58Das italienische Arbeitsrecht im Kontext der Krise Teil 1 *



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Arbeit und Recht 2014, Ausgabe 2, S. 58 60 Nogler, Das italienische Arbeitsrecht im Kontext der Krise Teil 1 58Das italienische Arbeitsrecht im Kontext der Krise Teil 1 * Prof. Dr. Luca Nogler, Universität Trento (Italien) I. Die Regierung Berlusconi und das Arbeitsrecht 1. Das europäische Diktat an die Regierung Berlusconi im August 2011 Italien unterliegt nicht den Vorgaben der Troika wie die sog. Programmländer Griechenland, Portugal, Irland und Zypern. Andererseits wurde die 2012 von der Regierung Monti eingeführte Arbeitsrechtsreform meinem Land im Wesentlichen von der EZB diktiert: nicht von einer Troika, sondern von einem Duo. Alles begann so zumindest die in Italien gängige Meinung am 30.6.2011, als die Dt. Bank den Verkauf it. Staatsanleihen in Höhe von mehreren Mrd. ankündigte (inzwischen hat das Verhalten ausl. Anleger weniger Einfluss auf Italien, denn 60-70 % der it. Staatsanleihen werden von it. Anlegern gehalten). Wie ernst die Lage war, macht ein Schreiben der EZB v. 4.8.2011 an Ministerpräsident Silvio Berlusconi deutlich, unterschrieben vom damaligen Präsidenten Jean-Claude Trichet und dessen designiertem Nachfolger Mario Draghi. Darin forderte die EZB-Führung die it. Regierung eindringlich auf, 3 Strukturreformen durchzusetzen, zwei betrafen das Arbeitsrecht. An 1. Stelle wurde auf die»notwendigkeit einer weiteren Reformierung«des Tarifvertragssystems verwiesen. Die betriebliche Ebene sollte zur wichtigsten Tarifverhandlungsebene werden. An 2 Stelle wünschten Trichet und Draghi»eine sorgfältige Überarbeitung der Bestimmungen für die Einstellung und Kündigung von AN mit Festlegung einer Arbeitslosenunterstützung und eines Pakets wirksamer Beschäftigungsmaßnahmen, mit denen die Verlagerung von Arbeitskräften hin zu wettbewerbsfähigeren UN und Branchen gefördert werden soll«. Die Vorgabe, das Ziel des Haushaltsausgleichs vorzuziehen, beruhte auf einem Artikel, der 2009 von Alberto Alesina und Silvia Ardagna, 2 an der Mailänder Bocconi-Uni ausgebildeten Wirtschaftswissenschaftlern, veröffentlicht worden war. Er erörterte auf theoretischer Ebene Vorzüge der sog.»expansiven Sparpolitik«. 1 Nach Ansicht beider Autoren führe, im Gegensatz zur Theorie von Keynes, eine Reduzierung öff. Ausgaben zu einer Steigerung des BIP, 2 da das Vertrauen von Anlegern und Märkten in das Land steige, was schließlich zu einem Anstieg bei Investitionen und Konsum führe. Die Untersuchung wurde mit großem Nachdruck beim Ecofin in Madrid im April 2010 präsentiert. 3 Alesina beeinflusste Trichet, der anmerkte, dass»der Gedanke, dass die sparpolitischen Maßnahmen zur Stagnation führen können, unrichtig sei. Das größte Problem in diesem Moment sei der Verlust des Vertrauens seitens der Haushalte, der UN und der Anleger, die meinen, dass der öff. Haushalt nicht

