Erworbene und entwicklungsbedingte Störungen der Schriftsprache. Teil 1 Erworbene Störungen der Schriftsprache Zusammenfassung. N.



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Transkript:

Erworbene und entwicklungsbedingte Störungen der Schriftsprache Teil 1 Erworbene Störungen der Schriftsprache Zusammenfassung N. Rüffer

Erworbene Störungen der Schriftsprache Erworbene Störungen der Schriftsprache entstehen durch eine Schädigung des Gehirns zum Beispiel in Folge eines Schlaganfalls. Bei erworbenen Störungen der Schriftsprache sind neuronale Bereiche im menschlichen Gehirn beeinträchtigt, die für das Schreiben und Lesen von Bedeutung sind.

Logogenmodell Erworbene Störungen der Schriftsprache lassen sich mit Hilfe des Logogenmodells, einem lexikalischen Sprachverarbeitungsmodell, beschreiben.

Logogenmodell phonologische vs. graphematische Wortform lexikalische vs. sublexikalische Verarbeitung Sprachwahrnehmung vs. Sprachproduktion

Kognitiv-psychologische Klassifikation der Dyslexien Es werden 3 Routen zur Wortverarbeitung beim Lesen angenommen: eine semamtisch-lexikalische Route, über die das geschriebene Wort unmittelbar mit der Wortbedeutung verknüpft wird eine phonologisch-lexikalische Route, über die das orthographische Wort unmittelbar mit dem phonologischen Wort verknüpft wird eine nicht-lexikalische Route, über die Graphem- Phonem-Korrespondenzen (GPK) hergestellt werden. Die nicht-lexikalische GPK-Route ist notwendig, um Neologismen und unbekannte Wörter zu lesen. Dies geschieht durch ein Regelsystem, das orthographische Segmente in phonologische übersetzt. Orthographisch unregelmäßige Wörter (z.b. Bus) können demgegenüber nur über eine lexikalische Prozedur korrekt gelesen werden, die lexikalisierte orthographische Formen auf phonologische Formen bezieht. Der gesunde Mensch kann beim Lesen alle drei Routen gleichzeitig benutzen, bei Patienten mit hirnorganischen Störungen kann es zu einer pathologischen Einschränkung auf ein oder zwei dieser Routen kommen.

Tiefendyslexie Lokalisation der Störung im Logogenmodell In Marshall & Newcombe, 1973 wurde die Störung in einem Ausfall der nicht-lexikalischphonoplogischen Route (GPK) lokalisiert. Dies erklärte, warum Neologismen nicht gelesen werden konnten, aber die semantischen Paralexien blieben unerklärt. In Saffran, Schwartz & Marin, 1976 und Newcombe & Marshall, 1980 wurde alternativ angenommen, dass das semantische System der Korrektur durch das phonologische GPK-System bedarf, um semantische Paralexien auszuschließen. Der Ausfall der GPK- Route bei Tiefendyslexie führt dann neben der Unfähigkeit Neologismen zu lesen - zu semantischen Fehlern beim Lesen. Auch diese Theorie hat sich aus empirischen Gründen als unzureichend erwiesen. Dagegen spricht, dass es Dyslexieformen gibt, bei denen Neologismen nicht gelesen werden können, ohne dass es zu semantischen Paralexien kommt. In Nolan & Caramazza, 1983; Morton & Patterson, 1980; Shallice & Warrington, 1980 wird deshalb angenommen, dass die Tiefendyslexie auf zwei unabhängige Störungen zurückgeht: eine Störung des GPK-Systems und eine Störung der Semantik. Weitere Fallbeschreibungen zeigten, dass es verschiedene Formen von Tiefendyslexie gibt. Es gibt Formen von Tiefendyslexie, bei denen das semantische System gestört ist, und andere Formen, bei denen nicht das semantische System selbst, sondern der Zugriff von der Semantik auf das phonologische Lexikon beeinträchtigt ist. Das Vorkommen von Konkretheitseffekten und Wortarteffekten wurde von einigen Autoren als Evidenz für multiple semantische Systeme gedeutet. Warington & Shallice (1979) nahmen unterschiedliche semantische Systeme für Konkreta und Abstrakta an und lokalisierten die semantische Störung bei Tiefendyslexie im semantischen System für Abstrakta. In Warington (1981) wird bei Tiefendyslexie eine Störung in einem wortartspezifischen semantischen System angenommen. In Saffran, Schwartz & Marin, 1976 und Coltheart, 1980 werden Konkretheitseffekte und Wortarteffekte bei Tiefendyslexie darauf zurückgeführt, dass die Tiefendyslexie Leseleistungen der rechten Hemisphäre widerspiegeln würde. Typ 1 Typ 2

