11. Münchner Bohemisten-Treffen, 2. März 2007 Exposé Nr. 3

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Transkript:

Dipl. Kulturw. Ingrid Fleischmann (Universität Regensburg) zum Teilprojekt Sprache und Ethnizität an deutschen Prager Volksschulen und Gymnasien der Kafka-Zeit des von der Thyssen Stiftung geförderten Gesamtprojekts: Sprache und Identität. Franz Kafka im mitteleuropäischen und sprachlichen Kontext Titel der aus dem Teilprojekt hervorgehenden Dissertation: Bilingualismus und Sprachnationalismus an deutschen Prager Volksschulen und Gymnasien der Kafka-Zeit 1. Projektrahmen Die deutsch-tschechische sprachnationale Polarisierung in Prag und Böhmen erreicht ihren Höhepunkt um die Jahrhundertwende. Auch als Franz Kafka in die deutsche Altstädter Volksschule in der Fleischmarktgasse in Prag eingeschult wird (1889/90), steht der deutsch-tschechische Gegensatz im Raum. Die Antwort auf die Frage nach der Sprache ob Umgangssprache oder Muttersprache oder aber auch gewählte Unterrichtssprache wird im Kontext des sich auf beiden Seiten etablierenden Nationalismus und der mit der neuen Konzeption der Nation verbundenen einsprachigen und homoglossischen Ideologie 1 mit Argusaugen beobachtet. Die Entscheidung der Eltern, in welcher Sprache ihr Kind unterrichtet werden soll, wurde oft als nationale Positionierung gewertet. Die Wahl der Ausbildungsinstitution hat aber kaum nur sprachpolitische Beweggründe, denn schließlich wird bereits in der Volksschule der Grundstock für zukünftige Zweisprachigkeit gelegt und diese ist ungeachtet der Ideologie des national orientierten Mittelstandes nicht nur im Staatsdienst vorteilhaft. So stehen auch Hermann und Julie Kafka vor der eigentlich privaten Frage nach der sprachlichen Sekundärsozialisation ihrer Kinder, die aber im sprachnationalen Diskurs in Prag zur Angelegenheit öffentlichen und,nationalen Interesses erhoben wird. Obgleich die Eltern ihre Kinder auf Institutionen mit deutscher Unterrichtssprache schicken, wird das Tschechische dennoch nicht vernachlässigt, denn Franz, Gabriele, Valerie und Ottla nehmen alle vier regelmäßig am relativ obligaten Tschechischunterricht teil. Dass Kenntnisse in beiden Landessprachen erworben werden, ist Ende des 19. Jahrhunderts keine Selbstverständlichkeit, doch gerade unter den böhmischen Juden stellen sie ein Instrument dar, der monolingualen sprachnationalen Festlegung auch durch flexible sprachliche Anpassungsfähigkeit zu entgehen. Die Schulzeit Franz Kafkas und seiner Schwestern fällt in eine Art Umbruchphase. Der Rückgang des deutsch-tschechischen bzw. tschechisch-deutschen Bilingualismus im 19. Jahrhundert schreitet unter dem Einfluss der monoglossichen Ideologie gerade bei den Tschechen, die seine Träger waren, unaufhaltsam voran. Doch gleichzeitig besitzt der Bilingualismus für gewisse Gesellschaftsgruppen noch einen Wert. Am deutlichsten sind diese Entwicklungen in der Domäne Schulwesen zu verfolgen, die als Institution ebenfalls vom deutsch-tschechischen 11. Münchner Bohemisten-Treffen, 2. März 2007 Exposé Nr. 3 1 Vgl. Lüdi, Georges (1996): Mehrsprachigkeit. In: Goebl, Hans u.a. (1996): Kontaktlinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 12.1). 1. Halbb. Berlin, New York: de Gruyter, 233-245.