nachhaltig sei.«4 Trichet und Draghi berücksichtigten nicht, dass in einer Analyse des Roosevelt Instituts gezeigt worden war, dass sämtliche von den beiden it. Wirtschaftswissenschaftlern angeführten Beispiele falsch waren, denn es gibt keine historischen Fallbeispiele, in denen Sparpolitik während einer Rezessionsperiode Wirtschaftswachstum generiert hätte. 5 Auch der von den Ökonomen Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff aufgestellten These, wonach Staaten massiv an Wachstumsdynamik verlören, wenn die Schuldenquote 90 % der Wirtschaftsleistung übersteigt, ist überzeugend widersprochen worden. 2. Der Fall Fiat In Pomigliano d Arco (Neapel), im Stammwerk»Giovanbattista Vico«wird der Fiat- Kleinwagen Panda produziert. Hier schlug das UN einen dezentralen TV vor, nach dem die Zahlung von Krankengeld eingestellt werden kann, wenn Fehlzeiten bestimmte Richtwerte überschreiten. Weitere Bestimmungen betreffen Änderungen der Arbeitszeit, der Pausen und der Überstunden, welche zumindest teilweise geltende Tarifvertragsbestimmungen unterlaufen. Der Abkommensvorschlag wurde den Metallgewerkschaften CISL, UIL und CGIL unterbreitet. 6 Während FIM-CISL und UIL-UILM ihre Bereitschaft erkennen ließen, das Abkommen nach geringfügigen Änderungen anzunehmen, lehnte die CGIL- Metallgewerkschaft FIOM den Plan ab. Fiat rief alle Beschäftigen zu einer sog. Urabstimmung auf und teilte mit, die weitere Entwicklung vom Ausgang dieses Referendums abhängen zu lassen. Die Auszählung ergab eine Befürwortung des Fiat-Plans von 62 %. Die Arbeitgeberseite betrachtete dieses Ergebnis zunächst als wenig befriedigend und schien weiter geneigt, das Werk zu schließen. Es folgten weitere Verhandlungen mit FIM-CISL und UIL-UILM unter völligem Ausschluss der FIOM. 7 Diese führten am 15.6.2010 zu einem»abkommen (Betriebs-TV) über die Neu-Organi59sation der Arbeit in Pomigliano«. 8 Wichtigster Aspekt der Vereinbarung ist die Einführung einer auf einen bestimmten Referenzzeitraum ausgerichteten durchschnittlichen Arbeitszeit, die es dem AG ermöglicht, die Arbeitszeit in bestimmten Zeiträumen zu verlängern und in anderen zu verkürzen, sofern der Zeitausgleich innerhalb von höchstens 12 Mon. erfolgt (entspr. Rechtsverordnung Nr. 66/2003, mit der die RL 93/104/EG und 2000/34/EG umgesetzt wurden). 9 Zum zweiten sind die Arbeitspausen von bisher 2x20 Min. (40) auf 3x10 Min. (30) reduziert worden (mit Vergütung der durch die neue Vereinbarung gestrichenen 10 Pausenminuten). Hierzu wäre anzumerken, dass die Mindestdauer der tägl. Ruhezeiten aufgrund von Art. 17 der Rechtsverordnung Nr. 66/2003 auch in dezentralen TV, die mit den vergleichsweise repräsentativsten Gewerkschaftsorganisationen auf nationaler Ebene abgeschlossen werden, abbedungen werden kann. Die 10 gestrichenen Pausenminuten rühren daher, dass mit dem Betriebs-TV von Pomigliano das System ERGO-UAS übernommen wurde, in dem einige Faktoren des Arbeitsprozesses anders berechnet werden. Dieses neue Maßsystem für Arbeit ist Bestandteil des Versuchs von FIAT, die Fabriken nach der World-Class-Manufacturing-Methode zu reorganisieren. Hierbei handelt es sich um eine in Japan begründete Arbeitsorganisation, die den Toyotismus bis zum Äußersten ausreizt mit dem Ziel, Kosten und Stillstandzeiten zu minimieren und den Produktionsrhythmus zu erhöhen. Die Metallgewerkschaft FIOM hält dieses System für rechtswidrig, da hierin lediglich Risiken im Zusammenhang mit Muskelund Knochenerkrankungen, nicht jedoch stressbedingte Risiken berücksichtigt werden. Das Werk Pomigliano wird somit in 17 Schichten/Woche zu 3 x 8 Std./Tag an 6 Wochentagen arbeiten, aber wenn es die Marktlage erfordert, soll auch von Samstag 22 Uhr

