LÖSUNGSVORSCHLAG FALL 6
Zentrale Sachverhaltselemente K. AG und V. AG haben einen Kaufvertrag abgeschlossen. Dieser Kaufvertrag enthält eine Akkreditivklausel. Bank B. musste die Bezahlung des Kaufpreises bei Vorlage bestimmter Dokumente an einem bestimmten Datum tätigen. V. AG hat eine Ware geliefert, welche nicht über die abgemachten Eigenschaften verfügte. Bank B. hat auf Grund eines verfälschten Dokuments die Bezahlung des Kaufpreises - USD 12 Mio. - getätigt. K. AG konnte das gelieferte Benzin nur für USD 8 Mio. weiterverkaufen. 2
Wie sieht die Interessenlage aus? Wer will von wem was? Bank B. will USD 12 Mio. von K. AG zurückbezahlt erhalten. Wenn K. AG USD 12 Mio. an Bank B. zurückzahlen muss, stellt sich die Frage, ob K. AG allenfalls Ansprüche gegen V. AG geltend machen kann. 3
Rechtsverhältnisse zwischen Bank B., K. AG und V. AG Der Kaufvertrag zwischen K. AG u. V. AG enthält eine Akkreditivklausel. Damit hat sich K. AG verpflichtet, einen entsprechenden Dokumentakkreditiv-Eröffnungsauftrag an Bank B. zu erteilen. 4
Definition eines Dokumentakkreditivs Ein Dokumentakkreditiv ist eine Vereinbarung, "der zufolge eine auf Ersuchen und in Übereinstimmung mit den Weisungen eines Kunden (Akkreditiv-Auftraggeber) handelnde Bank (eröffnende Bank) gegen Übergabe vorgeschriebener Dokumente Zahlungen an einen Dritten (Begünstigter) oder dessen Order (leistet) (...), sofern die Akkreditiv- Bedingungen erfüllt sind" (Art. 2 Einheitliche Richtlinien und Gebräuche für Dokumenten-Akkreditiv von 1993 [ERA 500]). (Die ERA wurden überarbeitet. Seit dem 1.7.2007 gelten die ERA 600 [RWI-Signatur Rbk 176]. Eine neue Definition findet man ebenfalls in Artikel 2.) Das Akkreditiv hat eine Zahlungsfunktion und eine Sicherungsfunktion (sichert eine gegenseitige ordnungsgemässe Vertragserfüllung). 5
Abwickeln eines Akkreditivgeschäfts Der Käufer und Verkäufer schliessen einen Kaufvertrag ab, der eine Akkreditivklausel enthält. Der Käufer beauftragt eine Bank, ein Akkreditiv zugunsten des Verkäufers zu eröffnen. Der Verkäufer schliesst einen Transportvertrag mit einem Transporteur ab, übergibt ihm die Ware und erhält die Transportdokumente. Der Verkäufer sammelt die notwendigen Dokumente und liefert sie der Bank innert vertraglich vereinbarter Frist ab. Die Bank prüft die Dokumente. Die Bank akzeptiert die Dokumente und zahlt die Akkreditivsumme, übermittelt die Dokumente an den Käufer und verlangt von diesem Rückzahlung des Akkreditivs. Der Käufer lässt sich die Ware vom Transporteur ausliefern gegen Abgabe der Dokumente. 6
Wenn die Bank der Meinung ist, dass die Dokumente dem Akkreditivvertrag nicht entsprechen, lehnt sie die Dokumente ab, schickt sie an den Begünstigten zurück oder stellt sie ihm zu Verfügung. Wenn der Käufer der Meinung ist, dass die Dokumente dem Akkreditivvertrag nicht entsprechen, lehnt er sie ab. 7
Qualifikation des Akkreditivs Das Akkreditiv untersteht dem Anweisungsrecht (Art. 466 ff OR; BGE 130 III 462 E. 5.1 = Pra 2005, 135 mit w. Hw.): Der Käufer (Anweisende) ermächtigt eine Bank (Angewiesene) in eigenem Namen, aber auf seine Rechnung, seinem Vertragspartner / Verkäufer (Anweisungsempfänger) unter gewissen Voraussetzungen den Kaufpreis/Akkreditivbetrag auszuzahlen. 8
