Die Geschichte der Zwangsmaßnahmen an minderjährigen Bürgerinnen und Bürgern europäischer Demokratien. Fragen und Befunde, Thesen und Perspektiven

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Transkript:

Die Geschichte der Zwangsmaßnahmen an minderjährigen Bürgerinnen und Bürgern europäischer Demokratien. Fragen und Befunde, Thesen und Perspektiven Tagung: Zwangsmaßnahmen an Minderjährigen in der Schweiz im 20. Jahrhundert. Unrecht, Wiedergutmachung und Teilhabe an der demokratischen Gesellschaft, Aarau, 23.1.2105 Christian Schrapper, Koblenz (D)

meine Aspekte 1. Ausgangslagen und Vergewisserungen 2. Erscheinungsformen der Für-Sorge als Zwangsmaßnahmen 3. Begründungen und Legitimationen 4. Wirkungen und Funktionen 5. Skandalisierung und Aufarbeitung 6. Entschuldigung und Entschädigung 7. Ausblicke

1. Ausgangslage und Vergewisserungen minderjährige Bürgerinnen und Bürger sind Kinder und Jugendliche, die existentiell auf Versorgungs- und Erziehungsleistungen der älteren Generationen angewiesen sind. Zunehmend ausdifferenzierte Gesellschaften erzeugen einen Bedarf an Ergänzung (Schule), Korrektur (Justiz) und Kompensation (Wohlfahrt) originär familiärer Versorgungs- und Erziehungsleistungen. Versorgung und Erziehung verweisen auf ein grundlegendes Verständnis und eine traditionsreiche Gestaltung als Maßnahmen der Beherrschung und der Herstellung Unterwerfung, Zwang und Gewalt sind immanent In den westlichen Demokratien werden auch Kinder und Jugendliche zunehmend zu Bürgerinnen und Bürger, ausgestattet mit fundamentalen Verfassungsgarantien, insbes. der Unantastbarkeit ihrer Würde und dem Recht auf Entwicklung/freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Traditionsreiche Versorgungs- und Erziehungskonzepte geraten in Widerspruch zu rechtsstaatlichen Prinzipien und demokratischen Werten diese Widersprüche sind skandalträchtig und fordern heraus.

2. Erscheinungsformen der Zwangs-Für-Sorge umfangreich nachgewiesen durch Forschungen und Kommissionen, z.b.: Schweiz: unversorgte arme Kinder werden in bäuerliche und handwerkliche Arbeitsverhältnisse verdingt, um zumindest teilweise ihre Versorgungskosten zu erarbeiten Irland: Kinder der Sünde werden in christlichen Heimen so schlecht versorgt, dass sie massenhaft sterben; junge Frauen durch Zwangsarbeit in kirchlichen Wäschereien ausgebeutet, entwürdigt und z.t. sexuell missbraucht, ebenso Jungen. Niederlande: entwürdigende Behandlung und sexueller Missbrauch in öffentlichen Heimen und beauftragten Pflegefamilien Österreich: Misshandlung und Missbrauch in Heimen und Pflegefamilien; Kindestötungen während der NS-Besetzung Kanada: massenhaft gewaltförmige Umerziehung von Kindern eingeborener Völker (First Nations) in sog. residential schools Australien: massenhaft gewaltförmige Umerziehung von Kindern der Ur-Einwohner in Pflegefamilien und Heimen ( verlorene Generation )...

... und Deutschland Von der Zwangserziehung straffälliger Kinder (1871) zur Fürsorgeerziehung sog. verwahrloster Kinder (1900) Fürsorgeerziehungsskandale und moderne Heilpädagogik in den 1920ern Das Jugend-KZ als pädagogisches Ideal (Peukert) und tödliche Realität, insbesondere für fremdvölkische Jugendliche zwischen 1933 und 1945 (Muthesius) Entwürdigende Heim- und Fürsorgeerziehung in den langen 50er Jahren mit Misshandlung, Ausbeutung und sexuellem Missbrauch auch in kirchlichen und reformpädagogischen Internaten

grundlegende Erscheinungsformen von Zwangsmaßnahmen gegen Minderjährige Stigmatisierung und Selektion als minderwertige Menschen zwangsweise Umerziehung zu nützlichen Menschen wirtschaftliche Ausbeutung der Arbeitskraft geduldete und gezielte Tötung

3. Begründungen und Legitimationen Durchsetzung und Verteidigung der Regel familiärer Reproduktionsarbeit durch Abschreckung und Sanktion rassehygienische Säuberung aus Angst vor Überfremdung Erziehung statt Strafe Strafe als Erziehung: die Anstalt als Ort des sozialpädagogischen Urknall öffentliche Erziehung armer Kinder als pädagogisches Versuchslabor Anstalten und Heime als Abstellgleise der proletarischen Reservearmee...