2 Fleischmann Sprachenkampf gezeichnet ist und deren sprachlicher Bildungsauftrag grundsätzlich eine quantitative wie qualitative Analyse der Sprachkenntnisse und damit auch des Bilingualismus vor dem Hintergrund der makrostrukturellen Rahmenbedingungen zulässt. 2. Zielsetzung Das Teilprojekt richtet folglich sein Interesse auf das sich wandelnde Sprachverhalten der böhmischen bzw. Prager Bevölkerung im historischen und soziokulturellen Kontext des deutsch-tschechischen Sprachenkampfes der Kafka-Zeit. Die Beobachtung breiterer Bevölkerungsschichten erscheint so wichtig, weil die Sprache, ihr Erwerb und Gebrauch zum entscheidenden Kriterium der nationalen Zuordnung nicht nur im 19. Jahrhundert, sondern etwa im Kontext der nationalen Literaturgeschichte auch im 20. Jahrhundert ist. Während Anfang des 19. Jahrhunderts noch bevor der moderne Nationalismus richtig Fuß fasste ein bedeutender Teil der böhmischen Bevölkerung vornehmlich tschechischer und jüdischer Herkunft, die deutsche und die tschechische Sprache beherrscht, geht der Anteil bilingualer Sprecher mit der Entstehung und Etablierung eines tschechischen (und deutschen) Nationalbewusstseins zurück. 2 Ziel des Projektes ist es einerseits, aus soziolinguistischer Perspektive eine Relation zwischen nationalpolitischer Entwicklung und der quantitativen Veränderung der Zweisprachigkeit unter den Einwohnern Prags zu schaffen. Andererseits gilt es, den individuellen Bilingualismus in diachroner Perspektive zu charakterisieren und gewissermaßen ein sozioökonomisches Profil seiner Träger zu erstellen. Bisherige Aussagen zur deutschtschechischen Zweisprachigkeit im 19. Jahrhundert und dies trifft bis zu Nekulas Monographie 3 auch für Kafkas Biographien zu stammen meist aus der Geschichtswissenschaft 4 und konzentrieren ihr Augenmerk daher nicht auf die Sprachfähigkeiten der Bürger und deren soziale Hintergründe, sondern auf die Volkszählung und andere Quellen, die einen lediglich deklarativen Charakter haben. Dagegen basiert die vorliegende Untersuchung auf einer reichen, soziale und sprachliche Einzelheiten einschließenden Datenmenge aus den Schulkatalogen, die eine Darstellung des Sprachverhaltens und dessen Dynamik zulässt. Eine der wichtigsten Untersuchungsdomänen für die Entwicklung und den Wandel des sozial relevanten Sprachverhaltens der böhmischen (und Prager) Bevölkerung stellt das Bildungswesen dar, denn hier werden nicht nur die Grundlagen für weitere Fach- und Sprachkompetenzen gelegt, vielmehr reflektiert die Institution Schule ihre Unterrichtssprache und Fächerspektrum, das nur in bestimmten Kontexten auch die zweite Landessprache einschließt, sowie die Zusammensetzung des Lehrpersonals wie der Schülerschaft die Wechselwirkung 2 3 4 Vgl. u.a. Luft, Robert (1994): Nationale Utraquisten in Böhmen: zur Problematik nationaler Zwischenstellungen am Ende des 19. Jahrhunderts. In: Godé, M. / Le Rider, J. / Mayer, F. (Hg.): Allemands, Juifs et Tchèques à Prague, 1890-1924. Montpellier: Bibliothèque d Études Germaniques et Centre-Européennes, 37-54. Vgl. Nekula, Marek (2003): Franz Kafkas Sprachen....in einem Stockwerk des innern babylonischen Turmes.... Tübingen: Max Niemeyer. Vgl. z.b. Cohen, Gary B. (1981): The Politics of Ethnic Survival: Germans in Prague 1861-1914. Princeton N.J.: Princeton University Press; Luft, Robert (²2001): Sprache und Nationalität an Prager Gymnasien um 1900. In: Ehlers, K.-H. u.a. (Hg.): Brücken nach Prag. Deutschsprachige Literatur im kulturellen Kontext der Donaumonarchie und der Tschechoslowakei. Festschrift für Kurt Krolop zum 70. Geburtstag. Frankfurt/Main u.a.: Peter Lang, 105-122 (und weitere Untersuchungen des Autors); mit besonderer Berücksichtigung der Sozialgeschichte der Juden vgl. etwa Wlaschek, Rudolf M. (1997): Juden in Böhmen. Beiträge zur Geschichte des europäischen Judentums im 19. und 20. Jahrhundert. 2. vollst. überarb. u. erw. Aufl. München: Oldenbourg oder Kieval, Hillel J. (1988): The Making of Czech Jewry. National Conflict and Jewish Society in Bohemia, 1870-1918. New York, Oxford: Oxford Univ. Press.

