CAMPUS INNENSTADT S3 LEITLINIE: DIAGNOSTIK UND FÖRDERUNG VON KINDERN UND JUGENDLICHEN MIT LESE-RECHTSCHREIBSTÖRUNG Dr. Katharina Galuschka Pädagogin, M.A.
Agenda 1.Hintergrund: Schriftsprachentwicklung und LRS 2.Leitlinien und evidenzbasierte Forschung 3.Entstehung S3 Leitlinie LRS 4.Inhalte und Empfehlungen 4.1 Diagnostik 4.2 Förderung 4.3 Komorbidität 5.Ausblick und Rückblick 2
SCHRIFTSPRACHENTWICKLUNG
Lesen und Schreiben lernen Meilensteine: Lesen: Zusammmenlauten / Dekodieren direkte Worterkennung Leseverständnis Rechtschreiben: lauttreu orthographisch richtig Colteheart et al., 2001 4
Lesen und Schreiben lernen 1.Wörter werden anhand ihrer hervorstechenden Merkmale erkannt, keine Buchstabenkenntnisse, kein Verständnis der Lautstruktur 2.Fähigkeit der Buchstabe-Laut-Zuordnung (und umgekehrt), Einsicht in die Lautstruktur Jeder Buchstabe wird einzeln dekodiert und dem entsprechenden Laut zugeordnet Lautgetreue Schreibung wird ermöglicht (zu Beginn häufig Skelettschreibungen, Schreibung nur markanter Laute eines Wortes) 3. Lesen: orthographischer Repräsentationen im Gedächtnis führen zu automatischer Worterkennung Schreiben: Aneignung und Anwendung orthographischer Gesetzmäßigkeiten und morphologischen Wissens 5
LESE-RECHTSCHREIBSTÖRUNG
Umschriebene Entwicklungsstörungen F80.- Umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache Artikulationsstörung Expressive Sprachstörung Rezeptive Sprachstörung F81.- Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten Lese-Rechtschreibstörung Isolierte Rechtschreibstörung Rechenstörung Kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten F82.- Umschriebene Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen Umschriebene Entwicklungsstörung der Fein- und Graphomotorik Umschriebene Entwicklungsstörung der Mundmotorik Umschriebene Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen, nicht näher bezeichnet 7
Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten Störung des Fertigkeitserwerb von frühen Entwicklungsstadien an zuvor keine Periode einer normalen Entwicklung keine Folge eines Mangels an Lerngelegenheiten keine Folge einer Intelligenzminderung oder erworbener Hirnschädigungen oder krankheiten Abnahme der Symptomatik mit dem Alter Persistenz spezifische Probleme familiäre Häufung Neurobiologische Ursachen Verlaufsbeeinflussung durch Umweltfaktoren 8
MERKMALE LRS
Lesestörung Schwierigkeiten bei der Laut- und Buchstabenerkennung Schwierigkeiten bei der Lautunterscheidung Probleme beim Erkennen von Buchstaben Probleme beim Einprägen der Buchstabe-Lautbeziehungen Mangelnde Lesegenauigkeit Schwierigkeiten beim Zusammenlauten zu Wörtern (Laute oder Namen der Buchstaben werden nacheinander benannt) Nennen des ersten Buchstabens, dann Raten eines Wortes Auslassen, Ersetzen oder Hinzufügen von Worten oder Wortteilen Ersetzen von Wörtern durch ein in der Bedeutung ähnliches Wort Niedrige Lesegeschwindigkeit Defizitäre Einspeicherung von Worten und Wortteilen (z.b. Silben) Mangelnde Wortidentifikation Startschwierigkeiten beim Vorlesen, langes Zögern oder Verlieren der Zeile Fehlendes Leseverständnis Wiedergabe von Gelesenes nicht möglich Schwierigkeiten des Erkennens von Zusammenhängen aus dem Gelesenen KOMMT AUCH ISOLIERT VOR! Diagnose F81.0! 10