Sonntag 6 Uhr Arbeit von den AN verlangt werden können (18. Schicht). Hierzu ist eine Verdreifachung der obligatorischen Überstunden von 40 auf 120 Std. vorgesehen (entspr. 15 vollen Arbeitstagen / Jahr). Hiermit wird eine mögliche 18. Schicht abgedeckt. Überstunden können auch an freien Tagen und sonntags angeordnet werden. Diese Erhöhung der obligatorischen Überstunden unterläuft geltende nationale Tarifvertragsbestimmungen. Unter dem Deckmantel der»fehlzeitenbekämpfung«werden nach dreimaliger Abwesenheit Krankheitstage bei Kurzerkrankungen (bis zu 5) nicht durch Lohnfortzahlung kompensiert. Diese Regelung steht zweifelsohne im Widerspruch zu Art. 6 des Gesetzes Nr. 562/1926, in dem der Anspruch auf volle Lohnfortzahlung bei Krankheit festgeschrieben ist. 3. Deregulierung durch dezentrale Tarifverträge Durch Art. 8 des Gesetzes Nr. 148 v. 14.9.2011 wurden allgemein den sog. dezentralen TV (s. o. I.2) 10 weitreichende Spielräume gegenüber gesetzlichen Regelungen wie auch nationalen Branchentarifverträgen eingeräumt. Nach der Hierarchie der Rechtsquellen in der it. Rechtsordnung steht ein TV in der Rangstufe unter dem Gesetz. Tarifliche Bestimmungen, die sich als Verschlechterung im Vergleich zu gesetzlichen Bestimmungen erweisen sollten, sind nach Art. 1418 Abs. 1 Zivilgesetzbuch (ZGB) 11 nichtig. Der Gesetzgeber kann der kollektiven Rechtsgestaltung die Möglichkeit einräumen, gesetzliche Regelungen zum Nachteil der AN abzubedingen. Bis 2011 geschah dies nur in Ausnahmefällen; jede Ausnahme wurde speziell gesetzlich geregelt. Lt. Art. 8 können nun in dezentralen TV auch die in Abs. 2 genannten Bereiche abweichend von gesetzlichen Bestimmungen geregelt werden, d. h. Nutzung audiovisueller Anlagen und neuer Technologien; Arbeitsaufgaben und Einstufung von AN; atypische Arbeitsverträge (befristete Verträge, Teilzeit usw.); Arbeitszeit; Solidaritätshaftung bei Werkaufträgen und Leiharbeit; Verfahren bei Einstellung und Regelung des Beschäftigungsverhältnisses; Folgen bei Kündigung (Ausnahme: diskriminierende Kündigung, Kündigung von Arbeitnehmerinnen bei Heirat, von Müttern, wegen Inanspruchnahme unbezahlter Freistellungen bei Erkrankung von Kindern und bei Adoption oder Familienpflege). Derartige Vereinbarungen unterliegen nur den in der Verfassung und dem eur. Recht enthaltenen Beschränkungen. 12 Art. 8 sieht vor, dass TV, die nicht auf nationaler Ebene abgeschlossen werden und damit nicht Art. 39 der Verfassung unterliegen,»gegenüber allen betr. AN«allein unter der Voraussetzung, dass sie auf der Grundlage eines (nicht näher festgelegten)»mehrheitskriteriums«bzgl. der gewerkschaftlichen Vertretungen abgeschlossen werden, wirksam sind. Auf diese Weise wurde»dezentralen TV«eine im Vergleich zu nationalen TV erweiterte Wirkung zugebilligt. Letztere wirken nämlich nur im Verhältnis zu den Gewerkschaften, die die TV abgeschlossen haben, und deren Mitgliedern. Die Rspr. hat ausdrücklich anerkannt, dass Betriebs- und Firmen-TV aufgrund von Art. 8 13 für alle AN des Betriebs oder UN einschl. FIOM-Mitglieder gelten. In der it. Rechtslehre bestehen starke Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit dieser Regelungen, 14 da sie die Gefahr einer territorialen Differenzierung des Arbeitsrechts in sich bergen. 