BERUFSSCHULEN IM GESUNDHEITSWESEN PHYSIOTHERAPIESCHULE BASEL



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BERUFSSCHULEN IM GESUNDHEITSWESEN PHYSIOTHERAPIESCHULE BASEL D I P L O M A R B E I T PILATES ALS FUNKTIONELLES RUMPFMUSKELTRAINING- EINE ANALYSE DER GRUNDPRINZIPIEN MIT BEISPIELEN VON TRAINIE- RENDEN Der heutige Stand der Physiotherapie im Kanton Basel-Stadt FRANÇOISE ROSSE : Physiotherapieschülerin Petersgraben 1 4051 Basel Juni 2005 Arbeit unter der Leitung von MARKUS FRIEDLIN, Physiotherapeut, Ergonic Physiotherapie, Muttenz 1

Inhalt PILATES ALS FUNKTIONELLES RUMPFMUSKELTRAINING-... 1 EINE ANALYSE DER GRUNDPRINZIPIEN MIT BEISPIELEN VON TRAINIERENDEN... 1 Zusammenfassung... 3 Resumé... 3 Summary... 3 1. EINLEITUNG... 4 2. GESCHICHTE... 4 3. PILATES SECHS GRUNDPRINZIPIEN... 6 4. RUMPFMUSKULATUR... 7 4.1. MUSKELSCHLINGEN... 7 5. DIE FUNKTIONEN DER RUMPFMUSKULATUR... 9 5.1. DIE BEWEGENDE FUNKTION DER RUMPFMUSKULATUR... 9 5.2. DIE STABILISIERENDE FUNKTION DER RUMPFMUSKULATUR... 9 6. FUNKTIONELLES TRAINING DER RUMPFMUSKULATUR... 18 7. ÜBUNGSPRINZIPIEN DES PILATESTRAININGS... 19 8. ÜBUNGSANALYSEN... 20 8. 1. SIDE KICKS (Abb. 4)... 20 8. 2. SHOULDER BRIDGE (Abb. 5)... 23 8. 3. DEAD BOX (Abb. 6)... 25 8. 4. SWIMMING (Abb. 7)... 27 8. 5. ROLL UP AND DOWN (Abb.8)... 29 9 BEISPIELE VON TRAINIERENDEN... 31 FR. S.... 31 HR. S.... 35 10. SCHLUSSBEMERKUNGEN... 38 11. QUELLEN:... 39 2

Zusammenfassung In dieser Arbeit wird besprochen ob Pilates, der neue Fitnesstrend, ein funktionelles Training der Rumpfmuskulatur darstellt. Die Grundprinzipien, mit welchen Pilatesübungen die Rumpfmuskulatur aktivieren, weisen oft einen hohen stabilisierenden Charakter auf. Das System der muskulären Stabilisierung arbeitet meist isometrisch. Die stabilisierende Funktion wird durch verschiedene Ausgangsstellungen, Labilisierung der Unterstützungsfläche und Transversusrekrutierung optimiert. Jedoch wird der grossen Bewegungsfunktionalität des Rumpfes und dem Full Range of Motion Training, welches für die Mobilität sowie die Stabilität essentiell ist, wenig Rechnung getragen. Somit wird Pilates nicht allen Aspekten eines Funktionellen Trainings gerecht. Schlüsselwörter: Rumpfmuskulatur, Muskelschlingen, Funktionalität, Stabilisierendes System, Bewegungsfunktionalität, thorako-lumbale Faszie, Transversusspannung Resumé Dans se travail la question est soulevée à savoir si Pilates", la nouvelle tendance de Fitness, représente effectivement un entraînement fonctionnel de la musculature du tronc. Les principes de base avec lesquels les exercices de "Pilates" activent la musculature du tronc, indiquent souvent un effet accru de stabilisation. Le système musculaire inférieur au système de stabilisation travaille souvent de façon isométrique. La fonction stabilisatrice sera alors optimalisée au moyen de différentes positions de départ tel que: instabilité de la surface de soutien et de l'activité transversus. Toutefois très peux d attention n est prêtée à la grande mobilité du tronc ainsi qu au "Full Range of Motion Training" qui en fait est essentiel pour la stabilité. C est la raison pour laquelle "Pilates" ne répond pas entièrement à tous les aspects d un entraînement fonctionnel. Mots clés: musculature du tronc, chaînes des muscles, fonctionnalité, système de stabilisation, la fonction de la mobilité, fascie thoracolumbaire, la tension transversus Summary In this paper the question is raised, whether Pilates, the new fitnesstrend, is a functional training of the Truncmuscles or not. The basic principles of Pilatesexcercises often have a stabilizing character. The muscular subsystem of the stabilizing system is mostly activated isometrically, which is achieved through the benefits of different starting positions, unstable support surfaces and recruitment of the transversus abdominis muscle. However Pilates suggests only a few Full Range of Motion excercises to train the mobility of the trunc. Also in terms of trunc-stabillity though, such excercises are of major importance. That is the reason why Pilates cannot be considered to be a complete functional training. Keywords: Truncmuscles, chains of muscles, functionality, stabilizing system, function of mobility, Thoracolumbar fasciae, contraction of m. transversus abdominis 3

1. EINLEITUNG Joseph Hubertus Pilates veröffentlichte schon 1945 ein Buch über die Hintergründe und die Philosophie seiner Trainingsmethode. Jedoch blieb den meisten Leuten der Begriff Pilates Training bis vor wenigen Jahren unbekannt. Heutzutage ist Pilates in aller Munde und wichtiger Trainingsbestandteil verschiedenster Sportarten. Diverse Zeitungen und Frauenzeitschriften lobpreisen dieses Training mit dem primären Ziel der Rumpfstabilisation, weil man dadurch innerhalb kurzer Zeit eine schlanke Taille erhalten könne, die Wirbelsäule beweglicher würde und die oberflächliche sowie auch die tiefe Rücken- und Bauchmuskulatur aktiviert und trainiert werden könne. Andere assoziieren Pilates mit Transversusspannung und sehen in den Übungen eine ideale Beckenbodenkräftigung, und wieder andere schwören auf Pilates weil es Rückenbeschwerden vorbeugen oder sogar lindern soll. Nachdem die Autorin in dieser Arbeit kurz auf die Geschichte des Pilatestrainings eingeht, werden die Funktionen der Rumpfmuskulatur beschrieben und erläutert, welche Voraussetzungen es braucht, um diese Funktionen zu gewährleisten. Anschließend folgt eine Analyse verschiedener Pilatesübungen in Bezug auf ihre Grundprinzipien, Funktionalität und Muskelaktivierung. Dies wird mit Beispielen von Übenden dokumentiert. 2. GESCHICHTE Joseph Hubertus Pilates (Abb. 1) wurde 1880 in der Nähe von Düsseldorf geboren. Er litt als Kind unter Asthma und rheumatischem Fieber, weshalb er viel Zeit in Sanatorien verbrachte, wo er erstmals mit Gymnastik in Kontakt kam. Pilates' Faszination für Sport machte sich früh bemerkbar. Er trainierte intensiv Bodybuilding, und mit 14 Jahren war sein Körper bereits so gestählt, dass er für Anatomie Atlanten posieren konnte. Mit 32 Jahren wanderte Pilates nach England aus, wo er als Boxer und Selbstverteidigungslehrer arbeitete. Die Zeit des ersten Weltkrieges verbrachte Pilates in englischer Kriegsgefangenschaft, wo er sein Fitnessprogramm unter den Mitgefangenen verbreitete. Dies waren Übungen auf einer Matte. 4