Projekt: Sprache und Identität. Franz Kafka im mitteleuropäischen sprachlichen und kulturellen Kontext 3 zwischen staatlicher Sprachplanung und individuellen Sprachentscheidungen. Die Institution Schule bietet damit die Möglichkeit, Auswirkungen gesellschaftlicher Veränderungen auf den deutsch-tschechischen und tschechisch-deutschen Bilingualismus,fassbar und in bestimmter Weise,messbar zu machen, um so auch die Sprachkenntnisse der Kinder der Familie Kafka einzuordnen. Bisher bildeten die Grundlage statistischer Berechnungen in zeitgenössischen wie auch neueren Arbeiten meist die Ergebnisse der österreichischen Volkszählung 5 oder auf die Domäne Schule bezogen, offizieller und monarchieweit durchgeführter Schulstatistiken 6. Eine ähnliche Ausgangslage und damit ebenfalls begrenzte Aussagekraft besitzen auch die etwa von Luft (2001) bearbeiteten Jahresberichte der Prager Gymnasien, die Angaben zur Sprache oder zum Religionsbekenntnis wohl bewusst um politische Korrektheit bedacht nur getrennt und auch nur je Klasse beinhalten. Auf der Basis der Angaben in den Schulkatalogen setzten lediglich Nekula (2003) und Newerkla 7 (1999) erste Akzente, wobei letzterer Schulen in Pilsen untersuchte und sein Interesse auf den Sprachgebrauch innerhalb der Einrichtungen konzentrierte. Die drei genannten Materialgrundlagen evozieren / aktualisieren zwar jeweils die Kategorien,Deutsche und,tschechen, unterscheiden sich aber in ihren Erhebungsmethoden. Bei den Volkszählungen 8 wird ab dem Jahr 1880 die Frage nach der Umgangssprache integriert, die anders als im ungarischen Teil der Habsburger Monarchie und ziemlich realitätsfern lediglich mit einer Sprache beantwortet werden darf. Die statistische Erhebung wird durch die Gemeinden ausgeführt, im Falle Prags durch das tschechisch dominierte Magistrat, in dem deutsche Stadträte zunächst demonstrativ und später ganz wegbleiben. In dieser mit Labov interpretierten,formalen Situation, wo sich tschechischsprachiger Beamter und Prager Bürger gegenüberstehen, verkehrt die monarchieweite Situation, in der das Deutsche als die High- Variety betrachtet wird, ins Gegenteil um, und fordert den Codewechsel zum Tschechischen. Die Angabe Deutsch als Umgangssprache besitzt keine Neutralität mehr. Daher wundert es nicht, dass sich in den Volkszählungen deutsche Muttersprachler zur tschechischen Umgangssprache bekennen, oder, wie dies etwa die Nachbarn der Familie Kafka praktizieren, die 5 6 7 8 Vgl. z.b. Cohen (1981); Rauchberg, Heinrich (1905): Der nationale Besitzstand in Böhmen. 3 Bde. Leipzig: Duncker & Humblot; Kořalka, Jiří (1991): Tschechen im Habsburgerreich und in Europa 1815-1914. Sozialgeschichtliche Zusammenhänge der neuzeitlichen Nationsbildung in den böhmischen Länder. Wien, München: Oldenbourg. Urban, Otto (1994a): Die tschechische Gesellschaft 1848-1918. (= Anton-Gindely-Reihe zur Geschichte der Donaumonarchie und Mitteleuropas 2). Bd.1. Wien, Köln, Weimar: Böhlau; zur österreichischen Volkszählung vgl. insb. Brix, Emil (1982): Die Umgangssprache in Altösterreich zwischen Agitation und Assimilation: Die Sprachenstatistik in den zisleithanischen Volkszählungen 1880 bis 1910 (= Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte Österreichs 73). Wien/Köln/Graz: Böhlau. Vgl. z.b. Burger, Hannelore (1995): Sprachenrecht und Sprachengerechtigkeit im österreichischen Unterrichtswesen 1867-1918. (= Studien zur Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie 26). Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften; Havránek, Jan (1996): Das Prager Bildungswesen im Zeitalter nationaler und ethnischer Konflikte 1875 bis 1925. In: Melinz, G. / Zimmermann, S. (Hg.): Wien-Prag-Budapest: Blütezeit der Habsburgermetropolen. Urbanisierung, Kommunalpolitik, gesellschaftliche Konflikte (1867-1918). Wien: Promedia, 185-200 (und weitere Arbeiten des Autors); für zeitgenössische Monographien bzw. Quellen zum österreichischen Schulwesen vgl. Strakosch-Grassmann, Gustav: Geschichte des österreichischen Unterrichtswesens. Wien 1905; Fischel, Alfred von (1901/10): Das österreichische Sprachenrecht. Eine Quellensammlung. Brünn 1901/1910. Vgl. Newerkla, Stefan (1999): Intendierte und tatsächliche Sprachwirklichkeit in Böhmen. Diglossie im Schulwesen der böhmischen Kronländer 1780-1918. (= Dissertationen der Universität Wien 61). Wien: Wiener Universitätsverlag. Österreichisches statistisches Handbuch für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder. Statistik (1883-1914). Hrsg. von der k.k. Statistischen Central Commission. Wien: Hölder; Gerolds.