15 Andere Autoren meinen, dass die Bestimmung positive Effekte im Hinblick auf Beschäftigungssicherung. 16 Die Sozialpartner machen von den ihnen in Art. 8 eingeräumten Möglichkeiten bislang nur zurückhaltend Gebrauch. Allerdings wird vermutet, dass auf regionaler Ebene von gesetzlichen Bestimmungen abweichende TV vereinbart und von den Gewerkschaften incl. CGIL nicht bekannt gemacht würden. 17

4. Das Abkommen v. 21.9.2011 und der Austritt von Fiat aus dem Industrieunternehmerverband Confindustria Die offizielle Haltung der 3 größten it. Gewerkschaftsverbände (CGIL, CISL und UIL) zu Art. 8 des Gesetzes Nr. 148 v. 14.9.2011 wurde in einem in Rom am 21.9.2011 unterzeichneten Abkommen der Spit60zenorganisationen der Sozialpartner explizit gemacht (es wird nach dem Datum des Abschlusses seines Entwurfs oft als Abkommen v. 28.6.2011 bezeichnet). In diesem Pakt bekräftigen die Parteien, dass jegliche Eingriffe in»angelegenheiten der industriellen Beziehungen und der Tarifverhandlungen«autonom durch die Sozialpartner festzulegen sind, und verpflichten sich, die Praktizierung des in Art. 8 vorgegebenen abweichenden Weges zur Einführung von Vertragsänderungen zu boykottieren. 18 Das Abkommen v. 21.9.2011 beinhaltet 3 Veränderungen des Tarifverhandlungssystems: 1. Zu tariflichen Verhandlungen auf Unternehmensebene sind nur noch Gewerkschaften zugelassen, die mind. 5 % der AN einer Branche organisieren, für die ein nationaler TV gilt. Damit sind kleinere, meist kämpferischere Gewerkschaften wie Cobas ausgeschlossen. Das Abkommen der Spitzenorganisationen der Sozialpartner v. 31.5.2013 hat diese Regelung auf nationale Tarifverhandlungen ausgedehnt. 2. Es besteht die Möglichkeit der Aufhebung von nationalen zugunsten von dezentralen TV, um eine Krisensituation zu bewältigen, oder bei Investitionen, die Produktivität und Beschäftigung erhöhen sollen. Die Öffnung betrifft die Regelung von Arbeitsleistung, -zeit und -organisation, aber nicht der Löhne. Doch diese Möglichkeit zur Änderung des nationalen TV ist ausdrücklich»im Rahmen der nationalen Branchentarifverträge und nach den von diesen vorgegebenen Verfahren«vorgesehen und entspricht damit Pt. 3 des Abkommens, nach dem»tarifverhandlungen auf Unternehmensebene für Punkte, die durch den nationalen Branchen TV ganz oder teilweise in ihre Zuständigkeit verwiesen wurden, durchgeführt werden.«fiat ist als Mitglied des Industrieunternehmerverbands Confindustria zur Einhaltung des nationalen TV der Metallindustrie verpflichtet. Die Tatsache, dass in einem Firmen- oder Betriebs-TV des UN vom nationalen TV abweichende Regelungen getroffen wurden, stellt rechtlich kein besonderes Problem dar. Nach der Rspr. ist nämlich»in aufeinander folgenden TV, auch auf unterschiedlicher Ebene, eine Änderung z. B. der Vergütung der AN zu deren Nachteil zulässig.