205 7.7 Ergebnisse strukturbezogener und nicht strukturbezogener Psychotherapien In Antragstexten zur tiefenpsychologischen und analytischen Psychotherapie im Rahmen der gutachterpflichtigen Richtlinienpsychotherapie lassen sich bei ca. 30 % deutlich beschriebene und bei weiteren 14 % zu vermutende strukturelle Störungen unterschiedlichen Ausmaßes registrieren (Rudolf 2006). In der Hälfte dieser Berichte mit strukturellen Auffälligkeiten werden keine strukturbezogene therapeutische Zielsetzung und Interventionen benannt, zumal auch häufig die beschriebenen Auffälligkeiten nicht als strukturell diagnostiziert werden. Bei einem Viertel der auffälligen Patienten wird in der therapeutischen Zielsetzung auf die strukturelle Dimension hingewiesen, jedoch hat es nicht den Anschein, dass die ins Auge gefassten therapeutischen Maßnahmen ausreichend sind. So heißt es z. B. bei einer analytischen Psychotherapie, es werde zweistündig statt dreistündig im Liegen behandelt, um eine Balance zwischen regressiven Strebungen und strukturierenden Elementen herzustellen. Bei tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapien wird auf die Notwendigkeit ich-stärkender Maßnahmen hingewiesen, ohne dass aus der Verlaufsbeschreibung deutlich erkennbar wird, wie ein labiles Ich gestützt oder in seiner Entwicklung gefördert werden kann (außer dass der Patient wohlwollend begleitet wird, was aber für eine strukturelle Entwicklung nicht ausreichend ist). Nur bei einem Viertel der Patienten mit strukturellen Auffälligkeiten wird die Notwendigkeit zu strukturell stabilisierenden und fördernden Maßnahmen in der Behandlungsplanung und im weiteren Verlauf ausdrücklich benannt. Hier wird z. B. die Unterstützung der Affektwahrnehmung, der Realitätsprüfung, des Umgangs mit Projektionen, der Wahrnehmung des eigenen Anteils an interpersonellen Verwicklungen etc. erwähnt. Tiefenpsychologische Therapeuten tun sich hier wohl leichter, ihren Ansatz um den strukturbezogenen Aspekt zu erweitern, während analytische Psychotherapeuten zuweilen fürchten, den Rahmen ihres Verfahrens zu überschreiten und angesichts eines hilflos unstrukturierten Patienten in die Gefahr zu geraten, überfürsorglich-pädagogisch zu intervenieren. So finden sich denn in analytischen Verlaufsbeschreibungen zuweilen sorgfältige Beschreibungen von typischen strukturellen Problemen ( anfallsweise auftretende Zustände von Leere und Gespanntheit mit der Folge von Selbstverletzung und Essanfällen; das Gegenübertragungsgefühl, vieles als fremd und uneinfühlbar zu erleben, nichts zu verstehen, die Patientin als bedroht zu erleben; bedrohliche Szenerien von Alpträumen, primärprozesshafte Zustände etc. ) und wohl auch diagnostische Hinweise ( zunehmend deutlicher werdende Frühstörungsanteile ). Dennoch folgt die Behandlungsplanung meistens dem klassisch-psychoanalytischen Vorgehen ( in der Übertragungsbeziehung und möglich werdenden Regression können aggressive und libidinöse Strebungen dem Bewusstsein zugänglich gemacht und integriert werden, können frühe Konflikte ins
206 7 Strukturelle Systematik klinischer Bilder und ihre Behandlung Erleben treten und verarbeitet werden ). Dabei soll der feste Rahmen der analytischen Therapie Grenzen erfahrbar machen, die als haltgebend erlebt werden. Der Einfluss des Strukturniveaus auf die Ergebnisse psychoanalytischer und psychotherapeutischer Behandlungen wurde bereits in der Menninger Studie (Kernberg et al. 1972) deutlich erkennbar. Generell wurde ein besseres Behandlungsergebnis bei höherem Strukturniveau damals operationalisiert als hohe Ich- Stärke festgehalten. Die Borderline-Patienten zeigten ein deutlich schlechteres Behandlungsergebnis der Psychotherapie, eine hohe Rehospitalisierungsrate und hohe Suizidquote; dagegen ließen sich bei den neurotischen Patienten deutlich bessere Behandlungsergebnisse erzielen. Ganz ähnlich lautet ein Resümee über die Behandlungsergebnisse psychotherapeutischer Borderline-Therapie, unabhängig von angewendeten Verfahren (Dammann 2001). Die Ergebnisse der Praxisstudie analytische Langzeitpsychotherapie (Rudolf et al. 2004b) bestätigen diese Zusammenhänge. Je besser das Behandlungsergebnis, desto weniger Patienten zeigen bei Behandlungsbeginn ein gering integriertes Strukturniveau, oder umgekehrt: Geringes Strukturniveau bei Behandlungsbeginn erhöht die Wahrscheinlichkeit