Nach dem Krieg nutzte Pilates seine Erfahrungen um Kriegsverwundete zu rehabilitieren. Er entwickelte Federn, die man an Betten befestigen konnte, sodass auch bettlägerige Patienten Übungen gegen Widerstand ausführen konnten. Dies führte zur Entwicklung des Cadillac (Abb. 2) und anderen Apparaten wie dem Universal Reformer, bei welchem der Trainierende auf einer gleitenden Scheibe sitzt, steht oder liegt und mit Hilfe von Springfedern gegen Widerstand arbeitet. 1926 wanderte Pilates per Schiff nach Amerika aus, wo er seine zukünftige Frau kennenlernte. Sie war Krankenschwester und versuchte später aus physiologischer Sicht den positiven Effekt des Pilatestrainings zu begründen. In New York gründete Pilates ein Fitnessstudio und machte bald Bekanntschaft mit verschiedenen Tänzern und Choreographen. Das Training des Deutschen etablierte sich in der Tanzwelt rapide. Die neue Übungsmethode wurde von Tänzern nicht nur zu Trainings-, sondern auch zu rehabilitativen Zwecken eingesetzt. Pilates starb 1967. Er publizierte zu Lebzeiten zwei Bücher: Your Health und 1945 Return to Life through Contrology. Mit Contrology benannte Pilates das Endziel seines Trainings: komplette Koordination von Körper, Geist und Seele. 5

3. PILATES SECHS GRUNDPRINZIPIEN In Return to Life through Contrology erläuterte Pilates die sechs Grundprinzipien seiner Methode: 1. Konzentration während der Übungsausführung, 2. Kontrolle über Gelenkstellungen und auszuführende Bewegungen (was eine intakte Propriozeption voraussetzt), 3. Zentrierung, 4. fliessende Bewegungen, 5. Präzision: d.h. die Übung nur solange ausführen, wie sie auch korrekt ausgeführt werden kann, und 6. die Atmung. Korrekterweise sollte während der Pilatesatmung darauf geachtet werden, den Bauchnabel immer eingezogen zu halten während maximal in-und exspiriert wird. Die Atemmechanik die sich daraus ergibt ist eine Flankenatmung. Sie hat den Vorteil, dass der m. transversus abdominis ständig arbeitet: während der maximalen Exspiration gemäss seiner Funktion, während der Inspiration als Widerlagerer. Während einer Studie von L. Herrington und R. Davies wurde mittels einer Biofeedback Druckmessung die isolierte Aktivität des m. transversus abdominis gemessen 1. Bei dieser Studie schnitten Pilatestrainierende im Vergleich zu einer Kontrollgruppe, welche andere Fitnesstunden zur Kräftigung der Bauchmuskulatur besuchten, sehr gut ab. 93% der 12 Pilatestrainierenden konnten den m. transversus abdominis isoliert anspannen, während es bei der Kontrollgruppe nur 33% waren. Ob die Fähigkeit, den m. transversus abdominis isoliert anspannen zu können alleine auf die Pilatesatmung zurückzuführen ist, ist aus der Studie jedoch nicht ersichtlich. Mit Zentrierung meinte Pilates, dass der Trainierende die Kraft für die Übungen aus der ventralen Zone zwischen den unteren Rippenbögen und dem Beckenboden rekrutieren soll. Der m. transversus abdominis, m. rectus abdominis, mm. obliquus internus und externus sind somit Bestandteile von dem, was Pilates Zentrum nannte. Er gab dieser Zone auch den Namen Powerhouse (Abb. 3). Das Powerhouse ist Fokus sämtlicher Pilatesübungen. 1 Herrington, L., Davies, R. : The influence of Pilates training on the ability to contract the Transversus Abdominis muscle in asymptomatic individuals, S. 52ff. 6

Viele Schüler und Instruktoren, die Pilates selber ausbildete, nahmen Teile seiner Übungen und entwickelten daraus ein eigenes, neues Training, welches sie noch immer Pilates nannten. Dies ist einer der Gründe, weshalb es heute mehrere Interpretationen der Pilatesmethode gibt. Ein weiterer Grund dafür ist die Tatsache, dass J. H. Pilates den flachen Rücken, ohne physiologische s-förmige Krümmung, als optimale Ausgangsstellung seines Trainings bezeichnete. Da man heute um die ungünstige Statik des Flachrückens weiss, hat sich neben dem klassischen Pilates (mit flachem Rücken) noch ein Polestar Pilates entwickelt, bei welchem die Ausgangsstellungen die physiologische S-Form der Wirbelsäule ist. In dieser Arbeit werden Übungen aus dem Übungspool des Polestar Pilates Mattentrainings besprochen. 4. RUMPFMUSKULATUR Die Muskulatur des Rumpfes ist mit den knöchernen Strukturen des Rumpfes verbunden. Sie lässt sich in echte (autochthone) und in eingewanderte Rumpfmuskulatur unterteilen. Die autochthone Rumpfmuskulatur wird schon embryonal am Rumpfskelett angelegt und verweilt auch dort, während die eingewanderte Rumpfmuskulatur embryonal als Muskulatur der unteren bzw. oberen Extremität angelegt wurde und im Verlaufe ihrer Entwicklung ihren Ursprung an das Rumpfskelett verlagert hat 2. Der Rumpf gliedert sich in Brustkorb, Bauchraum und Becken mit der Wirbelsäule als zentrales Achsenskelett. Zu seinen knöchernen Elementen zählen somit die Wirbelsäule (Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule sowie Kreuz- und Steissbein), 12 Rippenpaare, Sternum und Becken. 4.1. MUSKELSCHLINGEN Eine funktionelle Unterteilung der quergestreiften Muskulatur in sogenannte Muskelschlingen zeigt die Wichtigkeit der Rumpfmuskulatur als Schaltstelle der Bewegungsübertragung von unterer und oberer Extremität. Als Muskelschlinge bezeichnet man Muskeln mit antagonistischer Funktion, die am selben Skelettelement oder in einer gemeinsamen Aponeurose inserieren. Im Hinblick auf die Gesamtfunktion ist die Tätigkeit der Muskeln in einer Muskelschlinge jedoch sowohl bei der Ausführung einer Bewegung als auch bei der Stabilisierung des Skelettelementes als synergistisch anzusehen 3. Diese Verbindung von gemeinsam handelnden Muskeln ist die Gewähr für einen reibungslosen, ökonomischen und ästhetischen Bewegungsablauf 4. Während Beobachtungen von Sportlern bei der Ausübung verschiedener Disziplinen sieht man, dass bei unterschiedlichen Bewegungsabläufen die Muskelgruppen immer in denselben funktionellen Verbänden arbeiten. Es gibt mehrere Muskelschlingen: 2 Stammler, L. : Anatomieskript, S. 32ff. 3 Rauber/Kopsch : Anatomie des Menschen, S. 167ff. 4 Tittel K. : Beschreibende und funktionelle Anatomie des Menschen, S. 219ff. 7