Bei der Anweisung handelt es sich um eine Doppelermächtigung (Art. 466 I OR): 1. Der Anweisende ermächtigt den Angewiesenen, die Zahlung auf Rechnung der Anweisenden zu Gunsten des Anweisungsempfängers / Begünstigten zu tätigen. 2. Der Anweisende ermächtigt den Anweisungsempfänger, die Zahlung in eigenem Namen anzunehmen. Eine Doppelermächtigung im Sinne von Art. 466 I OR genügt jedoch nicht, um das zu erreichen, was Parteien mit einem Akkreditiv erreichen wollen: Im Rahmen eines Akkreditivs möchte der Verkäufer (Begünstigte), dass die Bank (Angewiesene) nicht nur ermächtigt ist, zu zahlen, sondern auch verpflichtet (Zahlungsfunktion des Akkreditivs). 9
Die Anweisung muss deshalb von der Bank im Sinne von Art. 468 I OR angenommen werden. Bank und Käufer schliessen zu diesem Zweck einen Auftrag (Akkreditiveröffnungsauftrag) ab, dessen Inhalt darin besteht, ein den Weisungen des Käufers entsprechendes Akkreditiv zu Gunsten des Verkäufers zu eröffnen (Art. 468 III OR). Damit verpflichtet sich die Bank zur Annahme der Anweisung. Im Akkreditiveröffnungsvertrag wird die Annahme der Bank jedoch bedingt durch die rechtzeitige Vorlage bestimmter Dokumente durch den Verkäufer (aufschiebende Bedingung; Art. 151 OR). Die Annahme der Anweisung ist eine einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung und schafft damit kein vertragsrechtliches Verhältnis zwischen dem Angewiesenen und dem Anweisungsempfänger. 10
Bank (eröffnende Bank Angewiesene / Delegat) Akkreditiveröffnungsauftrag (Art. 394 ff OR / Deckungsverhältnis) Leistungsverhältnis ab dem Zeitpunkt der Akkreditiveröffnungsbzw. Bestätigungsmitteilung (Art. 468 OR) Käufer (Bankkunde Anweisende / Delegant) Verkäufer (Begünstigte Anweisungsempfänger / Delegatar) Kaufvertrag (mit einer Akkreditivklausel / Valutaverhältnis) 11
Grundsatz der Abstraktheit der Anweisung (Art. 468 I OR) Ab dem Zeitpunkt der Annahme der Anweisung ist das Leistungsverhältnis in Bezug auf das Deckungs- und Valutaverhältnis abstrakt. Die Annahme schafft einen eigenständigen Rechtsgrund für die zu erbringende Leistung des Angewiesenen an den Anweisungsempfänger. Der Angewiesene kann dem Anweisungsempfänger einzig Einreden aus seinem Verhältnis mit dem Anweisungsempfänger entgegenhalten (Art. 468 I OR; BGE 131 III 222 = Pra 2005, 825; BGE 130 III 462 E. 6.1; BGE 127 III 553, E. 2e/bb). Es wird ebenfalls angenommen, dass das Deckungsverhältnis im Verhältnis zum Leistungs- und Valutaverhältnis abstrakt ist (BGE 124 III 253). 12
Ausnahme: rechtsmissbräuchliches Verhalten eines Beteiligten (Art. 2 ZGB; BGE 115 II 67; BGer. 4C.172/2000 vom 28.1.2001). Rechtsmissbrauch darf nur sehr restriktiv angenommen werden. Eng mit dem Prinzip der Abstraktheit verbunden gilt im Rahmen eines Akkreditivs das Prinzip der Dokumentenstrenge: Die Bank prüft einzig die Vollständigkeit und formelle Ordnungsmässigkeit der eingereichten Dokumente mit Bezug auf die Bedingungen des Akkreditivs (BGer. 4C.393/2005 vom 9.11.2006; BGer. 4C.149/2005 vom 3.7.2006). 13