eines ungünstigen Behandlungsergebnisses. Der Zusammenhang wird besonders deutlich, wenn die beiden kontrastierenden Outcome-Gruppen umstrukturiert und unverändert bezüglich ihres Anteils gering integrierter Struktur bei Behandlungsbeginn verglichen werden. In der Gruppe der wenig gebesserten Patienten ist das Ausgangsniveau gering integrierter Struktur jeweils doppelt so hoch wie in der guten Ergebnisgruppe. Auch Spitzer et al. (2004) kamen in einer Untersuchung an 102 stationär psychiatrisch behandelten Patienten zu dem vergleichbaren Ergebnis, dass sich 70 % der gut integrierten Patienten, 60 % der mäßig integrierten und nur 25 % der gering integrierten statistisch signifikant besserten. Die empirischen Daten bestätigen den Eindruck, der aus den vorgenannten Einzelfallbeispielen gewonnen wurde: Je ausgeprägter strukturelle Probleme vorliegen, desto schwieriger wird es, mit Hilfe unmodifizierter analytischer und tiefenpsychologischer Therapie diese Bereiche therapeutisch zu erreichen. Hier liegt die Notwendigkeit einer therapeutischen Modifikation begründet, die konzeptuell und behandlungstechnisch auf die strukturelle Thematik ausgerichtet ist. Kontrollierte Studien, welche die Anwendung strukturbezogener Psychotherapie und ihre Ergebnisse im Vergleich mit anderen Therapieansätzen überprüfen, liegen zur Zeit noch nicht vor. Vorläufig verfügen wir über therapeutische Erfahrungsberichte, die erkennen lassen, dass z. B. Psychoanalytiker, die bei strukturell vulnerablen Patienten eine therapeutische Initialphase der strukturellen Stabilisierung vorausschicken, weniger komplizierte Verläufe und bessere therapeutische Ergebnisse erzielen als solche, die unabhängig vom Strukturniveau ihrer Patienten ein strikt psychoanalytisches Vorgehen wählen. Eine Gegenüberstellung der besonders gut und auffallend kompliziert verlaufenden Behandlungen der PAL-Studie (Rudolf et
207 Tab. 7-5 Besserungsquoten bei stationärer Psychotherapie (Therapeuteneinschätzung) Affektdifferenzierung 72 % Affekttoleranz 50 % Affektausdruck 74 % Affektverständnis 76 % al. 2004b) verweist ebenfalls in diese Richtung. Besonders junge Erwachsene und jugendliche Patienten scheinen von den für die strukturbezogene Psychotherapie beschriebenen therapeutischen Haltungen und Interventionen zu profitieren, wie Erfahrungsberichte aus dem Bereich der Kinder- und Jugendpsychotherapie zeigen. Aus der stationären Psychotherapie verfügen wir über Ergebnisdaten zum Thema. In der Heidelberger Psychosomatischen Klinik waren wir stets bemüht, die stationäre Psychotherapie bei den überwiegend jungen Erwachsenen (mit einem großen Anteil von Essstörungen und anderen selbstschädigenden Verhaltensweisen und mit rund 50 % Diagnosen der Persönlichkeitsstörungen) so zu gestalten, dass eingangs Problemfoki definiert und in den verschiedenen Behandlungsansätzen der Einzel- und Gruppentherapie fokal bearbeitet werden. Nach Einschätzung der Einzeltherapeuten liegen bei 50 70 % der Patienten strukturelle Störungen der Emotionsregulierung vor. Gerade diese affektiven Bereiche konnten, ebenfalls nach Einschätzung der Therapeuten, im Behandlungsverlauf gut beeinflusst werden. Eine Studie von Winkens (2001) an 220 stationär behandelten Patienten belegt die in Tabelle 7-5 dargestellten Besserungsquoten im affektiven Bereich. Die Merkmale sind Bestandteil einer OPD-Vorläufer-Liste (Ich-Selbst-Objektbeziehungen), die nicht nur affektive Merkmale, sondern auch Aspekte des Selbst, der Selbstwertregulation, der Ich-Funktionen etc. erfasst. Im Kontrast zu den gut gebesserten Affektmerkmalen werden basale strukturelle Merkmale (wie z. B. Internalisierungsfähigkeit oder Selbstwertregulation) deutlich seltener als gebessert eingeschätzt. Die Affektthemen sind für die Patienten bewusstseinsnäher und als therapeutische Themen stationärer Therapie von besonderer Bedeutung. Vor diesem Erfahrungshintergrund führten wir eine weitere Studie durch (Klem unveröffentlicht), in der die Affektthemen von einem Jahrgang stationär behandelter Patienten bei Behandlungsbeginn und Behandlungsende in einem speziell entwickelten Interview diagnostisch abgeklärt wurden. Angelehnt an OPD wurde eine Liste struktureller Affektthemen und konfliktbezogener Affektthemen erstellt. Auf der Grundlage der Videoaufzeichnung des Interviews wurde durch zwei Rater das Ausmaß der Affektthematik zu den beiden Zeitpunkten eingeschätzt. Zusammengefasst konnten deutlich erkennbare Veränderungen in einem der Affektbereiche im Prä-