Direkte Dyslexie Lokalisation der Störung im Logogenmodell Patienten mit direkter Dyslexie bieten starke Evidenz für eine direkte, phonologisch-lexikalische Leseroute, wobei das graphematische Lexikon unmittelbar mit dem entsprechenden phonologischen Lexem verknüpft wird (Route 2). Dies erklärt, dass orthographisch unregelmäßige Wörter wie z.b. Bus korrekt gelesen werden können. Eine Fallbeschreibung von direkter Dyslexie findet sich in Lytton und Brust (1989). Der Patient (mit Wernicke Aphasie) konnte Neologismen nicht lesen, aber Wörter wurden ohne jegliches Verständnis korrekt realisiert, unabhängig von der orthographischen Regularität.

Phonologische Dyslexie Lokalisation der Störung im Logogenmodell In den ersten Fallbeschreibungen (Derouesné & Beauvois, 1979) wurde angenommen, dass Patienten mit phonologischer Dyslexie eine reine Symptomatik hätten, die durch eine isolierte Störungen der GPK-Route zustande käme Problematisch an dieser Hypothese waren Daten zum Lesen von Neologismen bei phonologischer Dyslexie. Es zeigte sich nämlich, dass das Lesen von Neologismen je nach Stimulusmerkmalen sehr heterogen war und sowohl zu Nullreaktionen als auch zu Substitutionen und Auslassungen einzelner Segmente und auch zu Lexikalisierungen führte. Dabei bestimmte die graphematische Komplexität das Ausmaß der Abweichung. Darüber hinaus konnten pseudohomophone Neologismen (z.b. das englische Nichtwort leef ist homophon mit dem Wort leaf) häufig richtig gelesen werden (Derouesné & Beauvois, 1985). Zur Erklärung wurde angenommen, dass bei phonologischer Dyslexie nicht die GPK- Route in Gänze ausgefallen ist, sondern nur eine bestimmte Stufe des Graphem- Phonem-Konversionsprozesses. Patienten, die Neologismen nicht lesen können, können GPK nicht aktivieren. Für Patienten, die graphematisch komplexere Neologismen schlechter lesen konnten als graphematisch einfachere, wurde angenommen, dass GPK zwar aktiviert wurde, aber Konversionsregeln gestört waren. Für andere Patienten musste die Störung im phonologischen Buffer angenommen werden. Eine Störung in diesem Subsystem führt zu einem Unterschied zwischen pseudo-homophonen und nicht-homophonen Neologismen. Bei nicht-homophonen Neologismen ist die Gedächtnisspanne zu kurz für eine Verarbeitung, bei pseudohomophonen Neologismen führt die phonologische Übereinstimmung mit lexikalisierten Formen im phonologischen Langzeitspeicher zu einer besseren Verarbeitung. (Bub, Black, Howell & Kertesz, 1987; Caramazza, Miceli & Villa, 1986) Typ 2 Typ 1

