, naturalistische Beschreibungen können immer nur die Verhaltens-Komponente einer Handlung beschreiben - bei einem Übergang zu einer rein naturwissenschaftlichen Beschreibung würde unsere gesamte alltägliche Interaktionspraxis zusammenbrechen - die Unverzichtbarkeit der Zuschreibung von Intentionen für eine vollständige Handlungsbeschreibung ist somit ein Argument gegen den Szientismus - die Validität dieses Argument wird untermauert von der Tatsache, dass die Entwicklung der Psychologie die Praxis des Gebens und Nehmens von Gründen nicht verändert hat die fein ziselierten Strukturen der lebensweltlichen Begründungen sind gegen rein theoriegebundene Veränderungen weitgehend immun - der hier auftretende Gegensatz kann auch beschrieben werden als ein Gegensatz zwischen Naturalismus und Humanismus - eine in diesem Sinne humanistische Theoriebildung muss sich an der folk psychology bewähren - wissenschaftliche Theorien sind bei Konflikten mit der lebensweltlichen Praxis in der argumentativen Bringschuld - letztlich ist die Theorie Struktureller Rationalität mit unserer alltäglichen Praxis sehr viel eher vereinbar als die orthodoxe rational choice-theorie der optimierenden Monaden 2. die zweite Antwort ist im weitesten Sinne kantisch geprägt - dieser Sichtweise zufolge äußert sich die Freiheit des Handelns gerade darin, dass sich die handelnde Person selbst die Gesetze ihres Handelns auferlegt - in kantischer Terminologie konstituiert sich demnach Autonomie durch die Achtung vor dem Sittengesetz - alles nicht durch dementsprechend moralische Gründe geleitete Handeln ist unfrei, da von pragmatischen und technischen Imperativen bestimmt, d. h. eine unmittelbare Folge kontingenter Neigungen - dem Begriff der Autonomie stellt Kant dementsprechend den Begriff der Heteronomie gegenüber - dem korrespondiert bei Kant der Gegensatz zwischen nuomenalem und phänomenalem Ich diesen Gegensatz betrachtet Kant jedoch als in einer Person vereinbar - das phänomenale Ich ist nun im Rahmen der Psychologie vollständig erklärbar zwischen der in der vorigen Sitzung behandelten Hume schen Handlungstheorie und der Kantischen besteht somit folgender Unterschied: bei Hume gibt es keine Freiheit, bei Kant hingegen ist Freiheit im Sinne der Autonomie gegeben, jedoch lediglich für den Bereich der moralischen Handlungen
die Theorie der Strukturellen Rationalität, die am ehesten als neo-stoizistisch zu beschreiben ist, nimmt Freiheit jedoch nicht nur für moralisches Handeln in Anspruch, Handlungsstrukturen beschränken sich nicht lediglich auf den Bereich moralischen Handelns sehr viele unserer alltäglichen Begründungen und zwar nicht nur in Bezug auf die moralische Praxis, sondern in Bezug auf die alltägliche Praxis im Allgemeinen haben keinen konsequentialistischen Charakter viele Begründungen rekurrieren beispielsweise auf individuelle Projekte, wobei bei fortgesetzter Begründungsnotwendigkeit ein Übergang zu immer strukturelleren Projekten bis hin zu der denkbaren Frage, was der begründenden Person in ihrem Leben eigentlich wichtig ist, feststellbar ist in Kantischer Perspektive wäre nun zu fragen, ob solche Begründungen nun pragmatischer oder moralischer Natur sind aus neo-stoizistischer Perspektive hingegen wird eine solche Dichotomisierung lebensweltlich relevanter Gründe abgelehnt, da diese die ganze Vielfalt unterschiedlicher Handlungsgründe einebnet unsere gesamte gesellschaftliche wie individuelle Praxis ist von Regeln geprägt und diese äußern sich in Handlungsstrukturen - ein parasitäres Verhalten hinsichtlich dieser Strukturen ist immer nur in Einzelfällen möglich, da sonst die gesamte Praxis zusammenbrechen würde - ebenso ist die Infragestellung einzelner Regeln bzw. Normen immer nur in lokal begrenzter Weise möglich, denn eine Person, die die gesamte regelgeleitete