STRECKSCHLINGE: m. triceps, m. quadriceps femoris, m. add. magnus, m.tensor fascia lata (TFL), m. gluteus maximus, m. lat. dorsi, m. erector spinae, m. multifidi und der m. teres major. BEUGESCHLINGE: m. iliopsoas, m. rectus femoris, m. (TFL), m. sartorius, m. glut. minimus, mm. adductor longus und brevis. Sie stellt die antagonistische Muskulatur der Streckschlinge dar. GANZKÖRPERSCHLINGEN: Ganzkörperschlingen haben einen diagonalen Verlauf. Sie umspannen die untere und obere Extremität. Ihre bewegende Funktion kommt jedoch im Pilatestraining nicht zum vollen Ausdruck, da sie jeweils im Powerhouse widerlagert wird. 1. Ganzkörperschlinge: mm. rhomboidei, m. serratus ant., m. obliquus abdominis externus, Schenkeladduktoren der kontralateralen Seite, m. bizeps femoris. 2. Ganzkörperschlinge: m. pectoralis major, m. obliquus abdominis externus, m. obliquus abdominis internus der kontralateralen Seite, m. tensor fasciae latae, m. tibialis ant. Die Arbeitsweise der Streck- und Beugeschlingen wird im Kapitel der Übungsbesprechungen ersichtlich. Beispiel der Arbeit der Streck- und Beugeschlinge beim Rudern 8

5. DIE FUNKTIONEN DER RUMPFMUSKULATUR Die Aufgaben der Rumpfmuskulatur sind sehr vielfältig. Dabei stehen sich immer zwei gegensätzliche Funktionen gegenüber: Die Stabilität vs. die Mobilität des Rumpfes. Prinzipiell sind alle Rumpfmuskeln an der Mobilität wie auch an der Stabilität der verschiedenen Gelenke des Rumpfes beteiligt 5. In erster Linie üben diese beiden Funktionen ihre Wirkung auf die Wirbelsäule aus. 5.1. DIE BEWEGENDE FUNKTION DER RUMPFMUSKULATUR Diverse Bewegungsabläufe des Alltags, seien es Activities of Daily Life, berufliche oder sportliche Tätigkeiten, setzen Beweglichkeit der Wirbelsäule voraus. Schon das Einnehmen einer s-förmigen Neutralstellung der Wirbelsäule, wäre ohne Beweglichkeit der Wirbelsäule nicht möglich. Die Beweglichkeit der Wirbelsäule ist in den lordotischen Abschnitten am ausgeprägtesten. Einerseits ermöglicht sie im Bereich der Halswirbelsäule (HWS) dem Körperabschnitt Kopf die Kontrolle über das Blickfeld in alle Richtungen. Im Bereich der Lendenwirbelsäule (LWS) werden während dem Gehen Bewegungen des Beckens auf die LWS übertragen, und widerlagert. Ebenfalls werden in der LWS Bewegungsausschläge der oberen Extremität widerlagert. Sind die Bewegungsausschläge weiterlaufend, so setzt dies auch wieder Beweglichkeit der Wirbelsäule voraus. 5.2. DIE STABILISIERENDE FUNKTION DER RUMPFMUSKULATUR Beim gesunden Menschen stellt muskuläre Stabilisation die Reaktion auf den Reiz der Schwerkraft oder der körpereigenen Bewegung dar. Jeder Körperabschnitt, welcher sich nicht im stabilen oder indifferenten Gleichgewicht befindet, muss mittels Muskelaktivität auf die Einwirkung der Schwerkraft reagieren. Diese Begebenheit wird durch das Gesetz gewährleistet, dass auf Dehnreiz eine Kontraktion erfolgt. Damit körpereigene Bewegungen ökonomisch ausgeführt werden können, d.h. mit minimalem muskulärem Aufwand und minimalem Verschleiß von passiven Strukturen, müssen sie in mindestens einem Gelenk widerlagert werden. Diese Widerlagerung kann durch Gegenaktivität oder durch Gegenbewegung erreicht werden. In Bezug auf den Rumpf fällt dabei der Wirbelsäule die Funktion eines Dauerwiderlagers/Dauerstabilisators zu. Zum einen widerlagert eine extensorisch stabilisierte Brustwirbelsäule (BWS) die Atemexkursionen während der Exspiration, zum anderen ist auch die LWS stabilisierende Muskulatur hohen Anforderungen ausgesetzt, da die meisten Extremitätenbewegungen in der Taille widerlagert werden 6. 5 Klein-Vogelbach, S. : Funktionelle Bewegungslehre, S. 280 ff. 6 Klein-Vogelbach, S. : Die Stabilisation der Körpermitte und die aktive Widerlagerbildung als Ausgangspunkt einer Bewegungserziehung, Vortrag 9

5.2.1 DAS STABILISIERENDE SYSTEM Muskuläre Stabilisation ist nur ein Teil des ganzen stabilisierenden Systems. Panjabi unterteilte Stabilisation in drei Subsysteme: 1. Das Subsystem der passiven Strukturen 2. Das aktive Subsystem: kontraktile Teile der Muskulatur 3. Das steuernde Subsystem: wahrnehmende und steuernde Funktion des zentralen und peripheren Nervensystems. Die verschiedenen Subsysteme können die Minderfunktion eines anderen Subsystems kompensieren, sodass ein Defizit eines Subsystems nicht zwangsläufig zu einer Instabilität führt. Mit Instabilität ist hier eine Schädigung auf Stukturebene, welche auch an Schmerzen gekoppelt sein kann, gemeint. Die kompensatorische Fähigkeit des aktiven Subsystems ist somit ausschlaggebend für die Entwicklung von Schmerz und Funktionsstörungen 7. 5.2.1.1. DAS AKTIVE SYSTEM: DIE WIRBELSÄULENSTABILISIERENDE MUSKULATUR Manche Muskeln scheinen für eine bestimmte Aufgabe (Mobilität/Stabilität) geeignet zu sein 8. Untersuchungen lassen vermuten, dass ein Zusammenhang zwischen der Dysfunktion des lokalen Systems (tiefliegende, kurze, intersegmentale Muskulatur), dem m. transversus abdominis und Rückenschmerzen besteht. Hierbei stellte sich heraus, dass die Anforderung an diese Muskulatur anhaltende statische Kontraktionen sind. Das lokale System hat durch seine gelenksnahen Ansätze die Fähigkeit, ständig intersegmentale Stabilisation zu gewährleisten. Das globale System hingegen (oberflächlichere, dickere und längere Muskulatur) kann mehr Zugkraft ausüben und ist sowohl im Stande, die Wirbelsäule wie einen Mast aufrecht zu halten, wie auch den Rumpf zu bewegen. Die wirbelsäulenumgebende Muskulatur stabilisiert die Wirbelgelenke auch durch ihre viskoelastische Eigenschaft. Dieser intrinsische Steifheitsgrad der lokalen Muskulatur ist unsichtbar und schützt die Gelenke wie straffe Federn. Der Federsteifigkeitsgrad kann durch Aktivitätssteigerung oder Verringerung der besagten Muskulatur reguliert werden; dies jedoch nur bis zu einem gewissen Grad 9. Hingegen kann mit Einwirkung eines einzigen Antagonisten die Stabilität eines Gelenkes verdoppelt werden. Beteiligen sich an der Stabilisation eines Gelenkes Agonisten und Antagonisten, so spricht man von einer Kokontraktion. Je mehr Muskeln sich um ein Gelenk kontrahieren, desto grösser ist die Stabilität dieses Gelenks. Kokontraktion kommt bei allen funktionellen Alltagsaufgaben vor und ist für einen effizienten Schutzmechanismus der passiven Strukturen unabdingbar. Übermässige Kokontraktion ist jedoch unökonomisch und ineffi- 7 Klein-Vogelbach, S. : Funktionelle Bewegungslehre, S. 280 ff. 8 Klein-Vogelbach, S. : Funktionelle Bewegungslehre, S. 280 ff. 9 Klein-Vogelbach, S. : Funktionelle Bewegungslehre, S. 292 ff. 10

zient, da sie der agonistischen Aktivität der Primärbewegungen unnötig viel Widerstand entgegenbringt. Anatomie des m. transversus abdominis von ventral 11