«19 Nach der Rspr. begründet die Verletzung der Verbote des o. g. Abkommens der Spitzenorganisationen bzgl. des Abschlusses von Betriebs- oder Firmentarifverträgen, die in ihrem Inhalt und Verfahren nicht dem Abkommen der Spitzenorganisationenoder den nationalen Branchentarifverträgen entsprechen, nicht die Ungültigkeit von TV mit abweichenden Regelungen. 20 Dennoch gab das Geschäftsführende FIAT-Verwaltungsratsmitglied in einem an die Vorsitzende des Industrieunternehmerverbands Emma Marcegaglia gerichteten Schreiben am 30.9.2011 die Absicht seines UN bekannt, ab 1.1.2012 aus Confindustria auszutreten. Begründet wurde dies damit, dass»der Pakt v. 21.9.2011 ( ) die Hoffnungen bezüglich der Wirksamkeit von Art. 8 stark getrübt«habe. 21 Der wahre Grund für den Austritt von Fiat aus Confindustria ist darin zu suchen, dass in Art. 19 des Arbeitnehmerstatuts vorgesehen ist, dass

»Betriebliche gewerkschaftliche Vertretungen ( ) auf Initiative der ArbeitnehmerInnen in jeder Produktionseinheit gebildet werden (können), und zwar im Rahmen der Gewerkschaften, die TV unterzeichnen, die in der jeweiligen Produktionseinheit Geltung haben.«22 Art. 19 war und ist Grundlage für eine Reihe betrieblicher und gewerkschaftlicher Interessenvertretungen, da er kein bestimmtes Modell (etwa nach Muster des dt. BR) vorschreibt. Die derzeitig stark verbreitete Form sind die vor allem durch zwischengewerkschaftliche Abkommen und ein Abkommen mit dem Unternehmerverband Confindustria 23 geregelten Einheitlichen Gewerkschaftsvertretungen (»rappresentanzesindacaliunitarie«rsu), 24 die zu 1/3 aus Delegierten der unterzeichnenden Gewerkschaften und zu 2/3 aus auf freien Listen gewählten Vertretern bestehen sollen. Sie sind Nutznießer aller Rechte, die das Arbeitnehmerstatut für die betriebliche Gewerkschaftsvertretung vorsieht und die in den folgenden Artikeln definiert werden. Die Arbeitnehmervertretung nimmt in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften an betrieblichen Tarifverhandlungen teil. Formelle Mitbestimmung und Mitwirkung gibt es nicht. Eine Einbeziehung der Arbeitnehmervertretung in Entscheidungsprozesse des UN findet nicht statt; ihr stehen lediglich Informationsrechte zu. Die AN machen ihren Einfluss jedoch über das Instrument des betrieblichen Streiks geltend. Ein Großteil der Streiks in Italien beruht auf Konflikten, die in Deutschland typischerweise über Mechanismen der betrieblichen Mitbestimmung gelöst werden. Mit dem Austritt von Fiat aus Confindustria haben Fiat-AN nicht mehr das Recht, ihre einheitliche gewerkschaftliche Vertretung frei zu wählen, da FIAT nicht mehr an das Abkommen über die Einheitlichen Gewerkschaftsvertretungen gebunden und somit nicht mehr verpflichtet ist, die von den AN gewählten betrieblichen, gewerkschaftlichen Vertretungen anzuerkennen. Nur Delegierte von Gewerkschaften, die die Betriebs- und Firmen-TV von Anfang an akzeptiert haben, sind in den FIAT-Stammwerken zugelassen. Betriebsversammlungen werden nur noch von Gewerkschaften organisiert, die den Betriebsoder Firmen TV unterschrieben haben. Am 