e.v. Leitlinie Ulcus cruris venosum 2006 Schutzgebühr 5,00 Euro 1
Initiative Chronische Wunden e.v. Vorwort zur Leitlinie Ulcus cruris venosum der Initiative Chronische Wunden e.v. In den letzten Jahren ist die Bedeutung chronischer Wunden, sowohl als medizinisches Problem als auch in finanzieller Hinsicht, immer mehr erkannt worden. Die medizinischen Fachgesellschaften haben sich aus ihren jeweiligen Arbeitsgebieten heraus der Problematik zugewandt. Die immer schon sehr engagierten pflegerischen Berufsverbände behandeln kontinuierlich das Thema chronischer Wunden in ihren Fortbildungen. Die Kostenträger erkennen zunehmend die Bedeutung einer sachgerechten Diagnostik und Therapie und die hiermit verbundenen Chancen für Einsparungen im Gesundheitswesen. Modelle der Vernetzung und integrierten Versorgung befinden sich in der Erprobung. In dieser Situation legt die Initiative Chronische Wunden e.v. eine Neuauflage ihrer Leitlinie zum venösen Beingeschwür vor. Die seit Jahren für eine bessere Versorgung der Patienten mit chronischen Wunden kämpfende Initiative widmet sich hier der grössten Gruppe (60 80%) dieser Erkrankungen. Dem Autor Herrn Dr. Pelzer gebührt erneut Anerkennung für die umfassende Behandlung des Themas. Sowohl die Entstehungsmechanismen als auch die derzeit verfügbaren Verfahren der Diagnostik und Therapie werden ausführlich vorgestellt. Aus pflegerischer Sicht fassen Frau K.Protz und Frau A. Bültemann die wichtigsten Aspekte zusammen und widmen sich umfassend den Möglichkeiten der modernen Lokaltherapie. Sie zeigen damit die Wichtigkeit der genauen Kenntnis unterschiedlicher zur Verfügung stehender Materialien auf und demonstrieren eindrücklich die zentrale Rolle, die erfahrene Pflegefachkräfte in der Therapie chronischer Wunden e.v. einnehmen. Die Kooperation verschiedener Berufsgruppen in diesem komplexen Arbeitsfeld ist ein zentrales Anliegen der Initiative Chronische Wunden e.v.. Die vorliegende Arbeit richtet sich somit sowohl an pflegerische und ärztliche Therapeuten als auch an Entscheidungsträger in Krankenkassen, Berufsgenossenschaften und Kliniken. Wie den bisherigen Auflagen der Leitlinien ist auch der vorliegenden eine möglichst weite Verbreitung zu wünschen, um den bereits in der Wundversorgung tätigen eine kompetente Aktualisierung ihrer 2
Kenntnisse zu ermöglichen und die bisher noch nicht engagierten Kollegen auf die Bedeutung des Themas und die Wichtigkeit einer sachgerechten Behandlung hinzuweisen. Hamburg, im August 2006 Dr.med.Karl-Christian Münter Facharzt für Allgemeinmedizin/Phlebologie Herausgeber: Initiative Chronische Wunden e.v. Kuhtor 2 37170 Uslar-Sohlingen Fon +49 (0) 55 71 30 29 31 5 Fax +49 (0) 55 71 30 29 31 9 E-mail: ICWunden@t-online.de Internet: www.icwunden.de Satz und Layout: Gerhard Schröder Druck: Mugler Druck GmbH, Wüstenbrand Fotos: Zuder 4. korrigierte Auflage, 2006 3