Anatomie des m. transversus abdominis von lateral 12

Drei Bereiche nur der mittlere hat eine Verbindung zur TLF Innervation m. transversus ist polyneural innerviert 13

5.2.1.2. DAS SUBSYSTEM DER PASSIVEN STRUKTUREN: DIE THORAKOLUMBALE FASZIE Die Passiven Strukturen umfassen Knorpel, Bänder, Gelenkkapseln, Zwischenwirbelscheiben und Faszien sowie die passiven Elemente der Muskeln. Faszien spielen bei der Stabilisation sämtlicher Gelenke eine wichtige Rolle. Bezüglich der Rumpfstabilisation ist die thorakolumbale Faszie (TLF) von grösster Wichtigkeit. Gestützt auf eine anatomische Studie von N. Bogduk und J.E. Macintosh ist die Funktion der TLF eine Flexionslimitierung der LWS10. Zusätzlich erklärt die besagte Studie die gemeinsame Funktionsweise verschiedener wirbelsäulenstabilisierender Muskeln. Die TLF besteht aus drei Schichten, wobei die dorsale und die mittlere Schicht Einfluss auf die Stabilisation der lumbalen Wirbelsäule haben. Die dorsale Schicht unterteilt sich in ein oberflächliches und ein tiefes Blatt: Das oberflächliche Blatt besteht aus der Aponeurose des m. latissimus dorsi und entspringt den thorakalen und lumbalen proc. spinosi sowie den interspinalen und supra-spinalen Ligamenten. Unterhalb von L3 kreuzt die hintere Schicht zur Gegenseite und setzt sich im Verlauf des kontralateralen m. gluteus maximus fort. Die Kooperation dieser beiden Muskeln via die TLF ist für die Rumpfrotation und für die Sicherung des labilen Körpergleichgewichts sehr wichtig. Sie wirkt sich nach caudal analog der Streckschlinge bis zum Kniegelenk aus11. Das tiefe Blatt der dorsalen Schicht ist im lumbosacralen Übergang besonders ausgeprägt. Es entspringt mehrheitlich den proc. spinosi, wie auch den Interspinalräumen und setzt mit seinem cranio-lateralen Verlauf an der Crista iliaca an. Beide Blätter vereinigen sich entlang ihrer lateralen Begrenzung mit der mittleren Schicht der TLF in einer lateralen Raphe. Diese lenkt die Krafteinwirkung des m. latissimus dorsi nach lateral um. Die mittlere Schicht der TLF entspringt den Spitzen der lumbalen Querfortsätze und bietet dem m. transversus abdominis Insertionsfläche in der lateralen Raphe. Dies aber nur auf einem dünnen Streifen von ca. sieben cm. von der Crista iliaca bis zur 12. Rippe. Somit kann der m. transversus abdominis durch seine Kontraktion nur auf diesen schmalen Streifen einen Lateralzug ausüben. Die meisten Fasern des m. obliquus int. inserieren direkt am Ileum und falls überhaupt, dann inseriert nur ein dünnes Band von ca. drei cm in der mittleren Schicht der TLF. Dies kann den Zug der lateralen Raphe ergänzen. Die tiefe Schicht der TFL wirkt als Flexionsbremse auf die Lendenwirbelsäule. Einerseits ist dies durch ihre Zugrichtung und andererseits durch einen sog. hydraulischen Verstärkungsmechanismus bedingt: Durch Kontraktion der Rückenmuskulatur werden die Fasern der tiefen Schicht der TFL angespannt, welche so ihre Ligamentfunktion noch besser wahrnehmen, und entgegen der Flexionsbewegung wirken. L4 und L5 sind durch die tiefere Schicht direkt am Ilium befestigt und L2 und L3 via laterale Raphe, sodass sich bei einer LWS Flexion die Fasern der tiefen Schicht anspannen und die lumbalen Wirbel im Sinne einer Extension stabilisieren. 10 11 Bogduk, N., Macintosh, J. E. : Angewandte Anatomie der thorako-lumbalen Faszie Tittel, K. : Beschreibende und funktionelle Anatomie des Menschen, S. 267ff. 14

Präparat Schema der Verbindungen TFL und Muskulatur 15

Transversalschnitt auf Höhe Bauchnabel Ansicht von caudal Schema der Relation TFL m. transversus abd. m. obiquus abd. Rectus Scheide 16

5.2.1.3. STEUERNDES SUBSYSTEM Das steuernde Subsystem stabilisiert einerseits Bewegungsabläufe, indem es diese plant, koordiniert und schliesslich den Befehl zu deren richtigen Ausführung gibt. Andererseits kann es, um den Überlastungsschutz des Organismus zu gewährleisten, Bewegungen auch unwillkürlich limitieren. Dies geschieht durch einen nervösen Regelkreis, welcher den Tonus der Muskulatur im Falle einer Verletzung reguliert12. Das Ziel dieser Tonusregulierung ist das Bewegungsverhalten des Körpers so zu verändern, bzw. zu limitieren, dass das betroffene Gewebe keiner weiteren Schädigung ausgesetzt wird. Der Automatismus dieser reflektorischen Tonusveränderung (im Sinne eines Hyper- aber auch Hypotonus der Muskulatur) setzt eine intakte Erregungsleitung der neuronalen Afferenzen und Efferenzen voraus. In Bezug auf die Afferenz spielt dabei die Sensibilität der Muskelspindeln eine wichtige Rolle. Wird die Spindelfaser gedehnt, so leiten Alpha-Fasern Aktionspotentiale Richtung Rückenmark, was gemäss dem Muskeleigenreflex eine Verkürzung des Agonisten mittels Alpha-Motoneuronen zur Folge hat. Es werden jedoch auch GammaMotoneuronen aktiviert, welche die kontraktilen Teile im Inneren der Muskelspindeln aktivieren. Die Aktivität dieser efferenten Gamma-Motoneurone erhöht die Empfindlichkeit der afferenten, sensorischen Nervenfaser. Die Gammaaktivität wird durch Schmerzzustände, Propriozeption der Haut, der Gelenkkapseln und der Knochen, und durch Nozizeptorenaktivität hervorgerufen. All dies resultiert in einer reflektorischen Hypertonie bzw. Hypotonie der antagonistischen Muskulatur. Dies kann durchaus Bewegungen verunmöglichen oder auch schmerzhafter sein, als die primäre Nozizeptorenaktivität, welche oft überhaupt nicht bewusst wahrgenommen wird. 12 Brügger, A. : Die Erkrankungen des Bewegungsapparates und seines Nervensystems 17