Rechtschreibstörung Probleme beim lautgetreuen Schreiben Segmentierung der Sprechwörter in einzelne Laute schwierig Zuordnung von Lauten zu Buchstaben / Buchstabenkombinationen problematisch Buchstabenfolgen stehen in keinem lautlichen Zusammenhang mit dem zu schreibenden Wort Buchstabenauslassungen, -umstellungen, -hinzufügungen Verwechslung lautlich oder visuell ähnlicher Buchstaben Verschriftlichung von Konsonantenhäufungen schwierig Probleme beim orthografischen Schreiben Merken der korrekten Schreibweise eines Wortes problematisch Fehlerzahl beim Schreiben von Buchstaben, Wörtern und Sätzen sehr hoch Fehlerzahl bei Diktaten sehr hoch Fehlerzahl beim Abschreiben von Texten sehr hoch Grammatik- und Interpunktionsfehler Unleserliche Handschrift 11
Früherkennung Phonologische Bewusstheit: r =.40-.50 und RAN: r =.40 (Georgiou, Parrila & Papadopoulos, 2008; Landerl et al., 2013; Ziegler et al., 2010) Wortschatz und Sprachfähigkeiten: r =.35 -.40 (Ennemoser et al., 2012; Mähler, Bockmann und Hasselhorn, 2010; Scarborough, 1998) Buchstabenidentifikation gilt als starker Prädiktor: r =.50 (Martlew & Sorsby, 1995) Verbales Kurzzeitgedächtnis: r =.40-.50 Lesefertigkeit ist zuverlässigster Prädiktor (schwer im Vorschulalter möglich) Früherkennung anhand erster Leseleistung in der 1. Klasse 12
Häufigkeit Studie N Kriterium Lesen Rechtschreiben von Aster et al., 2007 337 1.5 SD 3.3 5.7 Dirks et al., 2008 799 PR 10 8.0 - Landerl & Moll, 2010 2586 1.5 SD 2.9 4.1 Fischbach et al., 2013 2195 1 SD 4.6 5.7 Moll et al., 2014 1633 1 SD 5.0 5.6 13
VERLAUF
Verlauf Hohe Stabilität der Lese-Rechtschreibleistungen Mit dem Älterwerden Abnahme der Symptomatik Spezifische Probleme bleiben jedoch bis ins Erwachsenenalter bestehen 15
Verlauf der Rechtschreibstörung Nachuntersuchung von LRS-Schülern eines Internats (Schulte-Körne et al. 2003). 16
Leseleistung Verlauf der Lesestörung Connecticut Längsschnittstudie (Shaywitz et al. 1990) Gute Leser Mittlere Leser Leseschwache Alter 17
Schulische Entwicklung Kurz- als auch langfristige Beeinträchtigung des Schul- und Berufserfolges Starke Beeinträchtigung des akademischen Selbstkonzepts Besuchen weniger häufig das Gymnasium Wiederholen häufiger eine Klassenstufe Schulerfolg mit minderbegabten Kindern vergleichbar Arbeitslosenquote deutlich höher Psychische Symptome Verhaltensauffälligkeiten Delinquenz 18
Ursachen 19
LEITLINIE UND EVIDENZBASIERTE FORSCHUNG
Was ist eine Leitlinie? Leitlinie: Erkenntnisstand in systematisch entwickelte Aussagen Orientierungshilfen im Sinne von Handlungs- und Entscheidungskorridoren nicht rechtlich bindend Ziele: Entscheidungsfindung für eine angemessene Diagnostik und Behandlung in spezifischen Krankheitssituationen Förderung der guten klinischen Praxis und Information der Öffentlichkeit Vermeidung unnötiger/schädlicher diagnostischer/therapeutischer Verfahren Stärkung der Stellung des Patienten als Partner im Entscheidungsprozess 21
Was bedeutet Evidenzbasiert? evidence = Nachweis und Begründung der Wirksamkeit einer Maßnahme Evidenzbasierte Diagnostik / Förderung / Behandlung / Therapie = bewusste, ausdrückliche und verständige Nutzung der jeweils besten Evidenz bei der Entscheidung über eine Maßnahme Integration Praxiswissen mit der besten Evidenz aus systematischer Forschung Anwendung der Resultate Überprüfung der eigenen Tätigkeit 22
Evidenzbasierte Forschung - Vorgehen 1. Formulierung einer Fragestellung 2. Literatursuche 3. Formulierung / Anwendung klarer Ein- und Ausschlusskriterien 4. Qualitätsbewertung 5. Zusammenführende Analyse Anwendung der Resultate und Überprüfung der Praxis 23
