Elternschaft: zwischen rechtlichem Leitbild und selbstbestimmtem Aushandeln

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Transkript:

Fachtagung vom 7./8. September 2016 in Freiburg Die Praxis im Spannungsfeld zwischen Schutz und Selbstbestimmung Referat 7 Elternschaft: zwischen rechtlichem Leitbild und selbstbestimmtem Aushandeln Michelle Cottier, Prof. Dr. iur., MA, ordentliche Professorin an der juristischen Fakultät der Universität Genf Die Reform des Rechts der elterlichen Sorge, die am 1. Juli 2014 in Kraft getreten ist, hat als neues Leitbild die gemeinsame Elternschaft im Schweizer Recht verankert. Neu ist die gemeinsame elterliche Sorge die Regel und die alleinige elterliche Sorge die Ausnahme. Nachdem sich das Ideal der Fortführung der Elternebene trotz Aufhebung der Paarebene in Gesetzgebung und Rechtspraxis etablieren konnte, steht nun die Frage der Aufteilung der Kinderbetreuung und der finanziellen Verantwortung im Zentrum der Auseinandersetzung. Dies äussert sich insbesondere in den Diskussionen um Betreuungsunterhalt und alternierende Obhut. Im Einklang mit dem neuen Leitbild entwickeln sich derzeit auf der Ebene des Verfahrens Angebote, die Eltern in ihrer Konsensfindung unterstützen. Hauptinhalt des Verfahrens soll nicht die Sachverhaltsermittlung im Hinblick auf den Entscheid des Gerichts oder der Kindesschutzbehörde sein, sondern die Aushandlung von nachhaltigen Lösungen durch die betroffenen Eltern selbst. Die inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit der psychosozialen und juristischen Professionen spielt eine Schlüsselrolle in diesen Entwicklungen. Vor dem Hintergrund des Themas der Fachtagung stellt sich die Frage, wie dieser Wandel im Spannungsfeld zwischen Schutz und Selbstbestimmung zu verorten ist. Zum einen ist festzustellen, dass Eltern sich immer in einen bestimmten strukturellen Kontext (insbes. Zugang zu Ressourcen und zum Arbeitsmarkt, gesellschaftliche Normen) befinden, der Autonomie mehr oder weniger unterstützt. Zum anderen zeigen ausländische Erfahrungen, dass die Gefahr besteht, dass ein zu starker Druck auf die Eltern zu kooperieren, den wirksamen Schutz vor Gewalt in Paar- und Familienbeziehungen behindern kann. Schliesslich droht das Partizipationsrecht des Kindes (Art. 12 UN-KRK) aus dem Blick zu geraten, wenn der Elternkonsens im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Eine kluge Umsetzung der Idee der selbstbestimmten nach Trennung und Scheidung sollte diese Rahmenbedingungen und Risiken mitbedenken. Die Präsentation und weitere Unterlagen der Fachtagung stehen auf www.kokes.ch Aktuell Tagung 2016 zum Download bereit.

Elternschaft: zwischen rechtlichem Leitbild und selbstbestimmtem Aushandeln KOKES Fachtagung 7./8. September 2016, Universität Freiburg «Kindes- und Erwachsenenschutz: Die Praxis im Spannungsfeld zwischen Schutz und Selbstbestimmung» Prof. Michelle Cottier Übersicht gemeinsamen Elternschaft 3. Analyse unter dem Blickwinkel der Dichotomie Schutz - Selbstbestimmung 2

Inkrafttreten der Reform des Rechts der elterlichen Sorge am 1. Juli 2014: gemeinsame elterliche Sorge als Regelfall. Botschaft des Bundesrats: «Im Übrigen bleibt es dabei, dass die gemeinsame elterliche Sorge die Eltern auf kein bestimmtes Rollenmodell verpflichtet.» (Botschaft 2011, S. 9094) 3 Rechtsprechung: BGE 141 III 472 ff. Art. 298 Abs. 1, Art. 298b Abs. 2 und Art. 298d Abs. 1 ZGB; Zuteilung der alleinigen elterlichen Sorge. Die Kriterien für die Alleinzuteilung des Sorgerechts sind nicht die gleichen wie für dessen Entzug im Sinn einer Kindesschutzmassnahme. Eine erhebliche und chronische Kommunikations- oder Kooperationsunfähigkeit der Eltern rechtfertigt die Alleinzuteilung, wenn dadurch die Belastung für das Kind verringert werden kann (E. 4). 4

Inkrafttreten am 1. Januar 2017 des neuen Kindesunterhaltsrechts. Einführung des Betreuungsunterhalts (nart. 285 ZGB). Einführung von Bestimmungen zur Förderung der alternierenden Obhut (nart. 298 Abs. 2 ter und nart. 298b Abs. 2 ter ZGB). Vgl. auch Postulat 15.3003 (Nationalrat) «Alternierende Obhut. Klärung der Rechtsgrundlagen und Lösungsvorschläge» Spannungsverhältnis zwischen den beiden Regelungszielen. 5 Mediation: Anerkennung auf Ebene der Gesetzgebung 2008: Art. 213 bis 218 ZPO, Art. 297 Abs. 2 ZPO, Art. 314 Abs. 2 ZGB Fehlen statistischer Daten Vgl. die Antwort des Bundesrats vom 5. September 2012 auf die Interpellation 12.3558 (Nationalrat) «Wie wird die Mediation in den Kantonen angewendet?» 6

Neue ausländische Modelle Beispiel Australien: «Family Relationship Centres», obligatorische «family dispute resolution».beispiel Deutschland: «Cochemer Modell», «beschleunigtes Familienverfahren», «Elternkonsens». Neue Praxis in den Kantonen (BS, SG): «angeordnete Beratung» (Art. 307 Abs. 3 ZGB). 7 3. Analyse unter dem Blickwinkel der Dichotomie Schutz - Selbstbestimmung Struktureller Kontext, der die Autonomie der Parteien beeinflusst: Zugang zu Ressourcen und Arbeitsmarkt, gesellschaftliche Normen. Risiken im Hinblick auf den Gewaltschutz. Und wie steht es mit dem Partizipationsrecht des Kindes (Art. 12 KRK)? 8