1. Zuerst möchte ich mich für die Einladung bedanken.

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Transkript:

1 Alfred Escher Briefwechsel 1848-1852 Aufbau des jungen Bundesstaates, politische Flüchtlinge und Neutralität Freitag, 9. November 2012, Belvoirpark Restaurant, Zürich Dr. Eduard Gnesa, Sonderbotschafter für internationale Migrationszusammenarbeit Thematische Intervention Sehr geehrte Damen und Herren 1. Zuerst möchte ich mich für die Einladung bedanken. Frau Wiederkehr hat die Diskussionen und Herausforderungen in der Migrationspolitik zur Zeit von Alfred Escher aufgezeigt. Noch heute werden im Parlament und an den Stammtischen der Schweiz zum Teil ähnliche Diskussionen geführt wie damals. Migration ist und bleibt ein umstrittenes Thema. Wie könnte es anders sein bei zirka 1.8 Millionen Ausländerinnen und Ausländern, die in unserem Land leben und arbeiten. Das bedeutet, dass etwa 22 % der Bevölkerung der Schweiz keinen Schweizerpass haben. 1850 betrug der Anteil der Ausländerinnen und Ausländer gerade einmal 3% der Gesamtbevölkerung. Zu Alfred Eschers Lebzeiten befand sich die Schweiz im Wandel vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland. Ab 1880 kommen nämlich zum ersten Mal mehr Ausländerinnen und Ausländer in die Schweiz als Schweizerinnen und Schweizer auswandern.

2 Die Welt hat sich seit Alfred Eschers Zeit stark verändert. Die technische Revolution hat Reisewege verkürzt und die Kommunikation über grosse Distanzen vereinfacht. Während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dauerte eine Überfahrt von England nach New York durchschnittlich 45 Tage, nach der Einführung des Dampfschiffs noch acht Tage. Heute fliegen wir in sieben Stunden nach New York. In der damaligen Zeit kam das Telefon auf; heute besitzt bei uns wohl jeder und jede ein Telefon, und noch interessanter: in Afrika verfügt mittlerweile jede 2. Person über ein Natel. Wir leben in einem Informationszeitalter. Diese Entwicklung hat auch einen grossen Einfluss auf die Migration der Gegenwart. In der globalisierten Welt von heute mit weltweit 240 Mio. Migrantinnen und Migranten ist die Migration eine Herausforderung, welche die Schweiz nicht alleine bewältigen kann, nicht einmal auf regionaler Ebene. Deshalb darf sie sich nicht isolieren; sie muss vielmehr international aktiv sein. In migrationspolitischen Belangen ist die Welt zum Dorf geworden. 2. Heute beschäftigt sich die Schweiz unter anderem mit folgenden Herausforderungen: reguläre Migration; Integration irreguläre Migration; Rückkehr und Reintegration; Gewährung von Schutz (PiR & Asyl); Migration und Entwicklung; und globale Gouvernanz der internationalen Migrationsströme.

3 Die Schweiz verfolgt eine Migrationsaussenpolitik, die auf drei Grundprinzipien basiert: Migration wird erstens als Chance und als Herausforderung verstanden. Zweitens verfolgt die Schweiz in der Migrationsaussenpolitik einen partnerschaftlichen Ansatz. Das bedeutet, dass sie nicht nur ihre eigenen Interessen verfolgt, sondern die Interessen der Partnerstaaten und der Migrantinnen und Migranten miteinbezieht. Damit schaffen wir eine Win-win-win-Situation. Der dritte Grundsatz der Migrationsaussenpolitik ist der Gesamtregierungsansatz: Die Kohärenz der Migrationsaussenpolitik der Schweiz wird durch die interdepartementale Zusammenarbeit sichergestellt. 3. Noch heute sehen viele die Schweiz als Insel umgeben von der EU so wie die Schweiz früher eine Insel im monarchischen Europa war, wie Frau Wiederkehr ausführte. In der Migrationspolitik trifft dies sicher nicht zu. Denn in Europa ist die Schweiz in einen regionalen Ansatz einbezogen. Beim Freizügigkeitsabkommen und im Schengen-Dublin-System hat sie die gleichen Rechte und Pflichten wie die EU-Staaten, und an Legitimation fehlt es nicht: im Unterschied zu allen anderen Staaten fanden darüber Volksabstimmungen statt.