Oberflächendyslexie Lokalisation der Störung im Logogenmodell Patienten mit Oberflächendyslexie verfügen nicht über lexikalischsemantische oder direkte Leseroute und lesen ausschließlich über die Graphem-Phonem-Route. Ursprünglich wurde angenommen, dass Oberflächendyslektiker bei homophonen allographischen Wörtern (zum Beispiel Stil-Stiel; Miene-Mine) unfähig sein sollten, die korrekte Bedeutung zu finden, weil beim ausschließlichen Lesen über GPK der lexikalisch-graphematische Unterschied zwischen solchen Wörtern nicht bedeutungsunterscheidend sein kann (Coltheart, 1981) Neuere Untersuchungen haben aber zwei unterschiedliche Formen von Oberflächendyslexie entdeckt. Bei einigen Patienten muss die Störung der lexikalisch-semantischen Route präsemantisch lokalisiert werden. Die Bedeutung, die solche Patienten für ein gelesenes Wort angeben ist die der regularisierten Form (z.b. statt listen:hören Liston: der Boxer). Bei anderen Patienten mit Oberflächendyslexie muss demgegenüber die Störung postsemantisch angenommen werden. Diese Patienten können lexikalisch-orthographische Informationen zur Bedeutungsunterscheidung nutzen, obwohl ihnen für das Lesen nur GPK offen steht. Typ 1: präsemantisch Typ 2: postsemantisch

Das buchstabierende Lesen Lokalisation der Störung im Logogenmodell Patienten mit buchstabierendem Lesen versuchen, die Buchstaben eines Wortes meist laut zu benennen (zum Beispiel durch Nachfahren mit dem Finger) um so mühevoll das Zielwort zusammenzustellen Manchmal werden bei dieser Strategie visuell ähnliche Buchstaben substituiert und kurze Wörter (drei Buchstaben) werden schneller und genauer gelesen als lange (sieben bis acht Buchstaben) (Patterson & Kay, 1982). Obwohl diese Störung häufig von einer Hemianopsie nach rechts (eine neurologisch bedingte Störung der visuellen Wahrnehmung, bei der der rechte Gesichtsfeld beeinträchtigt ist) begleitet ist, ist sie nicht darauf zurückzuführen, denn es gibt Patienten mit Hemianopsie ohne Lesestörung. Auch wenn die Lesestörung demnach nicht Folge einer Wahrnehmungsstörung ist, muss sie dennoch nach Warrington & Shallice (1980) sehr früh im orthographischen System angesiedelt werden, und zwar im Bereich der visuellen Analyse. In diesem Subsystem wird eine wahrgenommene Buchstabenkette orthographisch analysiert. Bei einer Störung der visuellen Analyse können keine lexikalisch- oder sublexikalischorthographischen Formen verarbeitet werden. Nach Shallice & Warrington (1980) gehört das buchstabierende Lesen zu den peripheren Dyslexien, weil die funktionale Störung nicht das eigentliche Lesesystem betrifft, sondern die Schnittstelle zwischen der visuellen Wahrnehmung und dem Lesesystem

Kognitiv-psychologische Klassifikation der Dysgraphien Erworbene Störungen des Schreibens können unterschiedliche Ursachen haben: Störung im orthographischen Lexikon gestörter Zugriff des phonologischen Lexikons auf das orthographische Lexikon gestörter Zugriff des semantischen Systems auf das orthographische Lexikon gestörte Aktivierung der Phonem- Graphem-Konvertierung infolge einer Störung im phonologischen Arbeitsspeicher Störungen der Phonem- Graphem-Konvertierung Störungen im graphematischen Arbeitsspeicher

Kognitiv-psychologische Klassifikation der Dysgraphien Je nachdem wo die Störung des Schreibens lokalisiert ist, kommt es zu unterschiedlichen Fehlertypen und Stimuluseffekten. So haben zum Beispiel Dysgraphien, die durch eine Störung der Graphemebene zustande kommen, folgende Eigenschaften: nur die schriftliche Sprachproduktion ist betroffen die Schreibstörung tritt in allen Aufgaben auf (spontanes Schreiben, schriftliches Benennen und Diktatschreiben) und ist nicht auf das Handschreiben beschränkt das Schreiben von Wörtern und Nichtwörtern ist beeinträchtigt es kommt eher zu segmentalen Fehlern (Ersetzungen, Auslassungen, Hinzufügungen und Vertauschungen von Graphemen) als zu Ganzwortfehlern beim Schreiben (der Stimulus wird durch semantisch, visuell und/oder phonologisch ähnliche Wörter ersetzt) die auftretenden Schreibfehler können nicht phonologisch erklärt werden die segmentalen Fehler widerspiegeln keine Wahrscheinlichkeiten der Phonem- Graphem-Konvertierung die Wortlänge beeinflusst die Fehlerhäufigkeit

Fragen, die über das Logogenmodell hinausführen Welche formalen Eigenschaften haben lexikalisch-orthographische Formen? Welche grammatischen Prinzipien beschränken orthographische Formen? Wie sind reguläre und irreguläre re orthographische Formen lexikalisch implementiert? Gibt es trotz unterschiedlicher Schriftsysteme in den natürlichen Sprachen eine Universalgrammatik der orthographischen Formen?