Ansprüche der Bank B. gegenüber K. AG Zwischen Bank B. und K. AG (Deckungsverhältnis) besteht ein Auftrag (Art. 394 ff OR). Einreden, die ihren Ursprung im Kaufvertrag (Valutaverhältnis) finden, können von K. AG nicht geltend gemacht werden (Grundsatz der Abstraktheit der Anweisung). Gestützt auf Art. 402 I OR müsste K. die Auslagen und Verwendungen der Bank B. ersetzen, d.h. im vorliegenden Fall die Akkreditivsumme zurückbezahlen. Diese Pflicht setzt jedoch die gehörige Ausführung des Auftrages voraus (Art. 402 I OR). Die Dokumente wurden von V. AG rechtzeitig geliefert. Bank B. hat die Dokumente (sorgfältig) geprüft (auf Vollständigkeit und formelle Ordnungsmässigkeit; Prinzip der Dokumentstrenge). Bank B. ist somit ihren Pflichten nachgekommen; K. AG muss ihr die Akkreditivsumme zurückbezahlen. 14
[Exkurs: Grundsatz Bezahlung gegen Dokumente (Art.16 d. und f. ERA 600) Ab dem Zeitpunkt, wo die Bank Dokumente annimmt, kann sie die Bezahlung der Akkreditivsumme nicht mehr verweigern. Ausnahme: Bei Verletzung von Art. 2 ZGB (Gutglaubensschutz). Wenn die Bank Dokumente ablehnen will, muss sie diese Dokumente dem Begünstigten zurückschicken oder zumindest zur Verfügung stellen. Handelt sie nicht so oder verfügt sie über die Ware, kann sie die Bezahlung nicht mehr verweigern. Dieser Grundsatz entspricht Gewohnheitsrecht und gilt in den Beziehungen zwischen Banken (wenn mehrere intervenieren, vgl. Art. 16 d. und f. ERA 600) sowie in der Beziehung zwischen eröffnender Bank und der Auftraggeberin (BGE 111 II 76). Folge dieses Grundsatzes ist gegebenenfalls eine Ausnahme als lex specialis - zu Art. 402 I OR: Auch bei unsorgfältiger Prüfung der Dokumente durch die Bank muss der Auftraggeber die Bank bezahlen, wenn er die Dokumenten nicht ablehnt und/oder über die Ware verfügt.] 15
[Exkurs: Ansprüche B. AG gegen V. AG? BGE 131 III 222: Die von einer Bank gegen Vorweisung eines gefälschten Dokuments getätigte Zahlung entspricht der Zahlung einer Nichtschuld im Sinne von Art. 63 I OR. Ansprüche aus Art. 41 OR? Nein, mangels Schaden (Forderung gegen K. AG bleibt bestehen); ferner ist Widerrechtlichkeit nur gegeben bei Annahme eines Vermögensdelikts. Ansprüche aus Art. 97 OR? Nicht gegeben, da kein Vertrag zwischen B. AG und K. AG vorliegt.] 16
Ansprüche der K. AG gegenüber V. AG (BGer 4C.204/2002 vom 9.10.2003) Qualifikation / Problemstellung V. AG und K. AG haben einen Kaufvertrag abgeschlossen. Das gelieferte Benzin entspricht nicht den Abmachungen der Parteien. Stellt dies die Lieferung eines aliud oder einer mangelhaften Sache dar? Bei der Lieferung eines aliud ist der Verkäufer in Verzug; der Gläubiger kann nach Art. 102 ff OR bzw. nach Art. 190 f. OR vorgehen. Bei der Lieferung einer mangelhaften Sache kann der Käufer nach Art. 197 ff OR vorgehen. 17
Kaufgegenstand Das Benzin ist eine Gattungssache (Art. 71 OR). Ein Gattungskauf zeichnet sich im Gegensatz zum Stückkauf dadurch aus, dass der Verkäufer keine vertraglich individualisierte, sondern eine nur der Gattung nach bestimmte Sache schuldet. Die Präzision bei der Umschreibung des Kaufgegenstandes entscheidet darüber, ob bei der Lieferung einer Sache, welche die vereinbarten Eigenschaften nicht aufweist, Schlechterfüllung (Lieferung einer mangelhaften Sache) oder Nichterfüllung (Lieferung eines aliud) vorliegt. Bei präziser Beschreibung der Gattungsmerkmale stellt jede gelieferte Sache, welche nicht alle von den Parteien vereinbarten Gattungsmerkmale aufweist, eine andere Sache, ein aliud, dar. In casu haben die Parteien die Eigenschaften des Benzins genau beschrieben. Somit hat V. AG ein aliud geliefert und ist in Verzug geraten. 18