208 7 Strukturelle Systematik klinischer Bilder und ihre Behandlung Tab. 7-6 Besserungsquoten bezüglich struktureller Affektthemen (stationäre Psychotherapie, Untersucherperspektive) Affektausdruck 70 % objektbezogene Affekte 68 % Affekttoleranz 49 % Affektsteuerung 44 % post-vergleich bei 71 % der stationär behandelten Patienten nachgewiesen werden. Von besonderem Interesse ist die therapeutische Veränderung struktureller Affektthemen. Hier zeigten sich auf der Grundlage des affektiven Interviews vor und nach stationärer Behandlung die in Tabelle 7-6 dargestellten Veränderungsquoten. Diese Studie unterscheidet sich von der erstgenannten in einem wichtigen Punkt: Hier spielt das subjektive Erleben der Patienten, das in dem Interview erfragt und mit dem Patienten diskutiert wird, eine wichtige Rolle, während in der ersten Studie die Therapeuten eine Expertise abgaben. Aus der Patientensicht erreicht die Verbesserung des Affektausdrucks den höchsten Wert mit 70 % (das entspricht der Besserung aus Therapeutensicht in der anderen Studie mit 74 %). Weniger gewichtig sind die Merkmale Affektdifferenzierung und Affektverständnis. Sie werden von den Patienten in dem initialen Interview selten zum Thema gemacht und daher auch selten als gebessert eingeschätzt. Wenn dagegen, wie in der ersten Studie, die Therapeutenperspektive maßgeblich ist, werden in diesem Bereich Veränderungen von 72 % bzw. 76 % aufgezeigt. Die Themen der Affektdifferenzierung und des Affektverständnisses sind also für Patienten offenbar weniger bewusstseinsnah, während sie aus der Therapeutensicht ein großes Gewicht besitzen. Eine Unterscheidung der oben beschriebenen Patienten hinsichtlich ihrer Diagnosen zeigt, dass die Veränderung struktureller Affektmerkmale bei neurotischen Patienten keine große Rolle spielt, während bei leichten Persönlichkeitsstörungen eine deutliche Besserung in der Fähigkeit zum Affektausdruck und bei schweren Persönlichkeitsstörungen eine deutliche Besserung in der Fähigkeit zur Affektsteuerung registriert wurde (Rudolf et al. 2002c, S. 158f). In diesem Zusammenhang ist auch von Interesse, dass sich bei den schweren Persönlichkeitsstörungen deutlich höhere strukturelle Belastungen nachweisen lassen: 48 % der Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen zeigen ein gering integriertes Strukturniveau (im Vergleich zu 21 % bei Depression, 20 % bei Angststörungen, 17 % bei somatoformen Störungen, 25 % bei Essstörungen, 13 % bei leichten Persönlichkeitsstörungen). Das bedeutet, dass in einer stationären Population mit ihrem hohen Anteil an Persönlichkeitsstörungen tatsächlich strukturelle Störungen eine große Rolle spielen.
209 Vor diesem Hintergrund ist auch bemerkenswert, dass in einer Studie an 461 stationären Therapien unserer Klinik (Rudolf et al. 2004c) das Behandlungsergebnis im Prä-post-Vergleich auch bei den schweren Persönlichkeitsstörungen durchaus vergleichbar gut ist wie das bei neurotischen Störungen (schwere Persönlichkeitsstörungen Effektstärke.84, im Vergleich zu.65 bei Angststörungen,.76 bei Essstörungen,.90 bei affektiven Störungen). Die Ergebnisstabilität in der 6 9-Monatskatamnese ist für die Diagnosegruppe der schweren Persönlichkeitsstörungen mit 79 % ebenfalls sehr befriedigend (im Vergleich dazu: Angststörungen 81 %, Essstörungen 77 %, affektive Störungen 74 %). Daraus lässt sich schlussfolgern: In einer therapeutischen Institution (wie der Psychosomatischen Universitätsklinik Heidelberg), in der ein großer Anteil strukturell beeinträchtigter Patienten behandelt wird, führt die Tatsache, dass in der Eingangsdiagnostik strukturelle Themen sorgfältig beachtet und in der Therapie fokal bearbeitet werden, dazu, dass eine deutliche Besserung sowohl in den affektiven Strukturthemen als auch in der generellen Stabilisierung und Symptomentlastung dieser Patienten erzielt werden kann. Nimmt man als Ergebniskriterium die Intensität der erzielten Umstrukturierung (auf der Heidelberger Umstrukturierungsskala), so zeigt sich in der katamnestischen Nachuntersuchung eine bessere Bewältigung von neu auftauchenden Lebensproblemen bei jenen Patienten, die eine stärkere Umstrukturierung aufweisen (Grande et al. 2003).