4 Fleischmann Angabe früherer Zählungen von Deutsch auf Tschechisch korrigieren. 9 Verstärkt wird dies noch durch die Tatsache, dass die Aussage über die Umgangssprache oft obwohl per Gesetz verboten als nationales Bekenntnis gewertet wird und dadurch weitaus größerer Konformitätsdruck entsteht. Die Kategorien Deutsche und Tschechen basieren in diesem Falle also auf der deklarierten Umgangssprache. An der Familie Kafka zeigt sich deutlich, dass diese nationale Identität in gewisser Weise nicht nur erzwungen ist, sondern dass sie auch das Phänomen der Mehrsprachigkeit der Familie verschleierten. Eine wissenschaftliche Untersuchung der Zweisprachigkeit ist auf der Grundlage solcher Quellen kaum möglich. In den offiziellen Schematismen der Volks- und Bürgerschulen (1890 und 1900) 10 wird die Zahl der Schulkinder je öffentlicher Einrichtung nach Geschlecht, Konfession (protestantisch, katholisch, israelisch) und Sprache (deutsch, böhmisch, deutsch-böhmisch) angegeben. Bei letzterer Angabe wird danach gefragt, welche Sprachen die Schüler sprechen. Durch die Möglichkeit einer Mehrfachantwort wird die Befragungssituation wesentlich entschärft. Jeder Schulleiter ist für die Sammlung der Daten in seiner Einrichtung verantwortlich. Die sprachnationalen Kategorien,Deutsche und,tschechen, werden theoretisch um die Kategorie der,nationalen Utraquisten ergänzt. Jedoch ist eine pauschale Zuordnung aller mehrsprachigen Schüler zu dieser Kategorie in Frage zu stellen. In jedem Falle ermöglicht diese Statistik, die dank ihrer erneuten Durchführung zehn Jahre später auch eine Beurteilung der Entwicklung des Bilingualismus erlaubt, bereits eine Annäherung an die territoriale Verbreitung des auch Kafka eigenen Bilingualismus in Böhmen, in begrenztem Maße auch im Zusammenhang mit dem ebenfalls erfassten Religionsbekenntnis und bietet, da die Angaben je Schule erfasst sind und Franz Kafka im Jahr der ersten Erhebung des Volksschulschematismus 1889/90 gerade die erste Klasse besucht, eine hervorragende Vergleichsbasis für meine Untersuchung. Bisher wurde in der Forschung diese Quelle in Bezug auf die Schullandschaft in Prag und speziell Franz Kafka noch nicht ausgewertet. Die Schulkataloge stellen schließlich in mehrerer Hinsicht eine einmalige Materialgrundlage für die Charakterisierung der sprachlichen Entwicklung Franz Kafkas und seiner Schwestern im Kontext der Schule dar. Durch sie konnte ich die konkrete Zusammensetzung der Klassen rekonstruieren, und zwar nicht auf Grund der sprachlichen Bekenntnisse, sondern auf Grund der sprachlichen Kenntnisse der einzelnen Schüler. Die auf Grundlage der Angabe der Muttersprache evozierten / aktualisierten eindimensionalen Kategorien,Deutsche und,tschechen, die im Kontext der formalen Einschreibesituation an der deutschen Volksschule kaum uneingeschränkt zuverlässig sein können, können also einerseits durch die mittels der Noten festgehaltenen Sprachkenntnisse verifiziert und durch weitere Angaben zu territorialer und sozialer Herkunft, die je Schüler,in Kombination erhalten sind, ergänzt und überprüft werden. Denn die proklamierten,tschechen und,deutschen verfügen nicht nur über die jeweils,andere, sondern auch über die,eigene Sprache in unterschiedlichem Ausmaß, so dass ihr Bilingualismus von der Ausrichtung und Intensität her sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. Gerade in der Zeit des sprachnationalen Ringens ist dabei die Kombination des realen Bilingualismus, des nationalen Bekenntnisses und der religiösen Orientierung von Interesse. 9 10 Vgl. Krolop, Kurt (1968): Zu den Erinnerungen Anna Lichtensterns an Franz Kafka / Ke vzpomínkám Anny Lichtensternové na Franze Kafku. In: Germanistica Pragensia 5, 21-60. Schematismus der Allgemeinen Volksschulen und Bürgerschulen in den im Reichsrathe vertretenen Königreichen und Ländern (1891, 1902). Hg. v. der k.k. Statistischen Central-Commission. Wien: Alfred Hölder.