Die beste Evidenz? Identifikation durch Qualitätsbewertung Ausmaß der Ergebnisverzerrung kann eingeschätzt werden Bei Interventionsstudien: Randomisiert-Kontrollierte Studie: Verhindert Beeinflussung der Ergebnisse durch Selektionsprozess: Patienten werden zufällig in EG bzw. KG verteilt Kein Einblick in das Zufallsverfahren Gleiche Verteilung bekannter / unbekannter Einflussfaktoren Blindtestung Outcomemaße: Verhindert Einflussnahme auf Ergebnisse während der Testung Standardisierte Maße: Objektive, zuverlässige, gültige Einschätzung Gleiche Rahmenbedingungen der EG und KG: Förderumfang, Setting, etc. Selektive Berichterstattung: Nicht alle gewonnenen Daten werden berichtet 24
ENTSTEHUNG DER LEITLINIE Planung und Organisation Literaturarbeit Konsentierung Verabschiedung
S3-Leitlinie: Evidenz- und Konsensbasiert Quelle: AWMF - Selbmann, KLINIK H.-K. UND & POLIKLINIK Kopp, I. B.: FÜR Leitlinien KINDER- im Gesundheitswesen: UND JUGENDPSYCHIATRIE, Kompetenzen PSYCHOSOMATIK und Zuständigkeiten UND PSYCHOTHERAPIE der AWMF erschienen in: Forum DKG 5/06 S. 5ff; S.7 26
EVIDENZBASIERUNG Systematische Literaturrecherche Bewertung Dokumentation
Literaturrecherchen zu folgenden Bereichen DIAGNOSTIK FÖRDERUNG KOMORBIDITÄT Alters- bzw. Klassennormabweichung und / oder Diskrepanzkriterium? Welche Testverfahren zur Erfassung der Lese- Rechtschreibfähigkeit? Welche Testverfahren zur Erfassung der Vorläuferfähigkeiten des Schriftspracherwerbs? Wie wirksam sind verschiedene Interventionen und Interventionsansätze? Einzelförderung oder Gruppenförderung? Welche Interventionsleiter? Ab wann soll gefördert werden? Wie lange soll gefördert werden? Welche Komorbiditäten werden in die Literatursuche eingeschlossen? Prävalenz der Komorbiditäten ADHS, Angst, Depression, Dyskalkulie, AVWS, Sprachstörungen Welche Testverfahren zur Erfassung der Komorbidität? 28
Bewertung der Evidenz Extrem starker Effekt Direkte Adressierung der Fragestellung Methodische Mängel 29
Von der Evidenz zur Empfehlung Evidenzgrad Empfehlungsgrad Empfehlung 1 2 A soll oder soll nicht Starke Empfehlung 3 4 B sollte oder sollte nicht Empfehlung 5 0 kann oder kann verzichtet werden Offene Empfehlung 30
KONSENSBASIERUNG Repräsentative Entwicklergruppe Konsentierung Verabschiedung
Beteiligte Fachgesellschaften/ Verbände 32
Konsensbasierung Entwicklung im Konsens: Fragestellungen Literaturrecherche Formulierung der Empfehlungen Konsensuskonferenz: Identifizierte Evidenz als Grundlage der Empfehlungen Klinische Konsensuspunkte (KKP): Fragestellung ohne Evidenz Geleitete Diskussion und Abstimmung unter neutraler Moderation Zustimmung > 95% = starker Konsens Zustimmung 75% bis 95% = Konsens Zustimmung zwischen 50 bis 75% = mehrheitliche Zustimmung 33
LEITLINIE LRS INHALTE UND EMPFEHLUNGEN
PRÄMISSE
Prämisse Empfehlungen gelten für Kinder- und Jugendliche mit: Lese-Rechtschreibstörung Isolierter Lesestörung Isolierter Rechtschreibstörung Diagnostik: Psychometrischer Leistungstests und klinische Untersuchung Interdisziplinär von Fachleuten Diskrepanz zwischen Leistung und Alters- bzw. Klassennorm ODER Intelligenz Diskrepanz mind. 1 SD bei gleichzeitig unterdurchschnittlichen Leistungen Förderung: Interdisziplinäre Aufgabe (schulische und außerschulische Fachleute) Förderung von Behandlern mit fachlicher Ausbildung und Expertise 36
DIAGNOSTIK DER LESE- UND/ODER RECHTSCHREIBSTÖRUNG
Schulte-Körne, Gerd Diagnostik und Therapie der Lese-Rechtschreib-Störung Dtsch Arztebl Int 2010; 107(41): 718-27; DOI: 10.3238/arztebl.2010.0718 Diagnostik nach ICD-10 ICD-10 empfiehlt IQ-Diskrepanzkriterium Lese- und/oder Rechtschreibleistung wird in Beziehung zum IQ gesetzt Lese- und/oder Rechtschreibstörung liegt vor, wenn die Rechtschreibleistung um einen bestimmten Betrag unterhalb dessen liegt, was auf Grund des IQ zu erwarten ist. 38