6. FUNKTIONELLES TRAINING DER RUMPFMUSKULATUR Jetzt wo die Funktionen der Rumpfmuskulatur erläutert sind, drängt sich die Frage auf, wie man die Rumpfmuskulatur funktionell trainieren soll. Setzt man den Begriff funktionelles Training mit dem Begriff Training für den Alltag gleich, so lässt sich daraus schliessen, dass es kein funktionelles Standardprogramm geben kann, da die Rumpfmuskulatur eines jeden von uns unterschiedlich beansprucht wird. Es gibt jedoch funktionelle Aufgaben welche die Rumpfmuskulatur eines gesunden Menschen unabhängig seines Alters, seiner Tätigkeit oder seiner Sportart erfüllen muss. Einige davon wurden in den vorhergegangenen Kapiteln erwähnt, und dürfen während dem Rumpfmuskeltraining nicht vergessen werden. Susanne Klein-Vogelbach sah in diesen funktionellen Aufgaben v.a. physiologische Abläufe wie z.b. die Ermöglichung einer ökonomischen Atmung durch eine stabilisierte Brustwirbelsäule und die Regulierung des Intraabdominalen Drucks. Sie hielt das Laufen und Liegen für die eigentliche Bestimmung des Menschen13, deshalb war für ihre funktionellen Übungen weiter wichtig, dass die Bauchmuskulatur die während des Gehens am Becken angreifenden Gewichte auszubalancieren vermag. Es sollte also darauf geachtet werden, den Oberbauch mit extensorisch stabilisierter BWS zu trainieren. Hingegen sollte der Akzent bei therapeutischen Übungen für den Unterbauch in der Verkürzung gesetzt werden, da das Becken potentiell beweglich sein soll. Die Aufgaben der Rückenmuskulatur sind unter Berücksichtigung des Synergismus zwischen Bauch- und Rückenmuskulatur dieselben. Im Brustwirbelsäulenbereich müssen die ventralen Gewichte und die weiterlaufenden Atemexkursionen während der Exspiration extensorisch stabilisiert werden. Weiter führt die Rückenmuskulatur Gleichgewichtsreaktionen und Haltearbeit aus, welche sich durch das Bewegen der Extremitäten oder des Rumpfes in der Schwerkraft ergeben. Bedenkt man, dass die rein statischen Dauerbelastungen des Alltags oft zu Rückenproblemen führen, so kommt man schnell zum Schluss, dass ein Rumpftraining mit reinem Stabilisationscharakter in isometrischer Form keine ausreichenden Reize setzt. Dies gilt sowohl für die Bauch- als auch für die Rückenmuskulatur. Übungen, welche über die maximale Bewegungsamplitude (Full Range of Motion Training = Full ROM-Training) des entsprechenden Gelenks ausgeführt werden, haben im Gegensatz zu rein statischen Übungen mehrere Vorteile: Zum einen fördern sie die Durchblutung, Kapillarisierung und die Koordination der Muskulatur. Weiter setzt ein Full ROM-Training auch Aufbaureize für die passiven Strukturen, was dem passiven Subsystem des Stabilisierenden Systems entspricht. Im Falle eines Sturzes oder einer unerwarteten Bewegung im Alltag sind die passiven Strukturen widerstandsfähiger, was durchaus ein Ziel des funktionellen Trainings sein soll. Weiter wird die Beweglichkeit verbessert und die gewonnene Muskelkraft nimmt im Gegensatz zum isometrischen Training in jedem Gelenkswinkel zu14. 13 Klein-Vogelbach, S. : Die Stabilisation der Körpermitte und die aktive Widerlagerbildung als Ausgangspunkt einer Bewegungserziehung 14 Gottlob, A. : Differenziertes Krafttraining mit Schwerpunkt WS, S. 208ff. 18

7. ÜBUNGSPRINZIPIEN DES PILATESTRAININGS Die Übungsprinzipien welche hier erläutert werden, sind nicht mit den sechs Grundprinzipien auf welche sich J.H. Pilates berufen hat (s. Kap. 3) zu verwechseln. Hier wird besprochen, mit welchen Massnahmen die Rumpfmuskulatur während Pilatesübungen trainiert wird. Die Ausgangsstellungen dieses Trainings sind meist die Rücken- oder Bauchlage, wobei einzelne Übungen auch aus Seitenlage oder aus dem Sitz durchgeführt werden. Bei jeder Übung sind mehrere Gelenke beteiligt, und sie sind frei, d.h. es fehlen jegliche Abstützmöglichkeiten oder Führungshilfen. Die Pilates Trainingsmethode beinhaltet meist Übungen in offener kinetischer Kette: das distale Ende des bewegten Körperteils ist meist nicht fixiert. Jedoch umfasst das Programm auch Übungen in geschlossener kinetischer Kette; diese aktiviert die Rumpfmuskulatur im Sinne von Brückenaktivität. Der Trainingswiderstand ist das Körpergewicht oder Teilkörpergewicht des Trainierenden und es werden keine Hilfsmittel zur Vergrösserung des Trainingswiderstands verwendet. Bei geeigneten Übungen kann mit dem Ziel der Labilisierung der Unterstützungsfläche (USF) eine Schaumstoffrolle, auf welcher der Trainierende längs liegt, eingesetzt werden. Die Rumpfmuskulatur arbeitet beim Pilatestraining oft isometrisch im Sinne einer aktiven isometrischen Widerlagerung (bei welcher das Augenmerk auf das Powerhouse und die Beibehaltung der physiologischen Wirbelsäulenform gerichtet wird: Lordosierung der LWS, Kyphosierung der BWS und Lordosierung der HWS. Weiter sind auch Übungen im Programm erschlossen, welche die Wirbelsäule mobilisieren und die Rumpfmuskulatur konbzw. exzentrisch beanspruchen. Im Nachfolgenden Kapitel wird eine Auswahl von Pilatesübungen mit jeweils verschiedenen Trainingsprinzipien besprochen. 1. Brückenaktivität aus Seitenlage ( Side Kicks ) 2. Brückenaktivität aus Rückenlage ( Shoulder Bridge ) 3. Aktive Widerlagerbildung aus Rückenlage ( Dead Box ) 4. isometrische Aktivität der Rückenextensoren aus Bauchlage ( Swimming ) 5. Wirbelsäulenmobilisierende Übung aus dem Sitz ( Roll Up and Down ) Zu beachten gilt, dass die Bewegungsanalysen nur eine Auswahl aus dem grossen Pool der Pilatesübungen bespricht. Ebenfalls muss berücksichtigt werden, dass der Schwierigkeitsgrad der besprochenen Übungen jeweils variiert. Pilatesübungen sind sehr dynamisch und koordinativ anspruchsvoll. In einer Übungssequenz werden oft Seitenwechsel integriert oder es gibt mehrere Endstellungen innerhalb einer Übung. Der Weg in die Endstellungen ist ebenso wichtig wie die korrekte Endstellung selber. Deshalb ist es wichtig, bei jeder Übung die korrekte Ausführung des ganzen Bewegungsablaufs anzustreben. Da während allen Übungen die Pilatesatmung beibehalten werden soll, wird die Aktivität des m. transversus abdominis nicht jedes Mal explizit erwähnt. 19

8. ÜBUNGSANALYSEN 8. 1. SIDE KICKS (Abb. 4) ÜBUNGSZIEL: Der Trainierende soll lernen, die Wirbelsäule lateralflexorisch, rotatorisch, flexorisch und extensorisch zu stabilisieren. Die Ischiocrurale Muskulatur soll gedehnt werden. Die Gesässmuskulatur und die Abduktoren des Spielbeines sollen gekräftigt werden. AUSGANGSSTELLUNG (ASTE): Seitenlage, Kniegelenke (KG) extendiert, beide Hüftgelenke (HG) 30 flektiert, beide oberen Sprunggelenke (OSG) dorsalextendiert, Stützaktivität des unteren Armes mit 90 flektiertem Ellbogengelenk, Wirbelsäule (WS) in Neutralstellung und aufgerichtet, d.h. bereits in der ASTE Aktivität der Lateralflexoren des Rumpfes. PRIMÄRBEWEGUNG: 1. Während der Inspiration das obere Bein mit extendiertem KG und dorsalextendiertem OSG in HG Flexion bewegen. 2. Während der Exspiration das obere Bein mit extendiertem KG und plantarflektiertem OSG in HG Extension bewegen. ENDSTELLUNG (ESTE): 1. Seitenlage, beide KG extendiert, unteres HG 30 flektiert, oberes HG 30 flektiert, beide OSG in Dorsalextension, unterer Arm in Stützfunktion, WS in Neutralstellung. 2. Seitenlage, beide KG extendiert, unteres HG 30 flektiert, oberes HG extendiert, unteres OSG dorsalextendiert, oberes OSG plantarflektiert. LIMITATIO: Neutralstellung der Wirbelsäule soll während des ganzen Übugsablaufs beibehalten werden. Der Bauchnabel bleibt eingezogen. 20