Projekt: Sprache und Identität. Franz Kafka im mitteleuropäischen sprachlichen und kulturellen Kontext 5 Die im Rahmen der schulischen Einrichtungen auf der Mesoebene erlangten Ergebnisse können dank der gründlichen Erforschung der Person Franz Kafkas, seiner Sprachkenntnisse, seines Bildungswegs, seiner Sozialisation und seines Sprachverhaltens sowie seines sprachlichen und sozialen Umfelds auf die Mikroebene projiziert werden und umgekehrt. Wenn auch die Familie Kafka im Zentrum des Interesses steht und die Aussagekraft der empirischen Analyse insbesondere im Hinblick auf Motivationen und die Dynamik sprachlicher Identität erst entscheidend bereichert, so besitzen die gewonnenen Tendenzen doch auch allgemeineren Informationswert. Der Rückgang des tschechisch-deutschen Bilingualismus wird konfessionell, sozial, territorial und sprachlich charakterisiert. 3. Bearbeitungsverlauf Die Analyse des Themas setzt sich aus zwei großen Teilen zusammen. Ersterer beinhaltet die historischen, (schul-)politischen, ökonomischen und sozialen Zusammenhänge des Rückgangs der Zweisprachigkeit in Böhmen und speziell in Prag gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Damit wird eine Folie einerseits für das bessere Verständnis der Bedeutung sprachlicher Identität und andererseits des Sprachverhaltens Franz Kafkas, seiner Familie und der jüdischen Bevölkerung geschaffen. Die Darstellung umfasst eine größere Zeitspanne als die Periode des tatsächlichen Wandels im Sprachverhalten (ca. 1870-1900), da so die Tradition im Sprachverhalten und das Prestige des Deutschen und Tschechischen prägende Maßnahmen aufgedeckt werden. Sie beginnt mit der Reformpolitik Maria Theresias und Josephs II. Ende des 18. Jahrhunderts, die um den Preis der sprachlichen Assimilierung die Emanzipationsbewegung der Juden einleitet, aber auch allgemein mit der Ablösung des Lateinischen als überregionaler, transnationaler Verkehrssprache durch das Deutsche eine Germanisierung der sprachlichen wie kulturellen Sphäre der gesamten Monarchie forciert. Über die u.a. mittels der Sprache ausgetragene, zunehmende Nationalisierung der Ethnien wird ein Bogen bis zum Höhepunkt der deutsch-tschechischen Auseinandersetzungen am Ende des 19. Jahrhunderts gespannt. Den jeweiligen demographischen, institutionellen und statusbezogenen Stellenwert des Deutschen und Tschechischen in Böhmen und etwaige Verschiebungen im Laufe der Zeit stelle ich auf der Grundlage der Faktoren aus dem Modell der ethnolinguistischen Vitalität von Giles et al. (1977) 11 dar. Der Ansatz betont die Beziehung zwischen Sprache und Identität, Sprache wird sozusagen als identitätsstiftendes Merkmal einer Ethnie verstanden. Festzuhalten ist, dass es dabei nicht darum geht, einen Vitalitätsindex beider Landessprachen zu entwickeln, vielmehr werden vor diesem Hintergrund die strukturellen Rahmenbedingungen, in denen sich ein wesentlicher Wandel im Sprachverhalten der böhmischen Bevölkerung abspielt, systematisch erhoben, ausgewertet und klassifiziert. Im zweiten Teil untersuche ich dann empirisch die tatsächliche Entwicklung des individuellen Bilingualismus unter sozialen Gesichtspunkten. Seine Charakterisierung baut zunächst auf der Wahl der Sprache in der Schulausbildung (Unterrichtssprache, Pflicht- und Ergänzungsfach) und der bei der Einschulung von den Kindern bzw. Eltern proklamierten Muttersprache auf, die ich dann durch die Kombination der individuellen Benotung in den einzelnen Fächern mit den soziolinguistischen Parametern (Einschulungsjahr, Herkunft, Religion, Schichtzugehörigkeit) zu den jeweiligen Schülern fortsetze und insbesondere auch im Zeitablauf betrachte. Datenträger dieser Angaben sind Schulkataloge, die im Grunde Niederschriften in einem Frage- 11 Giles, Howard / Bourhis, Richard Y. / Taylor, Donald M. (1977): Towards a Theory in Ethnic Group Relations. In: Giles, H. (Ed.): Language, Ethnicity and Intergroup Relations. (= European Monographs in Social Psychology 13). London, New York, San Francisco: Academic Press Inc., 307-348.