Tatbestand und Wirkungen des Verzugs Tatbestand (Art. 102 OR): Nicht Leistung trotz Leistungsmöglichkeit / Fälligkeit der Forderung / Mahnung (ausser Verabredung eines bestimmten Verfalltags) / Pflichtwidrigkeit der Nichtleistung. Wirkungen: Mechanismus von Art. 107 ff. OR. Keine weiteren Schritte ohne Nachfristsetzung. Besondere Regelung der Wirkungen des Verzugs in Art. 190 OR für einen Kauf im «kaufmännischen Verkehr», für welchen die Parteien einen Lieferungstermin abgemacht haben. Kauf im kaufmännischen Verkehr : Kauf zum Zwecke des Weiterverkaufs. In casu beabsichtigte K. AG, das Benzin weiterzuverkaufen; die Parteien haben einen Lieferungstermin verabredet. Art. 190 OR ist somit anwendbar. 19
Art. 190 OR: Haben die Parteien einen bestimmten Lieferungstermin (Art. 102 II OR) abgemacht, so wird vermutet, dass es sich um ein Fixgeschäft (Art. 108 Ziff. 3 OR) handelt. Der Käufer muss - entgegen Art. 107 I OR - dem Verkäufer keine Nachfrist nach Ablauf des Liefertermins setzen. Es wird ferner vermutet, dass der Käufer auf die Erfüllung der Primärleistung des Vertrages verzichtet, bei gleichzeitiger Forderung von Schadenersatz wegen Nichterfüllung (positives Vertragsinteresse). Das Verschulden des säumigen Verkäufers ist auch wenn in Art. 190 OR nicht ausdrücklich erwähnt Voraussetzung des Anspruches auf Ersatz des Nichterfüllungsschadens. 20
In casu Der Abschluss einer Akkreditivklausel mit einem bestimmten Termin für die Einreichung der Dokumente gilt als Abschluss eines Fixgeschäfts. Auf jeden Fall spricht das Verhalten von V. AG Entladung der Ware und Einlagerung im Namen der K. AG für die Anwendung von Art. 108 Ziff. 1 OR. K. AG musste somit V. AG keine Nachfrist setzen. K. AG hat nicht unverzüglich erklärt, dass sie auf der Erfüllung beharrt; im Gegenteil, K. AG hat die Ware abgelehnt. K. AG hat somit Anspruch auf Ersatz des Nichterfüllungsschadens. 21
Erfüllungsanspruch (Art. 191 OR) Art. 191 I OR entspricht den allgemeinen Grundsätzen: der Erfüllungsanspruch wird nur unter den üblichen Voraussetzungen (Art. 97 bzw. 103 u. 107 II OR) geschuldet. Art. 191 II (Deckungskauf / konkrete Schadensberechnung) u. III (hypothetischer Deckungskauf / abstrakte Schadensberechnung) OR verankern die Differenztheorie und ermöglichen eine vereinfachte Schadensberechnung. Die Anwendung der allgemeinen Regeln sind jedoch nicht ausgeschlossen. 22
In unserem Fall bringen Abs. 2 und 3 von Art. 191 OR nichts. K. AG hatte keine Wahl und musste das gelieferte obwohl abgelehnte Benzin weiterverkaufen. Ferner hätte ein Deckungskauf vermutlich nicht mehr rechtzeitig stattfinden können. Die allgemeinen Regeln sind demzufolge anwendbar (Art. 190 I und 191 I OR): K. AG ist so zu stellen, wie wenn V. AG den Vertrag ordnungsgemäss erfüllt hätte. Schaden: Verlust von USD 6 Mio. Eventuell noch Lagerungskosten sowie Schadenersatz, den K. AG eventuell ihrem Käufer schuldet. 23
Ansprüche gestützt auf Art. 41 OR? Nein, Widerrechtlichkeit ist nicht gegeben. Ansprüche gestützt auf Art. 61 OR? Nicht gegeben. Subsidiarität der Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung gegenüber vertraglichen Ansprüchen. Fazit K. AG schuldet der Bank B. USD 12 Mio. V. AG schuldet K. AG USD 6 Mio. 24