Grammatische Eigenschaften lexikalisch-orthographischer Formen Die Arbeiten von McCloskey et al, Domahs et al, Primus und Sternefeld liefern eine erste Annäherung an Anworten auf diese Fragen: Welche formalen Eigenschaften haben lexikalisch-orthographische Formen? Lexikalisch-orthographische Formen repräsentieren graphematische Informationen unabhängig ngig von der lexikalisch- phonologischen Form von Wörtern. W Es handelt sich nicht einfach um geordnete Sequenzen von Graphemen, sondern um mehrdimensionale Strukturen, die unabhängig ngig voneinander die Graphemposition, die Graphemidentität t und eine orthographische Silbenstruktur kodieren. Das Lexikon spezifiziert eine durch Korrespondenzregeln und orthographische Prinzipien beschränkte Abbildung von orthographischen Formen auf phonologische Formen und umgekehrt. Dabei sind sowohl segmentale als auch suprasegmentale Eigenschaften relevant. Welche grammatischen Prinzipien beschränken orthographische Formen? Orthographische Formen werden durch phonologisch-orthographische orthographische Korrespondenzregeln wie MAXIMALITÄT/DEPENDENZ/KORRESPONDENZ T/DEPENDENZ/KORRESPONDENZ (Sternefeld), STRIKTE KORRESPONDENZREGEL EL (Primus) etc. und orthographische Prinzipien wie PARSE CV, CLUSTER, MORPHEM-KONSTANZ KONSTANZ-PRINZIP (Sternefeld) beschränkt. Bei der Anwendung dieser Regeln und Prinzipien spielt die Optimalitätstheorie tstheorie eine Rolle. Wie sind reguläre und irreguläre re orthographische Formen lexikalisch implementiert? Es gibt ein fein abgestimmtes Zusammenspiel zwischen regulären ren und irregulären ren lexikalisch-orthographischen Prozessen. Eine orthographische Form ist regulär, r, wenn sie aus phonologisch-orthographische orthographische Korrespondenzregeln und orthographischen Prinzipien folgt. Ist das nicht der Fall, wie zum Beispiel bei <BUS>, wird die orthographische Form als irregulär r markiert. Irreguläre re orthographische Formen blockieren die Anwendung von phonologisch sch-orthographischen Korrespondenzregeln und orthographischen Prinzipien. Gibt es trotz unterschiedlicher Schriftsysteme in den natürlichen Sprachen eine Universalgrammatik der orthographischen Formen? Davon ist auszugehen. Ob Prinzipien wie PARSE CV universell sind und welche anderen orthographischen Universalien es gibt, muss die Forschung zeigen. X X X X X D R E S a f e V C= C V A F F E

Themen für Examensarbeiten Erworbene Störungen des Lesens oder Schreibens jenseits des Logogenmodells: Dyslexie/Dysgraphie als Störung der Verarbeitung lexikalisch-orthographischer Formen Für diejenigen, die 2 Sprachen sprechen und schreiben: Orthographische Prinzipien in unterschiedlichen Sprachen. Wie sprachspezifisch oder sprachunabhängig sind Prinzipien wie PARSE CV, CLUSTER, MORPHEM-KONSTANZ-PRINZIP, etc.? Welche impliziten orthographischen Kenntnisse haben Kinder, die die Schrift erwerben? Wenn PARSE CV oder das MORPHEM-KONSTANZ- PRINZIP nicht sprachspezifisch sind, dann ist zu erwarten, dass Kinder Fehler wie Afe statt Affe oder komt statt kommt spontan, d.h. ohne explizite Instruktion vermeiden.