4. Wirkungen und Funktionen grundsätzlichen Missachtung der Reproduktionsarbeit von Frauen und Familie Ausdruck eines doppelt machtvollen Gestaltungsanspruchs: horizontal in der Generationenfolge und vertikal in der sozialen Ordnung beeindruckendes Kontrollversagen staatlicher Instanzen, denn mindestens seit Anfang des 20 Jahrhunderts sind Achtung und Gleichbehandlung Teil europäischer Nationalverfassungen In den westlichen Demokratien musste die universelle Geltung von Menschenrechten (auch für Frauen und Kinder) erst mühsam durchgesetzt bzw. geübt werden (z.b. deutsche Rechtsgeschichte: bis 1956 besonderes Gewaltverhältnis auch in Heimen und Schulen 1969 Kinder als Grundrechtsträger anerkannt 1978 statt elterliche Gewalt jetzt elterliche Sorge; 2000 Verbot der Gewalt in der Erziehung 1989/2012: UN-Kinderrechtskonvention

5. Stationen der Aufarbeitung und Entschädigung (D) 2003: Die unbarmherzigen Schwestern Film von Peter Mullan 2003: Die unbarmherzigen Schwestern aus Dortmund Spiegel- Artikel von Peter Wensierski 2004: Gründung des Verein ehemaliger Heimkinder, Internetportale 2006: Schläge im Namen des Herrn Buch von Peter Wensierksi 2006: erste Entschuldigungsresolutionen (LVW-Hessen) und Start zahlreicher neuer Forschungsprojekte und regionaler Runder Tische (z.b. Freistatt, Kiel, Kirchen, Bundesländer,...) 2006: Petition an den Deutschen Bundestag 2008: Beschluss des Petitionsausschusses 2009: Start des Runden Tisches Heimerziehung 2011: Vorstellung des RTH-Abschlussberichtes 2011: Interfraktioneller Antrag und Anhörung im Familienausschuss 2012 2017 Heimkinder-Fond West und Ost Warum erst 2003?? - Vorgeschichten

Beispiel Hessen: Ort der Heimkampagnen, z.b. auf dem Staffelberg und in Frankfurt -Thema im Landtag Anfrage der FDP-Fraktion 18.11.1969

Thema an den Universitäten Uni Marburg WS 69/70

Thema auf dem Büchermarkt 1971 1978 1970 1975

Was ist neu? neu ist, dass erwachsene Menschen damit konfrontieren, welche Spuren und Verletzungen öffentliche Für-Sorge in ihrem Leben hinterlassen hat; neu ist die Forderung nach Anerkennung, Entschuldigung und Entschädigung für öffentliche Fürsorge.

6. Die Anerkennungs-und Entschädigungsdiskurse sind voraussetzungsvoll und umstritten Anerkennung fundamentaler Menschenrechte auch für Frauen und Kinder Anerkennung der lebenslang traumatisierender Wirkungen von Gewalt (Svenja Goltermann) zuerst bei Kriegsversehrten dann für andere Gewaltopfer, erst spät auch für Opfer von Vernachlässigung und Missbrauch in Kindheit und Jugend Anerkennung der subjektiven Perspektive in der Forschung Betroffene outen sich als Opfer und organisieren sich Öffentliche Skandalisierung von Einzelfällen Einrichtung von Kommissionen Aushandlung von Anerkennungsformeln und Entschädigungsregularien umstritten Kritik an diesen Formeln und Regularien (zu viel und zu wenig)

7. Ausblicke Erziehungs-Fachleute können etwas über die langfristigen Wirkungen ihrer Arbeit und der prägenden Strukturen ihres Arbeitsfeldes erfahren; anerkannt werden müssen der besondere Beitrag und die besondere Belastung der Opfer von Zwangsmaßnahmen für die Durchsetzung demokratischer und sozialer Rechtsstaatsverfassungen in den (europäischen) Gesellschaften; entwickelt werden müssen Form und Inhalt für Rehabilitation und Entschädigung erlittener Schäden durch öffentliche Verantwortung für private Lebensschicksale. Macht und Missbrauch durch Zwang in Erziehungs- Institutionen ist und bleibt ein aktuelles Thema und eine permanente Aufgabe pädagogischer Arbeitsfelder

Vielen Dank