Alters-/Klassennormabweichung oder IQ-Diskrepanz? Gibt es Unterschiede zwischen den Diagnosegruppen? Studien / Systematische Reviews prüfen Unterschiede hinsichtlich : neuropsychologischer Verhaltensdaten (z.b.: Phonologie, Automatisierungsleistung, Aufmerksamkeit, Rechenfertigkeiten) Therapierbarkeit Störungsverlauf Genetik: Studie zur Heritabilität und Studie zur Häufigkeitsrate bei Verwandten ersten Grades keine belegbaren Unterschiede keine Klassifizierung unterschiedlicher Diagnosegruppen Infragestellung des IQ-Diskrepanzkriteriums 39
Diagnostik nach Leitlinie LRS Wesentliche Punkte: Die Diagnose beruht auf psychometrischen Leistungstests und der klinischen Untersuchung Ausschluss von intellektuellen Einschränkungen, einer allgemeinen Entwicklungsverzögerung, Seh-oder Hörstörungen, unzureichender Beschulung sowie psychischen, neurologischen oder motorischen Störungen Diskrepanz zwischen dem Lese-und/oder Rechtschreibniveau und der Altersnorm, der Klassennorm ODER der Intelligenz Diskrepanz 1,5 SD bei gleichzeitig unterdurchschnittlichen Leistungen Diskrepanz 1,0 SD wenn klinische und psychometrischen Untersuchung die Schwierigkeiten bestätigen 40
Alters-/Klassennormabweichung oder IQ-Diskrepanz 1 SD TW 40 1,5 SD TW 35 Alters-/Klassennorm IQ TW 40 UND IQ-Diskrepanz 1 SD Bsp.: TW 40 und IQ 100 TW 40 UND IQ-Diskrepanz 1,5 SD Bsp.: TW 40 und IQ 119 oder IQ 100 und TW 35 41
Diagnostik der Lese-Rechtschreibstörung Klinische Diagnostik Psychometrische Diagnostik 42
Klinische Diagnostik Berücksichtigt: Allgemeinen Entwicklung Sprachliche Entwicklung Motorische Entwicklung Intelligenz Seh- und Hörleistung Aufmerksamkeit und Konzentration Sozialverhalten Psychische/Psychosomatische Beschwerden Komorbiditäten ADHS Sprachstörungen Dyskalkulie Angststörungen Depression Störungen des Sozialverhaltens Soziale Umfeld Familie Schulsituation Eingliederung in das soz. Umfeld 43
Psychometrische Diagnostik Lesegeschwindigkeit Lesegenauigkeit Leseverständnis Lauttreues Schreiben Orthographisches Schreiben 44
Psychometrische Verfahren aber welches? WLLP-R LESEN 6-7 LGVT 6-13 LGVT 6-12 HSP 1-10 ELFE 1-6 SLRT II 45
Identifikation und qualitative Bewertung Systematische Recherche ergab 23 Testverfahren. Bewertung: DIN 33430 Checkliste V1-140 Aussagen mit Anforderungen an Verfahrenshinweise - Kürzung mit 60 Aussagen - Prüfung durch zwei Gutachter - Anschließend Testbeurteilung - Testbeurteilung anhand zentralen Informationen 46
Testauswahl methodische Qualität Normierung Validität Objektivität Reliabilität 47
Normierung Die Normstichprobe hat den Anspruch eine Miniaturausgabe der Gesamtpopulation zu sein, dazu muss sie alle relevanten Merkmale der zugrunde liegenden Population repräsentieren. Was ist zu beachten? Aktualität der Normwerte Die Angemessenheit der Normwerte sollte alle acht Jahre überprüft werden Repräsentativität der Normwerte Normstichprobe muss der Zielpopulation des Verfahrens entsprechen und die Normierung wurde in mehreren Bundesländern/Regionen durchgeführt Normstichprobe pro Altersbereich/Normierungszeitraum 250 Personen Je mehr Personen umso genauer die Messung. Schätzung ab 250 Personen für den Bereich der deutlichen Auffälligkeiten (T-Wert = 25-35) einigermaßen genau 48
Normierung 49