6 Fleischmann bogen festgehaltener strukturierter Interviews darstellen. Zu Beginn eines jeden Schuljahres wurden je Schüler folgende Angaben festgehalten: Geburtsjahr, Geburts-/Wohnort, Heimatzuständigkeit, Beruf/Stand der Eltern, Religion, Muttersprache. Ergänzende Informationen liefern Namensgebung (Vorname), religiöse Feiertage, ggf. Befreiung vom Schulgeld, die sprachliche Ausrichtung der im Vorjahr besuchten Einrichtung (Schulwechsler) sowie Begründungen eines anstehenden Schulwechsels oder der Beendigung der Schullaufbahn. Diese Daten habe ich in einer elektronischen Datenbank mit der speziell dafür ausgesuchten und a- daptierten Software (SPSS) erfasst, die eine quantitative Darstellung und Auswertung der Daten erlauben. In Bezug darauf ist zu betonen, dass diese Daten sowohl in den Schulkatalogen als auch in der Datenbank je Schüler,in Kombination dokumentiert wurden, so dass sie so auch ausgewertet werden können. Die im Stadtarchiv in Prag (Archiv hlavního mĕsta Prahy, AHMP) erledigte Aufnahme der oben angeführten einzelnen Parameter je Schüler in die elektronische Datenbank ist für nachstehende Volksschulen und Schüler abgeschlossen: Privat-Volksschule des Piaristenordens mit Öffentlichkeitsrecht, Herrengasse Nr. 1, Prag, 13 Klassen im Zeitraum von 1870/71 bis 1898/99 (insgesamt 1212 Schüler); Deutsche Volks- und Bürgerschule Prag I (Jungen), Fleischmarktgasse 16, 23 Klassen im Zeitraum von 1875/76 bis 1899/1900 (insgesamt 1577 Schüler); Deutsche Volks- und Bürgerschule Prag I (Mädchen), Fleischmarktgasse 18, 32 Klassen im Zeitraum von 1871/72 bis 1898/1899 (insgesamt 2128 Schülerinnen); Obecná škola u sv. Havla v Praze, Uhelný trh 425, 8 Klassen im Zeitraum von 1875/76 (in diesem Jahr Aufteilung in Jungen- und Mädchenschule) bis 1899/1900 (insgesamt 582 Schüler); Deutsches Staats-Gymnasium Prag Altstadt, 46 Klassen im Zeitraum von 1874/75 bis 1899/1900 (insgesamt 1716 Schüler). Auf der Basis der Schulkataloge der Volksschulen habe ich für die erwähnte Periode im Abstand von zwei bis drei Jahren die kombinierten Daten (s.o.) der dritten, in Ausnahmefällen der vierten Jahrgangsstufe gesammelt. Für die erste Hälfte der 1880er Jahre wurde dieses Intervall für die Einrichtungen mit deutscher Unterrichtssprache aufgehoben und jedes Jahr dokumentiert. Denn im Jahr 1882/83 ist mit der Teilung der Universität in eine deutsche und eine tschechische Einrichtung der Ausbau des tschechischen Bildungswesens abgeschlossen, von da an ist die Lehre von der Grund- bis zur Hochschule in tschechischer Sprache gewährleistet. Dieser Möglichkeit schreibe ich für die Entfaltung des Bilingualismus außerordentliche Bedeutung zu. Mit zwei sprachlich getrennten Bildungswegen fällt der Druck weg, sich die andere Landessprache anzueignen. Der Bilingualismus wird dadurch gehemmt, was in Mähren 1895 mit der Reform des Realschulgesetzes, zur Korrektur dieser Separation durch die Verpflichtung zur anderen Landessprache führt. In Böhmen ist eine derartige Annäherung aus politischen Gründen jedoch nicht möglich. Zugleich verschärft die Separation der Bildungsinstitutionen auf zwei Landessprachen die sprachnationale Identifikation und verändert sowohl das Sprachverhalten der böhmischen Bevölkerung (Einschulung in deutschen Volksschulen) als auch die Einstellung zum Bilingualismus. Im Falle der Gymnasien sind neben den Jahresberichten v.a. auch die Schulkataloge von größter Bedeutung, da sie im Unterschied zu der offiziellen Statistik in den Jahresberichten (die ähnlich wie die Schematismen der Volks- und Bürgerschulen nur eine absolute Zahl der