VARIATIONEN: 1. Armstütz mit Ellenbogenextension durchführen. Dies labilisiert die USF und erhöht die lateralflexorische Brückenaktivität. 2. Übung mit im Ellenbogen extendiertem Armstütz, unterem Bein abduziertem HG und flektiertem KG durchführen. MUSKELAKTIVITÄT: Das Übungsziel der flexorischen und extensorischen WS-Stabilisierung wird mittels einer isometrischen Widerlagerung der Streck- und Beugeschlingenaktivität der unteren Extremität angestrebt. Diese Widerlagerbildung findet einerseits im Powerhouse und andererseits durch Rückenextensorenaktivität statt. Beim nach hinten bringen des Spielbeines wird die Streckschlinge aktiviert. D.h konzentrische Aktivität des m. triceps surae, exzentrische Aktivität des m. quadriceps femoris und konzentrische Aktivität des m. glut. max. Diese Bewegung würde in einer WS Extension weiterlaufen, wird aber durch isometrische Bauchmuskelaktivität widerlagert. Beim nach vorne bringen des Spielbeines wird die Beugeschlinge, die Dorsalextensoren des OSG, der m. rectus femoris und m. iliopsoas konzentrisch aktiviert. Dies würde in einer WS Flexion weiterlaufen, welche aber durch isometrische Aktivität des m. erector spinae widerlagert wird. Auf der Seite der Brückenaktivität findet isometrische, die Lateralflexion stabilisierende Muskelaktivität des m. erector trunci und des m. quadratus lumborum statt. Die Beinbewegungen, und die labile USF erzeugen zusätzlich ein rotatorisches Drehmoment, welches durch die schräge Bauchmuskulatur und die lokale Rückenmuskulatur widerlagert wird. Die Abduktoren des Spielbeines arbeiten isometrisch. FUNKTIONALITÄT: Der Input und Trainingswiderstand der Schwerkraft wirkt sich auf das Abheben des Spielbeines, die enorme Stützaktivität des Armes und Schultergürtels und die lateralflexorische WSStabiliation aus. In Kombination mit der labilen Unterstützungsfläche stellt dies koordinativ sehr hohe Ansprüche. Die Beweglichkeit des Rumpfes wird bei dieser Übung nicht gefordert. Jedoch setzt die Übung Beweglichkeit der Hüftgelenke und Dehnbarkeit der Ischiocruralen Muskulatur voraus. Orientiert man sich nach der Definition von N. Kavcic, S. Grenier und S. M. Mc Gill: dass während einer WS stabilisierenden Übung die WS Haltung kontrolliert wird, während verschiedene Muskelgruppen aktiviert werden15, so entspricht Side Kicks einer stabilisierenden Übung für die WS. Studien der obengenannten Autoren haben gezeigt, dass die isometrische unilaterale Bauchmuskelaktivität während der Ausführung der seitlichen Brücke im Vergleich zu anderen therapeutischen Übungen (Brücke aus Rückenlage, Labilisierung der Unterstützungsfläche, Vierfüsslerstand, Rumpfbeuge etc.) deutlich höher ist. Der Benefit bezüglich stabilisierender Aktivität der Rumpfmuskulatur dieser Ausgangsstellung ist also enorm. Die seitliche Brücke erzeugte eine willkürliche Kontraktion von 46% der maximalen willkürlichen Rekrutierungsmöglichkeit des m. rectus abdominis, 51% der maximalen willkürlichen Kontraktionsfähigkeit des m. obiquus ext. und 57% des m. obliquus int. unilateral. Dies hauptsächlich um dem lateralen und auch rotatorischen Drehmoment entgegenzuwirken. Wie im vorhergegangenen Kapitel besprochen, vermag die Aktivität des m. obliquus int. die Wirkung der lateralen Raphe der TLF zu unterstützen. Da die Ausgangsstellung relativ labil ist 15 Kavcic, S., Grenier, S., Mc Gill, S. M. :Quantifying Tissue Loads and Spine Stability While Performing Commonly Prsescribed Low Back Stabilization Exercises, S. 2319 21

(was die Kokontraktion der Bauch- und Rückenmuskeln erhöht), und die Bauchdecke angespannt bleiben soll, ist anzunehmen, dass die Transversusaktivität während den Side Kicks hoch ist. Dies hat eine gute Verspannung der TLF und eine hohe lumbale Stabilisation zur Folge. Die Aktivität des m. transversus abdominis ist palpatorisch während dem Übungsablauf leider schwer objektiv zu quantifizieren. 22

8. 2. SHOULDER BRIDGE (Abb. 5) ÜBUNGSZIEL: Der Übende soll die dorsale Beinmuskulatur, die Rückenmuskulatur und die Gesässmuskulatur kräftigen. Weiter soll er lernen, das Spielbein muskulär am Becken zu verankern, und mittels Bauchmuskelaktivität zu halten (Aktivierung des Powerhouse ), ohne dass die Bewegung in der Lendenwirbelsäule flexorisch, extensorisch oder rotatorisch weiterläuft. ASTE: Rückenlage, Beine aufgestellt (HG und KG ca. 90 Flexion, OSG in Nullstellung mit plantarflexorischer Aktivität), Becken, Lendenwirbelsäule und untere Brustwirbelsäule von der Unterstützungsfläche in Brückenaktivität abgehoben, LWS in Neutralstellung, Arme neben dem Körper auf der USF parkiert. PRIMÄRBEWEGUNG: 1. Während der Inspiration ein Bein mit extendiertem KG und plantarflektiertem OSG Richtung Kopf heben. 2. Während der Exspiration dasselbe Bein mit extendiertem Kniegelenk und dorsalextendiertem OSG zurück richtung Boden bewegen, bis der Fuss ca. fünf cm über dem Boden schwebt. ESTE: 1. Rückenlage, ein Bein mit Stützaktivität (HG extendiert und KG ca. 90 flektiert, OSG auf USF mit plantarflexorischer Aktivität), zweites Bein mit extendiertem KG und plantarflektiertem OSG in ca. 90 HG Flexion, LWS in Neutralstellung, Arme neben dem Körper parkiert. 23