Objektivität Wie unabhängig sind die Testergebnisse vom Untersucher? Was ist zu beachten? Objektive Durchführung Detaillierte Angaben (möglichst im Wortlaut) zur Durchführung Objektive Auswertung Auswertung durch Lösungsschemata Objektive Interpretation Interpretationsobjektivität durch Grenz-/Standardwerte Verschiedene Personen müssen in der Lage sein, das Verfahren in vergleichbarer Weise durchzuführen, auszuwerten und zu interpretieren. 50
Reliabilität Wie zuverlässig und verlässlich misst ein Test ein Merkmal? Was ist zu beachten? Innere Konsistenz: Items / Aufgaben müssen dieselbe Leistung oder Fähigkeit messen. Split-Half-Reliabilität: Die Ergebnisse der Hälfte aller Items / Aufgaben müssen mit der anderen Hälfte übereistimmen. Paralleltestreliabilität: Parallelformen desselben Tests müssen übereinstimmen. Retest-Reliabilität: Der gleiche Test sollte zu verschiedenen Zeitpunkten zu ähnlichen Ergebnissen führen. Die Zuverlässigkeit der Diagnose kann nur über die Retest- Reliabilität abgeschätzt und gewährleistet werden. 51
Inhaltsvalidität Validität Misst ein Test das Merkmal, das er zu messen vorgibt? Was ist zu beachten? Die Items repräsentieren direkt die zu messenden Fähigkeiten. Kriteriumsvalidität Zusammenhang des Test mit einem Kriterium, mit dem der Test Messanspruchs in Verbindung stehen sollte. Konstruktvalidität Misst ein Test auch den Leistungsbereich, den er zu messen beansprucht? aufgrund seines Es werden Verfahren zur Validierung verwendet, die eine ähnliche diagnostische Fragestellung und Zielgruppe verfolgen. 52
Testauswahl Zusammenfassung Wer soll getestet werden? Alter, Schulform, Regionalität? Was soll getestet werden? Lesegenauigkeit, -geschwindigkeit, -verständnis orthographisches oder lautgetreues Schreiben? Mit einem Test, der: die individuellen Leistungen verlässlich relativiert. den relevanten Leistungsbereich misst. objektiv durchgeführt, ausgewertet und interpretiert werden kann. eine verlässliche Diagnose ermöglicht. 53
Testbeurteilung Leitlinie LRS Theoretische Grundlagen des Verfahrens sind ausführlich beschrieben: Das theoretische Konzept muss erkennbar sein Die Normwerte entsprechen der Referenzgruppe der Zielgruppe: Normstichprobe entspricht Zielpopulation und Normierung in mehr als zwei Regionen Objektive Durchführung, Auswertung und Interpretation: Detaillierte Angaben (möglichst im Wortlaut) zur Durchführung, Auswertung durch Lösungsschemata, Interpretationsobjektivität durch Grenz-/Standardwerte Die Zuverlässigkeit wurde über die Retest-Methode bestimmt: Nur Retest-Reliabilität ermöglicht Schätzung der Zuverlässigkeit und Stabilität der Diagnose Validitätsbestimmung berücksichtigt die Fragestellung und Zielgruppe: Verfahren zur Validierung verfolgt ähnliche diagnostische Fragestellung und Zielgruppe Normstichprobe pro Altersbereich/Normierungszeitraum 250 Personen: Je mehr Personen umso genauer die Messung. 54
Leitlinienempfehlung: Lese- und Rechtschreibtests Folgende Testverfahren sollen eingesetzt werden: ELFE 1-6 LGVT 6-13 Lesen 6-7; Lesen 8-9 SLRT II WLLP-R DERET 1-2+; DERET 3-4+ HSP 1-10 WRT 1+; WRT 2+; WRT 3+; WRT 4+ 55
Lesegeschwindigkeit WLLP-R SLRT II LGVT 5-13 LESEN 6-7 u. 8-9 Lesegenauigkeit SLRT II Leseverständnis ELFE 1-6 LGVT 5-13 LESEN 6-7 u. 8-9 Lauttreues Schreiben SLRT II DERET Reihe HSP 1-10 WRT-Reihe Orthographisches Schreiben DERET-Reihe, HSP, SLRT II WRT-Reihe RST-ARR 56
Welche Normen? Dauer der Beschulung von Bedeutung: Klassennormen vor Altersnormen! Lese-Rechtschreibstörung = Abweichung von der Norm Rechtschreibleistung unterscheidet sich stark zwischen den Schulformen Relativierung an der eigenen Norm 57
FÖRDERUNG
Welche Interventionsansätze und Interventionsmaßnahmen sind wirksam?