Praxis infrage stellt, stößt schlicht auf Unverständnis auch bei isolierter Betrachtung eines einzelnen Individuums (beispielsweise eines rational choice- Extremisten) ist die Zuschreibung von Handlungsstrukturen für eine rationale Interpretation des Verhaltens dieser Person erforderlich XII.2 Strukturelle Intentionen in Anbetracht eines in einer Gesellschaft von n Individuen strukturell verankerten Systems R von Regeln lassen sich folgende Annahmen machen - das Regelsystem R ist nicht für alle Individuen optimal - die meisten der n Individuen könnten sich je ein verändertes Regelsystem R i vorstellen, welches sie unter sonst gleichen Umständen vorzögen - handelten nun alle diese Individuen je nach ihrem individuell optimalen Regelsystem, würde dies in letzter Konsequenz in der Anarchie münden die normative Rolle von Konventionen findet somit in dem Bedürfnis nach einem hinlänglich akzeptierten kohärenten Regelsystem eine Erklärung die Etablierung eines besseren Regelsystems kann nur über den Versuch der Veränderung des aktuell akzeptierten Regelsystems erfolgen diese Veränderungsversuche sind wiederum auf das Angeben von Gründen angewiesen auch reine Konventionen besitzen somit eine normative Bindungskraft eine Präzisierung dieses Sachverhalts ist mithilfe des Begriffes der Strukturintentionalität möglich wir nennen eine Handlung h strukturintentional, wenn sie motiviert (begründet) ist im Hinblick auf eine Struktur, die wir realisiert sehen wollen
ein Kerngedanke der Theorie Struktureller Rationalität ist nun, dass Strukturintentionalität allein hinreichend sein kann für Rationalität nach der orthodoxen rational choice-theorie kann dies nicht der Fall sein eine möglich Problematik besteht nun in der Unterbestimmtheit der resultierenden Handlungsempfehlungen dies ist jedoch lediglich in der Denkweise der rational choice-orthodoxie ein Problem, da hier nur die Kategorien rational und suboptimal einander gegenüberstehen Strukturintentionalität ist als Komponente einer Handlungsbegründung nicht der seltene Sonderfall, sondern stellt vielmehr den Regelfall der Begründungspraxis dar jedoch ist zu beachten, dass nicht alle strukturellen Merkmale unseres Verhaltens über strukturelle Gründe motiviert sind XII.3 Strukturelle Rationalität und individuelle Optimierung Beispiel aus Kritik des Konsequentialismus ( 47 & 48): ein Raucher steht (vor jeder Zeiteinheit) vor der Entscheidung, das Rauchen für diese Zeiteinheit einzustellen, wobei unter der Annahme einer fixen Lebensspanne gilt, dass die Gesamt-Lebensqualität des Rauchers monoton mit der Anzahl rauchfreier Zeiteinheiten steigt: x x x x x x x x o steigende x x x x x x x o o Lebensx x x x x x o o o qualität x: Zeiteinheit mit Rauchen o: rauchfreie Zeiteinheit damit vereinbar ist jedoch folgende Überlegung: 1. x x x x x x x x x 2. x x x x o x x x x unter diesen Umständen ist nun trotz der obigen Annahmen 1. besser als 2.! unter der Annahme handlungunabhängiger Wahrscheinlichkeiten können demnach die Handlungsempfehlungen struktureller Rationalität und punktueller Optimierung auseinander klaffen denn es ist strukturell rational, so früh wie möglich mit dem Rauchen aufzuhören, auch wenn bei gegebener Wahrscheinlichkeitsverteilung das Einstellen des Rauchens in der nächsten Zeiteinheit nicht punktuell optimierend ist natürlich gibt es gerade im Hinblick auf dieses und ähnliche Beispiele auch self-binding-strategien, der Theorie Struktureller Rationalität zufolge hat jedoch die willensstarke Person solche Strategien gar nicht nötig insbesondere damit sieht sich die Theorie Struktureller Rationalität in der Tradition der Stoa
Literatur: Nida-Rümelin, J. (1993): Kritik des Konsequentialismus, München. --- (2001): Strukturelle Rationalität. Ein philosophischer Essay über praktische Vernunft, Stuttgart.