Initiative Chronische Wunden e.v. Inhaltsverzeichnis 1 Definition 8 2 Epidemiologie 9 2.1 Kosten 10 3 Pathophysiologie des Ulcus cruris venosum 10 4 Diagnostik 12 4.1 Anamnese 12 4.2 Klinische Untersuchung 13 4.2.1 Wunddokumentation 13 4.2.2 Funktionstest 14 4.3 Doppler-Ultraschall 14 4.4 Farbkodierte Duplexsonografie 15 4.5 Phlebographie 16 4.6 Licht-Reflexions-Rheographie (LRR) 18 4.7 Phlebodynamometrie 21 4.8 Kapillarmikroskopie 22 4.9 Laser Doppler Fluxmetrie 23 4.10 Transkutaner Sauerstoffpartialdruck (tcpo2) 23 4.11 Probebiopsie 24 4.12 Serologische Untersuchungen 24 4.13 Mikrobiologische Untersuchungen 24 5 Therapie 24 5.1 Kompressionstherapie 24 5.2 Operative Therapie 27 5.2.1 Operationsverfahren 30 5.2.2 Operatives Vorgehen bei Rezidivvarikose 32 5.3 Lokale chirurgische Maßnahmen b. Ulcus cruris 34 5.4 Operationsbegleitende Maßnahmen 35 5.4.1 Nachbehandlung 35 5.5 Konservative Wundbehandlung 40 5.5.1 Wundverbände 41 5.5.2 Produkte zum routinemäßigen Einsatz 42 5.5.2.1 Produkte zum Einsatz bei infizierten Wunden 45 5.5.2.2 Wundauflagen zur Geruchsneutralisierung 47 5.5.2.3 Spezielle Wundauflagen 47 5.5.3 Débridement 51 5.5.4 Therapie exogen hemmender Einflüsse 53 5.5.5 Physikalische Therapie 55 5.5.6 Apparativ intermittierende Kompression 58 4
5.6 Systemische medikamentöse Therapie 60 5.7 Pflegeplanung 63 6 Pflegerische Aspekte 63 6.1 Ulcus cruris Venosum 65 6.1.1 Entstehung des Ulcus Cruris venosum 65 6.2 Ursachen der Chronischen venösen Insuffiziens 67 6.2.1 Krampfaderleiden (primär Varikosis) 67 6.2.2 Thrombose der tiefen Beinvenen (Phlemothrombose/post-thrompotisch) 67 6.2.3 Oberflächliche Thrombophlebitis 67 6.2.4 Großflächige Verletzung (Trauma) 68 6.2.5 Die chronisch venöse Insuffizienz (CVI) 68 6.2.6 Komplikationen 68 6.3 Anamnese und Diagnostik 68 6.4 Therapie 69 6.4.1 Lokale Ulkustherapie (s. Kapitel 5.5) 70 6.4.2 Konsequente Kompressionen Ausschlaggebend für die Heilung 70 6.4.2.1 Prinzipien der Kompressionen 71 6.4.2.2 Materialien zur Kompressionstherapie 71 6.4.2.3 Das Anlegen der Kompressionen 72 7 Literatur 77 5
Initiative Chronische Wunden e.v. 1 Definition Das Ulcus ist ein Substanzverlust, der bis in die Dermis (Lederhaut) der Haut reicht. Das venöse Ulcus cruris wird durch eine primäre oder sekundäre Varikosis, einer primären Perforansinsuffizienz oder auch häufig durch ein Postthrombotisches Syndrom verursacht. Diese Ulzera befinden sich meist im unteren Drittel des Unterschenkels im supramalleolären Bereich des medialen Knöchels. Charakteristisch ist die konstant erhöhte venöse Hypertonie. Die chronisch venöse Insuffizienz (CVI), welche zur Ulcusentstehung führt, wird nach Widmer [50] in 3 Schweregrade eingeteilt: Die Widmerklassifikation ist weit verbreitet und bezieht sich ausschließlich auf die sicht- und tastbaren Hautveränderungen. Grad I Grad II Grad III Corona phlebectatica, Ödem subfascial (Knöchelödem) Epi- und subfasciales Ödem (Unterschenkelödem), Stasis dermatitis, Dermatosklerose, Pigmentverschiebungen, atrophie blanche (weiße Hautstellen v.a. im Knöchelbereich), Purpura jaune d`ocre (bräunliche Hautverfärbungen) Florides oder abgeheiltes Ulcus cruris International gängig ist die CEAP-Klassifikation, die zusätzlich anatomische, ätiologische und pathophysiologische Aspekte enthält. Grundlage für die Einteilung ist eine vorangehende klinische Untersuchung, um den Zustand der Venen zu erfassen. C (Clinical signs): bilden die sicht- und tastbaren äußerlichen Veränderungen und Schädigungen ab C0 - keine Anzeichen C1 - Besenreiser, reticuläre Varizen C2 - Varizen C3 - Ödem C4 - Hautveränderungen (Dermatoliposklerose, Pigmentation, Stauungsekzeme) C5 - abgeheiltes Ulcus C6 - florides Ulcus In den C-Klassen finden sich Vergleichbarkeiten mit der Gradeinteilung nach Widmer. 8