Welche Methoden wurden Identifiziert Verfahren zur Förderung von Lese-Rechtschreibleistungen und Vorläuferfähigkeiten Verfahren zur Förderung der Phonologischen Bewusstheit Lesetrainings Rechtschreibtrainings Kompensatorische Maßnahmen Methoden zur Textoptimierung Verfahren zur Beseitigung basaler Faktoren Auditive Funktionstrainings Visuelle Funktionstrainings etc Medikamentöse Behandlungen Piracetam Nahrungsergänzungsmittel Esoterische/Alternativmedizinische Verfahren 60
Methoden ohne nachgewiesene Wirksamkeit Wahrnehmungs- und Funktionstrainings Neuropsychologischer Hemisphärenstimulation Piracetam Irlen Linsen Prismen Brillen Alternativmedizinische Verfahren Nahrungsergänzungsmittel Motorische Übungen Visuelles Biofeedback Die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Lese- und / oder Rechtschreibstörung soll an den Symptomen der Lese- und / oder Rechtschreibstörung ansetzen. Monokulare Okklusion 61
Förderung der phonologischen Bewusstheit Identifizieren, Kategorisieren, Segmentieren, Streichen, Verbinden oder Diskriminieren von Silben und Phonemen Einsicht in die phonologische Sprachstruktur rein verbal National Reading Panel (2000): vorschulisch d = 0,86; schulisch d = 0,45 Wirksam bei Defiziten im Verständnis der Phonemstruktur Kontakt mit Schriftsprache ermöglicht vollständige Einsicht keine Verbesserung der Lese- und/oder Rechtschreibleistungen bei Kindern mit LRS (Ise et al. 2012; Galuschka et al. 2014) 62
Graphem-Phonem-Korrespondenz (vice versa) u. Wortteilsynthese Instruktion der Graphem-Phonem-Korrespondenz Synthese von Wortteilen (Phoneme, Silben, Morpheme) Phonem-Graphem/Graphem-Phonem-Korrespondenz ist Schlüsselkompetenz: ermöglicht lautgetreue Lesefähigkeit und lautgetreues Schreiben Wortteilsynthese: fördert das Erkennen größerer Wortteile (Aufbau Sichtwortschatz) Automatische Worterkennung (Ehri, Nunes, Stahl & Willows, 2001; McArthur et al., 2012). 63
Lesetrainings auf Ganzwortebene wiederholtes, lautes oder leises Lesen ganzer Wörter keine Übungen zur Wortteilsynthese Ziel: Automatisierung des Lesens Erweiterung des Sichtwortschatzes flexible Anwendung von Lesestrategien Scammacca, et al. 2007: d = 0.26 (n = 4; 95% KI [-0.08; 0.61]) Kontrollierte Studie Ecalle et al., 2009: Ganzwortlesetraining im Vergleich zu Graphem-Phonem-Korrespondenz: Wortlesen d = -0,94, im Pseudowortlesen d = - 0,55; Lesen regelwidriger Wörter d = 0,12 64
Leseverständnistrainings Extrahieren und Zusammenfassen von Informationen aus Texten Mit bereits vorhandenem Wissen verknüpfen Keine Wirksamkeit bei Kindern- und Jugendlichen mit Lese- und/oder Rechtschreibstörung. Effektivität zeigt sich bei Probanden mit Leseleistungen im unteren Durchschnitt oder reinen Leseverständnisdefiziten. Diagnostisch klären: Leseverständnisdefizite durch mangelnde Anwendung von Textverständnisstrategien/ Schwächen in rezeptiven und expressiven Sprachfertigkeiten ODER durch Defizite in der Leseflüssigkeit? 65
Empfehlung: Förderung Interventionsmaßnahmen sollen Übungen zur Graphem-Phonem und Phonem-Graphem- Korrespondenz, zum Segmentieren einzelner Wörter in ihre Phoneme, Morpheme, Silben oder Onset und Silbenreim sowie zum Verbinden von Phonemen zu einem Wort enthalten. 66
Rechtschreibförderung Grundkompetenz für orthographischen Schreibfähigkeit: Phonem-Graphem-Korrespondenz Phonem-Graphem-Korrespondenz nicht ausreichend Wissen über orthographische Gesetzmäßigkeiten notwendig Orthographische Regeln: Verdopplung (Ball, Sonne ), H-Dehnung (Sahne, Rahm ), ie-dehnung (Sieb, Liebe ), Hiatus (drehen, Ruhe ) etc Morphologie Derivation (durch Grundmorpheme (Lexeme) und grammatische Morpheme (Affixe) werden neue Wortformen) Flexion (grammatikalisch bedingte Formveränderungen, z.b. Verbkonjugation) Der Kontakt mit Gesetzmäßigkeiten und Regelmäßigkeiten: ermöglicht Kontrollkonzepte zielt auf einen Transfereffekt und eine Generalisierung ermöglicht regelkonforme Rechtschreibung 67