2. Rückenlage, ein Bein in Stützaktivität (s. oben), zweites Bein mit extendiertem KG und dorsalextendiertem OSG in HG Extension, LWS in Neutralstellung, die Arme sind neben dem Körper parkiert. LIMITATIO: Die Neutralstellung der Lendenwirbelsäule darf nicht verlassen werden. In den Hüftgelenken soll keine Abduktion oder Rotation stattfinden. Bauchnabel bleibt gemäss der Pilatesatmung eingezogen, um den m. transversus während der ganzen Übung zu rekrutieren. MUSKELAKTIVITÄT: Durch die Ausgangsstellung der Shoulder Bridge leisten die Rückenextensoren, Gesässmuskeln und die Ischiocrurale Muskulatur isometrische, extensorische Haltearbeit. Während dem Anheben und Senken des Spielbeines kommt es zu einer kon- und exzentrischen Aktivität der Beugeschlinge, welche mit isometrischer Aktivität im Powerhouse und mit isometrischer Rückenextensorenaktivität widerlagert wird. Zusätzlich verursacht das Anheben des Spielbeines ein LWS rotatorisches Drehmoment, welches zusätzlich von der schrägen Bauchmuskulatur aktiv, isometrisch widerlagert werden muss, um die Neutralstellung der Wirbelsäule zu garantieren. FUNKTIONALITÄT: Die Übung ist stabilisatorisch sehr wertvoll, da die Bauchmuskulatur bei extendierter BWS aktiviert wird. Die paravertebrale Muskulatur der BWS widerlagert während dieser Übung konstant die exspiratorischen Atemexkursionen, was aus funktioneller Sicht der Atemmechanik ein wichtiges Ziel darstellt. Um die Bauch- und Rückenmuskulatur zu trainieren, ist die Brückenaktivität eine sehr schonende Übungsform16. Das Beingewicht des Spielbeins kann zwar während der Senkphase und der Anhebephase Scherkräfte auf die Lendenwirbelsäule ausüben, vor allem, wenn das Spielbein im KG extendiert ist, was einen zu langen Hebelarm darstellen kann. Für einen gesunden Bewegungsapparat stellt das eigene Beingewicht jedoch ein optimaler Trainingsreiz dar. Schliesslich muss das Beingewicht während dem Gehen auch muskulär gehalten werden können. Die Shoulder Bridge stellt kein Full ROM-Training der Wirbelsäule dar, und fordert somit auch keine aktive muskuläre Stabilisation über das ganze Bewegungsausmass der WS hinweg. Jedoch setzt die Übung Beweglichkeit der Hüftgelenke und Dehnbarkeit der Ischiocruralen Muskulatur voraus. Messungen der muskulären Aktivität mittels Elektroden während der bereits erwähnten Studie konnten belegen, dass die bilaterale Aktivität der m. multifidi während Übungen im bridging aus Rückenlage am grössten waren, was auf eine gute intersegmentale Stabilisation der LWS schliessen lässt. Auch die TLF wird durch den hydraulischen Verstärkungsmechanismus gut verspannt, und stabilisiert die LWS zusätzlich extensorisch. Die Übung stellt hohe koordinative Ansprüche, da sich die Unterstützungsfläche ständig ändert, und die schräge Bauchmuskulatur geschickt auf die wechselnden rotatorischen und extensorischen Drehmomente, welche auf die LWS wirken, reagieren muss. 16 Klein-Vogelbach, S. :Funktionelle Bewegungslehre, S. 106 ff. 24

8. 3. DEAD BOX (Abb. 6) ÜBUNGSZIEL: Der Trainierende soll lernen, unter Beibehaltung der neutralen WS Stellung das Beingewicht an das Becken und an die Bauchmuskulatur zu hängen. ASTE: Rückenlage, Beine von der Unterstützungsfläche abgehoben in ca. 90 KG Flexion oder weniger, je nach passiver Insuffizienz der Ischiocruralen Muskulatur, ca.80 HG Flexion bds. sodass die KG über den HG schweben. Wirbelsäule in Neutralstellung, Arme neben dem Körper auf der USF parkiert. PRIMÄRBEWEGUNG: Während der Exspiration die Beine abwechslungsweise unter gleichbleibendem Kniegelenkswinkel richtung Unterstützungsfläche absenken, d.h. die Hüftgelenke extensorisch bewegen, ohne dabei das Beingewicht jemals auf der Unterstützungsfläche abzugeben. Während der Inspiration bewegt sich das Spielbein wieder in die ASTE zurück. ESTE: Rückenlage, HG des einen Beines flektiert wie in der ASTE, HG des anderen Beines weniger flektiert, beide KG in ca. 90 Flexion. Beide Arme sind neben Körper parkiert, die Wirbelsäule ist in Neutralstellung. LIMITATIO: Die Neutralstellung der Wirbelsäule (LWS Lordose) bleibt beibehalten. Der Bauchnabel soll eingezogen bleiben, um die Pilatesatmung zu gewährleisten. 25

VARIATIONEN: Die Übung kann mit weniger flektierten Knien durchgeführt werden, die Limitierung der passiven Insuffizienz der Ischiocruralen Muskulatur muss jedoch berücksichtigt werden, da Die LWS Lordose während der ganzen Übung beibehalten werden soll. Die Hebelverlängerung resultiert in einer intensiveren Bauchmuskel- aber auch Iliopsoasaktivität. Weiter kann die Übung auch mit labilisierter Unterstützungsfläche mittels der Pilatesrolle durchgeführt werden. MUSKELAKTIVITÄT: Es findet kon- und exzentrische Aktivität der Beugeschlinge (m. iliopsoas, m. rectus femoris) statt. Die exzentrische Phase der Beugeschlinge während dem Absenken des Spielbeines würde in einer LWS Extension weiterlaufen und wird im Powerhouse isometrisch widerlagert. Ebenfalls findet isometrische Aktivität des m. erector spinae in Form von Mantelspannung (Kokontraktion) statt, da die Neutralstellung der WS nicht verlassen werden darf. Wird die Übung auf der Pilatesrolle durchgeführt (s. Abb. 6), so muss die Bauch und Rückenmuskulatur zusätzlich rotatorische Drehmomente isometrisch widerlagern. FUNKTIONALITÄT: Das Anhängen des Beingewichtes an die Bauchmuskulatur stellt einen gangspezifischen/funktionellen Trainingswiderstand dar. Die Beinführung hingegen ist nicht gangspezifisch, da die Kniegelenke nie flektiert und extendiert werden, in den Hüftgelenken keine Abduktion, Adduktion und Rotation stattfinden, und auch in der LWS keine Rotation stattfindet, wie es beim physiologischen Gehen der Fall wäre. Die Übung setzt Beweglichkeit der Hüftgelenke, und Dehnbarkeit der Ischiocruralen Muskulatur voraus (falls die Variation mit extendierteren Kniegelenken ausgeführt wird). Die Wirbelsäule wird nicht auf Beweglichkeit beansprucht. Der Auftrag, die WS während der Übungsausführung in einer Neutralstellung zu halten, hat eine erwünschte Kokontraktion der Bauch-und Rückenmuskulatur zur Folge was in einer guten Stabilität der WS resultiert. Durch Labilisierung der Unterstützungsfläche wird dieser Effekt noch gesteigert. Wie bei allen Pilatesübungen, wird durch die Pilatesatmung der m. transversus abdominis isometrisch aktiviert, was die lumbale Stabilisation trainiert. 26