4 Die Einbettung in die europäische Migrationspolitik zeigt, dass der strikte Neutralitätsansatz von Alfred Escher heute zumindest in diesem Bereich nicht mehr so absolut angewendet wird. Mit der aktiven Neutralität der Schweiz von heute können wir aber einen Beitrag zur globalen Gouvernanz der internationalen Migration leisten, zum Beispiel in der UNO oder am Globalen Forum für Migration und Entwicklung. 4. Zu Lebzeiten Alfred Eschers wurde über Flüchtlingswellen aus unseren Nachbarstaaten gesprochen. Heute sprechen wir über Migration aus dem Maghreb, aus Nigeria oder vom Westbalkan. Personen aus unseren Nachbarstaaten, die in der Schweiz leben, nicht mehr als Bedrohung wahrgenommen. Die allermeisten sind gut integriert. Die Schweiz und ihre Wirtschaft sind auf Migration angewiesen und werden es wenn man die demographische Entwicklung in Westeuropa ernst nimmt auch bleiben. 5. Zu Zeiten Alfred Eschers wurde darüber diskutiert, die Drahtzieher der politischen Unruhen dem betroffenen Nachbarland auszuliefern, um die Beziehungen zu diesen Ländern nicht noch mehr zu belasten. Laut meiner Vorrednerin hat die Ausweisung der politischen Anführer der Aufstände von 1848 dazu geführt, dass der Bundesrat von Kritikern als 7 Schwaben beschimpft wurde und Bundesrat Furrer den kritischen Zürcher Regierungsrat beschuldigte,

5 dem Bundesrat das rechte Bein abgeschlagen zu haben. Diese Frage stellt sich heute so nicht mehr. Die Staatsbürger unserer Nachbarn werden nicht mehr politisch verfolgt, weshalb für sie der Grundsatz des Non-Refoulement, nicht zum Tragen kommt; der es uns verbietet, einen Flüchtling in ein Land zurückzuschicken, in dem sein Leben gefährdet sein könnte. Die Diskussionen mit unseren Nachbarländern drehen sich eher um Steuerabkommen und Fluglärm als um das Non-Refoulement. 6. Damals wie heute werden Diskussionen über die Kosten der Unterbringung von Asylsuchenden, über die Verantwortung der Kantone und des Bundes, die Integration von Migrantinnen und Migranten, etc. geführt. Die Aussenpolitik und damit die Migrationsaussenpolitik ist heute alleinige Sache des Bundes. Dies ist unumstritten, jedoch sind die Kompetenzen in der Migrationsinnenpolitik immer noch zwischen Kanton und Bund verteilt. Wie Frau Wiederkehr uns bereits erläutert hat, wurde zur Zeit Alfred Eschers eine schärfere Brille beim Einlass von Flüchtlingen gefordert und Nationalräte forderten einander zum Duell heraus. Auch heute wird, wie wir alle wissen, gerade in der Asylpolitik mit harten Bandagen gekämpft, aber Säbel kommen nicht mehr zum Einsatz.

6 7. Zum Schluss: Es hat seit Alfred Escher auch andere Fortschritte gegeben. - Heute wandern unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger freiwillig aus, nicht mehr aus Not, wie es damals noch mehrheitlich der Fall war. - Unsere humanitäre Tradition wird weitergeführt, und ist wohl noch etwas grosszügiger als im 19. Jahrhundert. Im europäischen Vergleich liegt die Schweiz heute bei der Anzahl aufgenommener Flüchtlinge proportional zur Bevölkerung an der Spitze. - Die Integration von Ausländerinnen und Ausländern ist im Grossen und Ganzen gut verlaufen. - Das duale Zulassungsprinzip hat der schweizerischen Wirtschaft die nötigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zur Verfügung gestellt. - Und auch in Fragen der öffentlichen Sicherheit sind wir bisher mit dem Einbezug in das Schengen-System gut gefahren, auch wenn die Herausforderungen bei der Bekämpfung der Kriminalität oder der irregulären Migration nach wie vor wie zu Eschers Zeiten gross sind. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.