Wortspeichertrainings Durch Auswendiglernen der Schreibweise soll die Rechtschreibfähigkeit verbessert werden: Erfolge bei irregulär zu verschriftlichenden und geübten Wörtern Keine Transferleistungen und allgemeine Verbesserung des orthographischen Schreibens (Berninger, et al., 2008; Spencer et al., 1989) NUR bei Ausnahmewörtern sinnvoll!!! 68
Leitlinienempfehlungen: Rechtschreibförderung Interventionsmaßnahmen sollen Übungen zur Graphem- Phonem und Phonem-Graphem-Korrespondenz, zum Segmentieren einzelner Wörter in ihre Phoneme, Morpheme, Silben oder Onset und Silbenreim sowie zum Verbinden von Phonemen zu einem Wort enthalten. Rechtschreibtrainings sollen Instruktionen zum Aufbau von orthographischen Regelwissen enthalten. 69
FÖRDERPROGRAMME
Evaluierte Förderprogramme: Lesen Flüssig lesen lernen Kieler Leseaufbau Tacke (2009) Dummer- Smoch und Hackethal (2007) Das Programm beginnt mit einem Training zur phonologischen Bewusstheit, woraufhin eine Einübung der Graphem-Phonem- Beziehung und ein Training zum Zusammenschleifen von Buchstaben zu Silben und Wörtern folgt. Darüber hinaus ist das Training durch Leseübungen gekennzeichnet, in denen die Silben des Wortmaterials optisch gekennzeichnet sind. Der Kieler Leseaufbau enthält Übungen zur Phonem-Graphem- Zuordnung sowie zur Silbenanalyse. Das Wortmaterial ist in aufeinander aufbauenden Schwierigkeitsstufen gegliedert. Das Lesen der Kinder kann durch Lautgebärden begleitet werden. Lautgetreue Lese- und Rechtschreib förderung Reuter-Liehr (2008) Die Förderung beinhaltet Lese- und Sprechübungen, die auf Grundlage der rhythmischen Silbensegmentierung Kindern dabei helfen soll, längere zusammengesetzte Wörter in kleinere Einheiten zu gliedern. Erste Lesefähigkeiten (Phonem-Graphem-Korrespondenz und Phonemsynthese) werden vorausgesetzt. 71
Evaluierte Förderprogramme: Rechtschreiben PHONIT Marburger Rechtschreib training Stock und Schneider (2011) Schulte-Körne & Mathwig, 2013 MORPHEUS Kargl und Purgstaller (2010) Lautgetreue Lese- Rechtschreib förderung Reuter-Liehr (2008) Das Programm enthält vorrangig Übungen zur Förderung der phonologischen Bewusstheit, beinhaltet jedoch auch Aufgaben zu Buchstaben-Laut- Verbindungen. Das Programm ist auf die Verbesserung der Rechtschreibung fokussiert, enthält jedoch neben phonologischen Schreibspielen und Schreibübungen zu verschiedenen Rechtschreibregeln (z.b. Konsonantendopplung, Dehnungs-h, ie-schreibung, Auslautverhärtung) auch Leseübungen. Das MRT trainiert den Aufbau und Einsatz des orthographischen Regelwissens. Das Programm besteht aus 12 Kapiteln, die in einen Anleitungs-, einen Lernund einen Übungsbereich gegliedert sind. Zusätzlich sind im Anhang Arbeitsund Lernmaterialen zusammengestellt. Das Programm richtet sich Schwerpunktmäßig an Kinder der 2. bis 4. Klasse. Bei diesem Programm wird das Segmentieren hochfrequenter Morpheme in unterschiedlichen Schwierigkeitsstufen trainiert. Das Programm besteht darüber hinaus aus Wortbaukästen und handschriftlich auszufüllenden Übungsblättern. Die Förderung beinhaltet Lese- und Sprechübungen, die auf Grundlage der rhythmischen Silbensegmentierung Kindern dabei helfen soll, längere zusammengesetzte Wörter in kleinere Einheiten zu gliedern. Erste Lesefähigkeiten (Phonem-Graphem-Korrespondenz und Phonemsynthese) KLINIKUM DER UNIVERSITÄT MÜNCHEN werden vorausgesetzt. 72
TEXTMATERIAL