13.12.2012 schloss die Fiat-Gruppe mit den Gewerkschaften mit Ausnahme von FIOM einen einheitlichen Firmen-TV ab, der für sämtliche ca. 86.000 Beschäftigten der Unternehmensgruppe gilt. Dieser wurde am 8.3.2013 verlängert. Dabei wurde eine höhere Lohnerhöhung als beim nationalen TV für die Metallindustrie vereinbart, nämlich 40 gegenüber 35 monatlich und 480 gegenüber 455 jährlich. Der Fall Fiat hat zu einem gewaltigen Rechtsstreit zwischen Fiat und FIOM geführt: Ca. 90 gerichtliche Verfahren wurden eröffnet. 25 Das Verfassungsgericht hat am 1.7.2013 Art. 19 des Arbeitnehmerstatuts für verfassungswidrig erklärt und damit indirekt ausgesprochen, dass FIOM betriebliche gewerkschaftliche Vertretungen bilden kann, obwohl sie den in den FIAT-Stammwerken geltenden Firmen-TV nicht unterzeichnet hat. (Der Beitrag wird fortgesetzt) [*] Kurzfassung der Sinzheimer-Vorlesung am 1.7.2013 in Frankfurt/M. Ausführlicher Text unter arbeitundrecht.eu [1] Alesina/Ardagna, Large Changes in Fiscal Policy: Taxes Versus Spending, National Bureau of Economic Research (NBER), 2009, Working Paper Nr. 15438. [2] Krugman hat für The New York Review of Book eine wohldurchdachte Rezension von 3 Büchern verfasst (http://www.nybooks.com/articles/archives/2013/jun/06/how-case-

austerity-has-crumbled/?pagination=false), in der er erklärt, dass die Sparpolitik der letzten Jahre kaum oder überhaupt nicht zur Generierung von Wachstum und Beschäftigung beigetragen hat. [3] Coy, Keynes vs Alesina. Alesina Who?, Bloomberg Business Week, 30.6.2010. [4] EZB, Interview with Jean-Claude Trichet, President of the ECB, and Liberation, July 8 2010:»It is an error to think that fiscal austerity is a threat to growth and job creation. At present, a major problem is the lack of confidence on the part of households, firms, savers and investors who feel that fiscal policies are not sound and sustainable«. [5] Blyth, The History of a Dangerous Idea, Oxford, 2013. [6] Die größten Gewerkschaftsbünde sind in Italien: Die Confederazione Generale Italiana del Lavoro (CGIL) hat 5,7 Mio. Mitglieder (davon 2,7 Mio. erwerbstätig), ist Mitglied im EGB und gilt als linksgerichtet. Die Confederazione Italiana Sindacati Lavoratori (CISL) hat 4,5 Mio. Mitglieder (davon 2,3 Mio. erwerbstätig), ist Mitglied im EGB und gilt als christlich-reformistisch. Die Unione Italiana del Lavoro (UIL) hat etwa 2,1 Mio. Mitglieder (davon 1,2 Mio. erwerbstätig), ist Mitglied im EGB und gilt als laizistischreformistisch. Die Dachverbändeberaten mit der Regierung und den AG wesentliche sozial- und arbeitsmarktpolitische Themen. Diese 3 Gewerkschaftsbünde haben Branchenorganisationen, die jeweils TV abschließen. [7] Zur Rechtmäßigkeit des Ausschlusses einer Gewerkschaft aus den Verhandlungen s. Gericht (Tribunale) Rom 9.5.2013; gegenüber Gericht Turin 14.9.2011, wo der Ausschluss einer Gewerkschaft für widerrechtlich erachtet wird, wenn dieser dazu dient, der ausgeschlossenen Gewerkschaft nicht mehr die Wahrnehmung ihrer betrieblichen gewerkschaftlichen Vertretung zu ermöglichen (s. unter I.4). [8] Vgl. alle Fiat-TV in http://www.fiomaprilia.it/speciale%20vertenza%20fiat/index.asp; am 