E (Etiologic): Ätiologische Klassifikation EC - kongenital (angeboren) EP - primär ES - sekundär A (Anatomic): bildet die anatomische Verteilung ab AS - oberflächlich AD - tief AP- Perforans P (Pathophysiologic): bildet den pathphysiologischen Befund ab PO - Obstruktion PR - Reflux POR - Obstruktion und Reflux Ein Ulcus, das nicht innerhalb von 12 Monaten Heilungstendenz zeigt, gilt als therapieresistent [3]. 2 Epidemiologie und sozioökonomische Daten In den letzten Jahrzehnten wurden viele epidemiologische Daten in zahlreichen Ländern zu chronischen Venenleiden zusammengetragen. Bei der Beurteilung der Daten ergeben sich häufig Probleme bezüglich der vergleichbaren Auswertbarkeit. Häufig werden für die chronisch venöse Insuffizienz oder Varikosis nicht gleichwertige Definitionen verwendet. Zum anderen sind die Patientenkollektive nicht identisch und variieren von Erhebung zu Erhebung. Die Daten zeigen jedoch eindrücklich, dass die chronischen Venenkrankheiten weiterhin zu den häufigsten Erkrankungen zählen. Frühzeitige Diagnostik und Therapie können ein Fortschreiten der Venenerkrankung in höhere Schweregrade aufhalten. Dies belegen die Zahlen eindrucksvoll. In den letzten 20 Jahren ging die Prävalenz des Ulcus cruris in schweren Krankheitsbildern zurück. Chronische Venenkrankheiten sind nicht frauenspezifisch. Männer leiden ebenso häufig unter den Zeichen einer fortgeschrittenen CVI. Daten zur Ermittlung der volkswirtschaftlichen Bedeutung chronischer Wunden in Deutschland sind noch nicht ermittelt worden. Nach Schätzungen wird eine Prävalenz von 1,5 2% der Gesamtbevölkerung veranschlagt. Daraus ergeben sich jährliche Kosten 9
Initiative Chronische Wunden e.v. von ungefähr 1 bis 1,25 Millarden Euro. Nicht berechenbar ist das grundsätzliche Leid der Betroffenen, die neben Schmerzen, Verlust der Lebensqualität auch eine soziale Isolation erleiden müssen. 2.1 Kosten Bereits 1980 beliefen sich die Krankheitskosten in den alten Bundesländern auf 1,3 Milliarden DM und stiegen bis 1990 auf 2 Milliarden [11]. Am kostenträchtigsten sind dabei die indirekten Arbeitsausfallkosten: 1990 gingen der Volkswirtschaft rund 12.800 Arbeitsjahre aufgrund von Venenerkrankungen verloren, woraus Produktionsausfälle im Wert von 536 Millionen DM resultierten. Unter den direkten Kosten dominieren die GKV-Aufwendungen für die stationäre bzw. ambulante Versorgung mit 503 bzw. 468 Millionen DM sowie die Arzneimittelaufwendungen mit 413 Millionen DM. Die jährlichen Kosten für jeden Ulcuspatienten werden in England mit 1.067 bis 1.641 veranschlagt, in den USA mit 40.000 US$ [55].) 