Projekt: Sprache und Identität. Franz Kafka im mitteleuropäischen sprachlichen und kulturellen Kontext 7 Schüler benennen, die die zweite Landessprache erlernt haben) auch den Lernerfolg im Hinblick auf deren sprachlichen, sozialen und territorialen Hintergrund erkennen und die sprachliche Situation in den Klassen rekonstruieren lassen. Am Altstädter Gymnasium (insgesamt acht Jahrgangsstufen), habe ich je ausgewähltem Jahrgang die erste(n) Klasse(n) und je nach Verfügbarkeit eine höhere Jahrgangsstufe (vierte, fünfte oder sechste) in die Datenmenge aufgenommen. Ferner gehören die gesamten Angaben des Einschulungsjahrgangs Franz Kafkas (1893) von der ersten bis zur achten Klasse zum gesammelten Datenmaterial. Ein konkretes Beispiel eines solchen Datenbündels wäre: Hugo Bergmann, Schuljahr 1891/92, Klasse 3a: Sept. 1889 Einschulung an der Altstädter Volksschule für Jungen; kein Schulwechsel; kein Privatschüler; Angabe der Sprache d. (deutsch); mosaisches Religionsbekenntnis; an jüdischen Feiertagen frei; Heimatzuständigkeit Prag, Böhmen; am 15.01.1884 in Prag, Böhmen geboren; Kind wohnt bei den Eltern in Prag I am Kleinen Ring 8; Erziehungsbeauftragte sind Vater Siegmund und Mutter Johanna; der Vater ist Reisender von Beruf; Noten vierteljährlich in Lesen (2-1-1-1), Sprachlehre (2-1-1-1), Rechtschreiben (2-2-1-1), schriftlicher Gedankenaustausch (2-2-1-1), Rechnen (2-1-1-1), Schreiben (2-2-2-2), Tschechisch (2-1-1-1); Abgesehen von diesen Datenbündeln je Schüler habe ich für die beiden deutschen Volksschulen, die Franz Kafka und seine Schwestern besuchten, alle Schüler, die die jeweilige Einrichtung ab Mitte der 1880er Jahre besuchten und eine Angabe zur Muttersprache führten, diese in Kombination mit dem Religionsbekenntnis je Klasse und Schuljahr erfasst (21.388 Schülerinnen und Schüler). Ferner habe ich eine Übersicht aller Klassen und wenn möglich auch der unterrichtenden Lehrer mit Angabe des Faches für die Volksschulen und Kafkas Gymnasium im Zeitraum von 1870 und 1900 erstellt, dazu wurden 927 Klassen erfasst. Die Datenbank war sehr zeitaufwendig, da die Schulkataloge in dieser Zeit in Sütterlin/altdeutscher Schrift geführt wurden. So mussten diese Einträge zunächst entziffert und dann in die Datenbank einzeln eingetippt werden, da für die altdeutsche Schreibschrift kein Erkennungsprogramm für etwaiges Einscannen existiert. Trotzdem habe ich mich für dieses Vorgehen entschlossen, da mir die Datenbank die oben erwähnte statistische Auswertung der Daten erlaubt, die sowohl zeitlich als auch inhaltlich sehr effektiv ist. Die Lehrer, die auf der Basis eines Gesprächs mit den Eltern und Schülern die Angaben in die Schulkataloge eingetragen haben, schränken nicht nur als Interviewer sondern auch als subjektive Bewerter der Sprachkenntnisse der Schüler, sei es beim Einschulungsgespräch oder bei der Bewertung der schulischen Leistungen, die objektive Gültigkeit der auf die Sprachkompetenzen bezogenen Untersuchung ein. Erschwerend kommt hinzu, dass die Datenlage zu den Lehrkräften, besonders an den Volksschulen, eine Charakterisierung der einzelnen Lehrpersonen etwa in sprachlicher oder religiöser Hinsicht kaum zulässt. Während die Informationen zu den Gymnasiallehrern, ihren Fächerkombinationen und Ausbildungswegen ausreichend erhalten sind, ist bei den Volksschullehrern bisher z.t. nur eine Rekonstruktion dieser Verhältnisse über vereinzelte Angaben in den Schulkatalogen oder weiteren überprüften Dokumentenpaketen zu Lehramtsprüfungen, Schulberichten etc. möglich. Hinweise auf Religionszugehörigkeit oder gar,nationalität der jeweiligen Personen konnten in den bisher gesichteten Unterlagen, wie etwa noch erhaltenen Qualifikationstabellen, Gehaltslisten oder Schulrechtsverfahren, nicht gefunden werden. Grundsätzlich ist zu betonen, dass die Auswertung der Datenmenge zwar u.a. auf der Grundlage quantitativer Methoden (SPSS) erfolgt, in erster Linie aber Zusammenhänge und sich manifestierende Tendenzen der Zweisprachigkeit aufgezeigt werden sollen und nicht der Anspruch einer analytischen Statistik erhoben wird bzw. erhoben werden kann.