8. 4. SWIMMING (Abb. 7) ÜBUNGSZIEL: Der Übende soll die Rückenmuskulatur kräftigen, und lernen, Bewegungsausschläge der Arme und Beine im LWS-BWS Übergang zu widerlagern. ASTE: Bauchlage, HSG: ca. 160 Flexion, 30 Abduktion, Innenrotation, HG bds. in Extension, KG bds. extendiert. OSG: bds. plantarflektiert. Die Arme und Beine sind von der Unterstützungsfläche abgehoben, die Wirbelsäule ist extendiert, jedoch nicht im vollen Bewegungsausmass. PRIMÄRBEWEGUNG: Innenrotierte Arme abwechslungsweise, schnell und mit kleinen Bewegungen im HSG flektieren und extendieren: paddeln. Gleichzeitig die beiden angehobenen Beine in den Hüftgelenken mit kleinen, schnellen Bewegungen flektieren und extendieren. ESTE: s. ASTE. Zusätzlich ist ein Arm in der ESTE im HSG noch mehr flektiert, und das kontralaterale Bein im HG noch mehr extendiert. LIMITATIO: Die Flankenatmung soll beibehalten, d. h. der Bauchnabel soll eingezogen bleiben. Es darf keine Pressatmung entstehen. Der Schultergürtel soll auf dem Thorax gut verankert bleiben. MUSKELAKTIVITÄT: Bei dieser Übung kann der funktionelle Zusammenschluss der Streckschlinge gut beobachtet werden. Um in die ASTE zu kommen arbeitet der m. triceps surae und der m. erector spinae erst konzentrisch und während der Übungsausführung isometrisch. Der m. glutaeus maximus führt die Paddelbewegung der Beine aus und arbeitet somit kon- und exzentrisch. Ebenfalls führen die HSG Flexoren kon- und exzentrische Muskelarbeit aus. Die Krafteinwirkung der Kontraktion des m. glutaeus maximus der einen Seite setzt sich via TLF auf die Kontraktion des kontralateralen m. lat. dorsi fort. Der grosse Rückenstrecker wird lumbal hoch beansprucht. Er hält das Gewicht der Arme und der Beine. Die lumbale Belastung dieser Übung ist relativ hoch. 27

FUNKTIONALITÄT Diese Übung hat einen guten stabilisierenden Effekt auf die Lendenwirbelsäule. Durch die Kontraktion des m. erector spinae kommt der hydraulische Verstärkungsmechanismus welcher die TLF verspannt, zur Geltung. Zusätzlich verspannt der m. latissimus dorsi das oberflächliche Blatt der TLF. Die extensorische Stabilität der LWS ist somit hoch. Zusätzlich führen schnelle Armbewegungen zu einer hohen Spannung des m. transversus abdominis und einer gesteigerten Aktivität der lokalen Rückenmuskulatur, welche die raschen Bewegungsausschläge segmental bremsen und stabilisieren muss17. Swimming hat jedoch keinen WS mobilisierenden Charakter. Die langen Rückenstrecker müssen auch bei dieser Übung die WS nicht über das ganze Bewegungsausmass hinweg extendieren. 17 Klein-Vogelbach, S. : Funktionelle Bewegungslehre, S. 298ff. 28

8. 5. ROLL UP AND DOWN (Abb.8) ÜBUNGSZIEL: Der Trainierende soll lernen, die Wirbelsäule in Richtung Flexion zu mobilisieren und die schräge und gerade Bauchmuskulatur zu kräftigen. ASTE: Rückenlage, Füsse auf USF, Beine aufgestellt (ca. 90 Hüft- und Knieflexion) HSG: ca. 160 Flexion, WS: Neutralstellung PRIMÄRBEWEGUNG: Der Körperabschnitt Kopf bewegt sich während der Exspiration in die Vertikale. Während der nächsten Exspiration kehrt der Körperabschnitt Kopf wieder auf die Matte zurück. ESTE: Sitz, Beine aufgestellt: HG: ca. 110 Flexion, KG bds flektiert, die Füsse haben Kontakt mit der USF, HSG bds. ca. 90 flektiert, Ellenbogen leicht flektiert, die WS ist in Neutralstellung. LIMITATIO: In den HG darf während des Auf- und Abrollens keine Abduktion stattfinden, die Knie sollen rotationsneutral bleiben. Der Körperabschnitt Kopf soll während des Übungsablaufs korrekt in der Körperlängsachse eingeordnet bleiben. Dies wird in Abb. 8 nicht korrekt ausgeführt: Der Kopf ist zu sehr nach ventral translatiert. VARIATIONEN: Die Übung kann durch Labilisierung der Unterstützungsfläche mittels der Pilatesschaumstoffrolle (Abb. 8) erschwert werden. MUSKELAKTIVITÄT: Diese Übung rekrutiert v. a. die oberen drei Kompartimente des Rectus abdominis welche beim Aufrollen konzentrische Muskelarbeit leisten, und beim Abrollen 29

exzentrische. Dies wird mit einer Studie untermauert18, bei welcher bei der Rumpfbeuge eine 31%ige Rekrutierung der max. willkürlichen Kraft des Rectus abdominis gemessen wurde. Um das unterste, vierte Kompartiment des m. rectus abdominis zu trainieren, müsste sich jedoch der distale Gelenkspartner, das Becken, LWS-flexorisch bewegen19. Die isometrische Aktivität der vorderen Halsmuskulatur ist sehr hoch. FUNKTIONALITÄT: Roll Up and Down hat einen WS mobilisierenden Charakter in Richtung Flexion. Da darauf geachtet werden sollte, dass Wirbel für Wirbel auf- bzw. abgerollt wird dreht sich jeder einzelne Wirbel um seine eigene Flexionsachse. Die verschiedenen Drehmomente müssen muskulär intersegmental stabilisiert und von der Bauchmuskulatur gehalten werden können. Somit stellt diese Übung ein Full ROM-Training dar, wo der Kraftzuwachs und über das volle Bewegungsausmass zunimmt, und auch die muskuläre Stabilität über das ganze Bewegungsausmass gefordert wird. Das vierte Kompartiment des m. rectus abdominis wird bei dieser Übung jedoch nicht rekrutiert, was in Hinblick auf die potentielle Beweglichkeit des Beckens nicht funktionell ist. Jedoch simuliert Roll Up and Down das Bewegungsmuster des Aufrichtens aus der Liegeposition, was funktionell wieder sehr wichtig ist. 18 Kavcic, S., Grenier, S., Mc Gill, S. M. :Quantifyfing Tissue Loads and Spine Stability While Performing Commonly Prescribed Low Back Stabilization Exercises 19 Gottlob, A. : Differenziertes Krafttraining mit Schwerpunkt WS, S. 253 ff. 30

9 BEISPIELE VON TRAINIERENDEN Zur Dokumentierung des Trainingseffektes von Pilates wurde mit zwei Pilatestrainierenden vor und nach der Aufnahme des Pilatestrainings eine Messung der Kraft der Rückenextensoren und eine Messung des Gleichgewichts vorgenommen. Die Kraftmessung wurde computergestützt (MedX System Äquilibris Basel) durchgeführt. Dabei wurde die isometrische Kraft der Rückenextensoren im Sitz aus verschiedenen Vorneigewinkeln der Körperlängsachse (aufgerichtete Körperlängsachse bis 72 Vorneigung der Körperlängsachse) gemessen. Bei der Messung des Gleichgewichts im Einbeinstand (Footprint System ERGONIC Muttenz ) mit geöffneten Augen wurde mittels einer Kraftmessplatte visualisiert, wie gross die Schwankungen des Körperschwerpunktes unter dem Standbein während einer halben Minute waren. Diese Messung dokumentiert die Koordination der Testpersonen. Die ersten Messungen fanden am 28.02.2005 statt, die Kontrollmessungen am 17.07.2005. FR. S. Alter: 35 Jahre Beruf: momentan Hausfrau, Mutter dreier Kinder Frau S. trainiert seit Februar 2005 ein bis zwei Mal pro Woche eine bis zwei Stunden Pilates. Die Kraft der Rückenextensoren von Frau S. waren schon bei den Startmessungen überdurchschnittlich gut. Bei der Kontrollmessung konnte ein durchschnittlicher Kraftzuwachs der Rückenextensoren von 26.24% verbucht werden (Abb. 9). Dabei fand der grösste Kraftzuwachs von ca. 37% bei der WS Extension aus der 0-Stellung statt. Möglicherweise ist der Kraftzuwachs aber auch damit zu begründen, dass Frau S. ihr kleinstes Kind, welches zügig wächst und schwerer wird, oft trägt. 31