3 Pathophysiologie des Ulcus cruris venosum Im Rahmen einer primären oder sekundären Varikosis, einer primären Perforansinsuffizienz oder häufig als klinisches Hauptsymptom eines postthrombotischen Syndroms entsteht eine venöse Stase mit Erhöhung des Venendrucks. Hilfsmechanismen für die Venenfunktion sind Venenklappen, Atemmechanik, Herzaktion, Muskel- und Fußsohlenpumpe. Die Venenklappen können im Rahmen einer primären Varikosis durch konstitutionelle bzw. familiäre Belastung, beeinflusst durch stehende oder sitzende Tätigkeit, Adipositas, Schwangerschaft, chronische Obstipation, Hormone und Alter sowie im Rahmen einer sekundären Varikosis durch Thrombophlebitis, Unfälle, Operationen, äußere Obstruktion der Venen (Tumore, Schwangerschaft, Knochensporn), Klappen- und Angiodysplasien, arteriell-venöse Shunts und Phlebothrombose im Beinbereich geschädigt sein. Lungen- und Herzerkrankung sowie Zwerchfelllähmung führen zur Störung der Atemmechanik und Herzaktion. Muskelerkrankungen, Nervenlähmungen und 10
Gelenkerkrankungen bedingen den Ausfall der Muskel- und Fußsohlenpumpe. Versagen eine oder mehrere Hilfsmechanismen, resultieren diese in der venösen Insuffizienz [47, 48]. Durch Betätigung der Venenmuskelpumpen wird dieser erhöhte Druck auf die peripheren Venen und deren vorgeschalteten Venolen und Kapillaren der Haut fortgeleitet. Eine Druckentlastung, die beim intakten Venensystem vorhanden ist, fehlt beim Patienten mit chronisch-venöser Insuffizienz. Es herrscht eine chronisch venöse Hypertonie, die entscheidend für alle pathophysiologischen Ereignisse im Verlauf ist. Durch den erhöhten Druck kommt es zur Erweiterung und Verformung der Kapillaren mit vermehrter Durchlässigkeit für Makromoleküle wie Fibrinogen und korpuskulärer Bestandteile wie Erythrozyten und Leukozyten. Die Erythrozyten, Träger des Sauerstoffs, verlassen das Gefäß und werden in der Dermis zwischen den Kollagenfasern abgelagert. Die phagozytierenden Makrophagen führen zum Zellabbau. Durch oxidative Prozesse wird das Hämoglobin in Hämosiderin umgewandelt, welches als Pigmentschollen in der Dermis zurückbleibt. Klinisch wird die Pigmentablagerung als bräunliche Verfärbung der Haut (Dermatite ocre) sichtbar. Mit dem Erythozytenzerfall kommt es zu einer vermehrten Freisetzung von Eisen, welche sich im Interstitium ablagert und ihrerseits zur Freisetzung von gewebstoxischen Radikalen mit bindegewebigem Umbau der Dermis führt. Die venöse Hypertonie führt in den Kapillaren zur Strömungsverlangsamung. Maßgeblich sind neben den Erythrozyten die Granulozyten beteiligt. Die Granulozyten heften sich reversibel an die Gefäßwände und steuern die Fließeigenschaften in der Mikrozirkulation. Durch ihre Aktivierung werden Mediatoren freigesetzt, die ihrerseits die Gefäßdurchlässigkeit steigern. Vermehrte lymphpflichtige Eiweiße treten aus und könnten bis zu einem gewissen Grad durch Steigerung der Lymphangiomotorik kompensatorisch abtransportiert werden. Bei Persistenz des pathologischen Prozesses kommt es zu einer Dekompensation und Ödembildung. Gleichzeitig wird das vermehrt austretende Fibrinogen biochemisch in Fibrin polymerisiert und formiert sich manschettenartig um die Kapillaren. Hierdurch erfolgt eine Behinderung der Sauerstoffdiffusionsstrecke aus den Kapillaren in das Interstitium. Das perikapilläre Fibrin dient als Proliferationsreiz für Fibroblasten zur vermehrten Synthese von jungem Kollagen ins Interstitium. Folge ist eine vermehrte Fibrosie- 11