8 Fleischmann Die empirische Untersuchung des individuellen Bilingualismus beschränkt sich auf den Zeitraum von 1870 bis zur Jahrhundertwende, und zwar aus mehreren Gründen: (1) Erst mit der Etablierung eines tschechischsprachigen Schulwesens im Laufe der 1860er Jahre verändert sich das Sprachverhalten und die Einschulungspraxis der böhmischen Bevölkerung im Hinblick auf die Schulen mit deutscher und tschechischer Unterrichtssprache maßgeblich, wodurch auch das deutsche Schulwesen in Böhmen und Prag geprägt wird. (2) Erst in den Jahren 1870 bis 1900 wird unter den Rahmenbedingungen des politisch ausgetragen Sprachenkampfes das Bildungssystem funktional, territorial und national wesentlich ausgebaut, so dass die institutionellen Voraussetzungen (Separation des tschechischen und deutschen Bildungswegs) für einen entscheidenden Wandel in der Zweisprachigkeit der böhmischen Bevölkerung geschaffen werden. (3) Es ist die Zeit, die für Kafkas Bildungssweg unmittelbar relevant ist und das Klima sowie das Fächerspektrum der Schulen, die Kafka besuchte, prägt. Um allerdings Kafkas Schulen und deren Besonderheiten im Kontext zu sehen, wurden weitere Prager Schulen berücksichtigt und zwar die (ebenfalls deutsche) Privatvolksschule des Piaristenordens mit Öffentlichkeitsrecht (d.h. staatlich anerkannt) sowie die tschechische Volksschule,U sv. Havla. Erstere bietet sich als Vergleichseinrichtung an, da sie neben der Altstädter Volksschule und jener im ehemaligen jüdischen Ghetto Josefov gelegenen Schule ähnlich stark von jüdischen Kindern frequentiert wird. Zudem befinden sich darunter andere Vertreter der Prager deutschen Literatur wie Fritz Mauthner, Egon Erwin Kisch, Franz Werfel und Leo Perutz. Die Auswahl der zweiten Schule ist durch ihr Einzugsgebiet begründet. In Prag existieren seit dem Schulaufsichtsgesetz aus dem Jahr 1873 im Gegensatz zum Gebiet des restlichen Böhmens zwei Schulbezirke, ein,tschechischer und ein,deutscher, die wiederum nach Schultyp und Geschlecht in einzelne Schulgemeinden mit abgetrenntem Einzugsgebiet aufgeteilt sind. Die öffentliche Volksschule,U sv. Havla in der Altstadt hätte also für Franz Kafka die,tschechische Alternative dargestellt. Die Familie Kafka bleibt trotz einiger Umzüge immer im deutsch und jüdisch geprägten Zentrum Prags wohnhaft, was sich auch in der konfessionellen Schichtung der von Franz besuchten Schulen widerspiegelt. Erkenntnisse über Kafka lassen sich daher zumindest teilweise auf das Prager Judentum projizieren. Gerade im Alten Kern der Stadt kommt der Modellcharakter Prags für eine Mehrheiten-Minderheiten Konstellation und deren Sprachverhalten zum Ausdruck, die nicht nur in der österreichischen Völkermonarchie zu finden ist. Auch vor der Gründung der Tschechoslowakischen Republik 1918 stellt die deutschsprachige Bevölkerung die quantitative Minderheit in Prag dar. Obwohl sie zahlenmäßig weit hinter den tschechischsprachigen Einwohnern zurückliegt im Jahr 1890 besteht die Bevölkerung des inneren Prag (Altstadt, Neustadt, Kleinseite, Hradschin, Josefstadt, Vyšehrad, Holešovice-Bubny) aus etwa 83% tschechisch- (und anders-)sprachigen und 17% deutschsprachigen Einwohnern (vgl. Cohen 1981: 92), befinden sich ihre Mitglieder in der gesellschaftlichen Hierarchie qualitativ in den oberen Schichten und nehmen entscheidende Positionen im Machtapparat ein. Im Rahmen der angestrebten Monographie Bilingualismus und Sprachnationalismus an deutschen Prager Volksschulen und Gymnasien der Kafka-Zeit wird gezeigt, wie sich einerseits die quantitative deutschsprachige Minderheit und andererseits die tschechischsprachige Mehrheit im Kontext der sich wandelnden politischen und gesellschaftlichen Bedingungen auf sprachlichem Terrain bewegen.