Textpräsentation Größerer Buchstaben- Wort und Zeilenabstände Vergrößerung um 2.5 pt führte zu Steigerung Lesegeschwindigkeit (0,3 Silben pro Sekunde) (Zorzi et al., 2012) Größere Schrift Kinder mit schwachen Leseleistungen benötigen um ca. 32% größere Schrift (O Brien, 2005) Textpräsentation Weniger Wörter in Zeile: maximal drei Wörter pro Zeile (Scheps et al. 2010; 2013a,b) Schriftart: keine Serifen (Rello et al., 2012) Fett gedruckt: negative Auswirkung auf die Lesegeschwindigkeit (Rello et al., 2012) 74
Empfehlung Für Kinder und Jugendliche mit LRS sollen Lesematerialien mit vergrößerter Schrift und breiteren Buchstaben- Wort- und Zeilenabständen ausgewählt werden. 75
INTERVENTIONSUMFELD
Ab wann? Leichter Betroffene profitieren stärker von einer Förderung (Galuschka et al., 2014) Lesetrainings zeigen innerhalb des ersten Unterrichtsjahres die größten Effekte (National Reading Panel, 2000) Förderung so früh wie möglich! 77
Interventionsumfeld Je länger eine Förderung andauert umso effektiver (Galuschka et al., 2014; Ise et al., 2012; National Reading Panel, 2000) Keine Unterschiede zwischen Einzelsetting und Gruppensetting Individuell nach Kind entscheiden! Professionalisierung der Interventionsleiter kann Einfluss haben (Ise et al., 2012) 78
Empfehlungen der Leitlinie Förderung so früh wie möglich Einzelsitzungen oder Kleingruppen ( 5 Personen). Entscheidung fällt in Abhängigkeit von Komorbiditäten und individuellem Störungsbild. Förderung durch Therapeuten mit ausgeprägter Expertise Dauer der Förderung bis zu dem Zeitpunkt, zu welchem die Lese- und Rechtschreibfähigkeit eine altersgerechte Teilhabe am öffentlichen Leben ermöglicht Verlaufsuntersuchungen zur Indikationsüberprüfung (jährlich) 79
KOMORBIDITÄT
Komorbidität Systematische Literaturrecherche zu: Hyperkinetische Störung bzw. Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung Angststörung Depression Rechenstörung Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung Expressive und rezeptive Sprachstörung 81
Prävalenz Komorbiditäten Dyskalkulie: 2,5-8% der Kinder zeigen Rechenstörung und LRS Risiko circa um ein Vierfaches erhöht! ADHS: 9-18 % der Kinder und Jugendlichen mit Lesestörung zeigen ADHS Risiko circa um ein Vierfaches erhöht! Angst: Erhöhtes Risiko: 3- (allg.angststörung) bis 6- (soz. Phobie) fach so hoch! 82
Prävalenz Komorbiditäten Depression: Keine eindeutig signifikante Häufung feststellbar. Aber: Keine Studie mit unselektierter Stichprobe aus Deutschland Sprache: Sprachfähigkeiten als Prädiktor einer LRS Bei 55% der Stichprobe mit Lesestörung auch eine Sprachstörung AVWS: Eine Prävalenzstudie mit selektierte Stichprobe: keine erhöhtes Risiko 83
Empfehlung Bei der Diagnostik soll eine diagnostische Überprüfung erfolgen, ob eine ADS/ADHS Angststörung oder Rechenstörung vorliegt. Es sollte eine diagnostische Überprüfung erfolgen, ob eine expressive / rezeptive Sprachstörung vorliegt. Es kann eine diagnostische Überprüfung erfolgen, ob eine Depression AVWS vorliegt 84
ZUSAMMENFASSUNG dd
Leitliniengerechte Diagnostik 86
Leitliniengerechte Förderung 87
EVIDENZ- UND KONSENSBASIERUNG Potential und Schwierigkeiten
Evidenz- und Konsensbasierung wissenschaftliche / klinische Legitimation gleichermaßen bedeutsam Evidenz bildet Basis der Leitlinie Konsens prüft Praktikabilität und füllt Lücken Vereinbarkeit von Evidenz und Konsens: Forschungsseite (Evidenz): - Praxisnahe, Anwenderbezogene Forschung - Forschungslücken schließen Konsensbildung: - Einsicht Aller in wissenschaftliches Arbeiten / das evidenzbasierte Vorgehen - Reduzierung von Interessenskonflikten / berufspolitischen Interessen - Hauptinteresse gilt Zielgruppe der Leitlinie 89
FRAGEN / ANREGUNGEN / KRITIK?!
Vielen Dank für Ihr Interesse Kontakt Dr. Katharina Galuschka Pädagogin, M.A. Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie Klinikum der Universität München Waltherstraße 23 80337 München Tel.: 089/440055926 E-Mail: Katharina.Galuschka@med.uni-muenchen.de