9. Juli verkündete Sergio Marchionne, dass in Pomigliano ein neuer Fiat Panda produziert wird. Fiat macht dafür 700 Mio locker. [9] Vgl. Betrachtungen des Rechtsberaters von Fiat De Luca Tamajo, Rivista italiana di diritto del lavoro, 2010, 799. [10] Zur»Förderung von Beschäftigung, zur Verbesserung der Qualität von Arbeitsverträgen, zur Umsetzung von Formen der Arbeitnehmerbeteiligung, zur Überführung von Schwarzarbeit in legale Arbeit, zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und der Löhne, zur Bewältigung von Unternehmens- und Arbeitsmarktkrisen, zur Förderung von Investitionen und zum Aufbau neuer UN«. [11] Wo es heißt:»ein Vertrag ist nichtig, wenn er zwingenden Vorschriften widerspricht, es sei denn, dass das Gesetz etwas anderes bestimmt«. [12] Vielleicht kann hier eine Parallele zu BAG 15.8.2012 7 AZR 184/11, AuR 2012, 2012, 374; 2013, 53, zur Auslegung von 14 Abs. 2 TzBfG gezogen werden. [13] Gericht Turin, Beschluss v. 23.1.2012. [14] Vgl. F. Carinci (Hrsg.), Contrattazione in deroga, Mailand, 2012. [15] Mariucci, Rappresentanza e democrazia, anomaliaitaliana, in www.rassegna.it [16] De Luca Tamajo, Il problema dell inderogabilità delle regole a tutela del lavoro, ieri e oggi, Giornale di diritto del lavoro e di relazioni industriali, 2013, im Druck. [17] Imberti, Giornale di diritto del lavoro e di relazioni industriali, 2013, 255 ff. [18] Es ist also unrichtig zu behaupten, Art. 8 gehe auf das Abkommen v. 28.6.2011 zurück, so aber Waas, Tarifvertragsrecht in Zeiten der Krise, in: Anforderungen an ein modernes kollektives Arbeitsrecht, FS für Otto Ernst Kempen, 2013, 49.

[19] Kassationsgerichtshof Nr. 6852/2010; Nr. 12098/2010; Nr. 21234/2007; Nr. 2362/2004; Nr. 7847/2003; Kursivsatz durch Verfasser. [20] De Luca Tamajo, Fn. 22. [21] In Deutschland betreibt VW eine eigene Tarifpolitik, doch in Italien waren wichtige Vorstandsvorsitzende von Fiat wie Giovanni Agnelli und Luca Cordero di Montezemolo Vorsitzende von Confindustria und haben sozusagen die Geschichte des Verbands geschrieben. [22] Buchst. a) wurde 1995 in der Folge eines kontrovers diskutierten Referendums abgeschafft. [23] Vgl. Fuchs, LiberAmicorum Manfred Weiss, Berlin, 2005, 345 ff. und Runggaldier, Industrielle Beziehungen, 10 (2003), 41 ff. Die Einführung der RSU erfolgt im Wesentlichen über ein Interkonföderales Abkommen (Spitzenabkommen der Tarifparteien»Accordo Interconfederale per la costituzione delle rappresentanze unitarie«), v. 1.12.93 zwischen den Gewerkschaften und den wichtigsten Arbeitgeberverbänden. Nachfolgend wurden auch für andere Sektoren (z. B. Handel und ö. D.) entsprechende Abkommen getroffen. [24] Die RSU kann mit einer Amtsperiode von 3 Jahren in Betrieben mit mehr als 15 Mitarbeitern gebildet werden. In Betrieben mit bis zu 200 Beschäftigten können 3 Vertreter, in Betrieben zwischen 200 und 3.000 Beschäftigten 3 Vertreter je 300 Beschäftigte, in Betrieben über 3.000 Beschäftigte 3 Vertreter je 500 Beschäftigte gewählt werden. Wahlberechtigt sind alle AN. [25] Die zwischenzeitlich ergangenen Urteile können eingesehen werden unter: http://www.fiomaprilia.it/speciale%20vertenza%20fiat/index.asp