am Beispiel der Türkischen Republik
Gliederung I. Forschungsinteresse und Vorüberlegungen II. Daten zur Türkei Gehört das Christentum zur Türkei? III. Welche Religionsfreiheit? IV. Die Voraussetzungen eines Beitritts zur EU V. Die Religionsfreiheit nach dem europäischen Grundrechtsstandard VI. Die Religionsfreiheit im türkischen Recht VII. Praktische Probleme VIII. Fazit
I. Das grundlegende Forschungsinteresse Vorüberlegungen zur Religionsfreiheit I. Das Forschungsinteresse: die Grundrechtskompatibilität der Türkischen Republik (zwei von der DFG geförderte Forschungsprojekte 2007 2009) II. Vorüberlegungen zur Religionsfreiheit Gefährdungen der Religionsfreiheit heute Im Kleinen: religiöse Verfolgung (Christen), Diskriminierung (Moslems) Im Großen: Clash of civilisations (? Warum ist Religionsfreiheit in dieser Zeit so bedeutsam? These: Nur wer selbst die Freiheit einer selbstbestimmten Wahl seiner Grundüberzeugungen empfindet, räumt sie auch anderen ein. Zuspitzung: wer (durch sozialen Druck, Tradition oder Institutionen) indoktriniert worden ist, wird dazu tendieren, auch andere zu indoktrinieren.
II. Die Türkei Quelle: www.weltkarte.com
Religionen in der Türkei Die Türkei ist ein laizistischer Staat 1928: Abschaffung des Islam als Staatsreligion Mehr als 97 % der türkischen Bevölkerung gehören offiziell dem Islam an, davon mehr als 80 % Sunniten und ca. 15 % Aleviten. Weitere Religionszugehörigkeiten: 0,2 % Christen, 0,04 % Juden (für 2006). Offizielle Zahlen sind aber problematisch, denn: - Personen, die sich nicht ausdrücklich als einer anderen Religion zugehörig erklären, werden automatisch als Muslime erfasst. - Die Religionszugehörigkeit wird im Ausweis dokumentiert.
Gehört das Christentum zur Türkei? (So BPräs. Wulff) Historisch: Ja: Tarsus war die Heimat des Apostels Paulus, Antiochia war der Ort, an dem sich Anhänger von Jesus zum ersten Mal Christen nannten. Anatolien war Kernraum des christlichen Byzanz bis zur Eroberung durch die Osmanen im Jahr 1453. Doch auch das Osmanische Reich war ein Vielvölker- und multireligiöser Staat. Noch um die Wende zum 20 Jahrhundert lebten in Istanbul mehr Nicht-Muslime als Muslime. Seit der Republikgründung: fraglich. Genozid an Armeniern während des Ersten Weltkriegs Bevölkerungsaustausch zwischen Griechen und Türken im Jahre 1922 Entscheidung de Republikgründer, eine monolitisch konzipierte türkischen und eben auch muslimischen Nationalstaat zu etablieren. Mit der Proklamation der türkischen Republik (1923) begann die Art staatliche Erziehungsdiktatur zur Schaffung und Verbreitung einer türkischen Nationalkultur. (Abschaffung von Sultan und Kalifen, Verbot religiöser Bruderschaften, Einführung Greg. Kalender, lateinische Alphabet, westliches Zahlensystem.) Ziel der Modernisierung war auch eine kulturelle und soziale Homogenisierung der türkischen Gesellschaft. Zwar ist die neue Republik laizistisch orientiert, die Zugehörigkeit zum Islam steht aber im Zentrum der Definition türkischer Staatsbürgerschaft; Nichtmuslime konnten sie nur nach Konversion zum Islam erreichen.
III. Welche Religionsfreiheit? 1. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 Artikel 18: Jeder hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht schließt die Freiheit ein, seine Religion oder seine Weltanschauung zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder seine Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Kulthandlungen zu bekennen.
2. Religionsfreiheit im Islam Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam (nicht bindende Erklärung von 45 der 57 Mitgliedstaaten der Organisation der Islamischen Konferenz, 1990): Art. 1 a): Alle Menschen sind gleich an Würde, und das ohne Ansehen von Religion Der wahrhafte Glaube ist die Garantie für das Erlangen solcher Würde auf dem Pfad zur menschlichen Vollkommenheit. Art. 9 b) Jeder Mensch hat das Recht auf eine sowohl religiöse als auch weltliche Erziehung durch die verschiedenen Bildungs- und Lehrinstitutionen.. Alle zusammen sorgen sie ausgewogen dafür, daß sich seine Persönlichkeit entwickelt, daß sein Glaube an Gott gestärkt wird und Art. 10: Der Islam ist die Religion der reinen Wesensart. Es ist verboten, irgendeine Art von Druck auf einen Menschen auszuüben oder seine Armut oder Unwissenheit auszunutzen, um ihn zu einer anderen Religion oder zum Atheismus zu bekehren. Art. 24, 25: Alle Rechte und Freiheiten, die in dieser Erklärung genannt wurden, unterstehen der islamischen Scharia. Religionsfreiheit umfaßt nicht das Recht auf Religionswechsel, kein Recht auf Abfall vom Islam, kein Recht der Werbung für andere Religionen als den Islam
IV. Die Voraussetzungen eines Beitritts zur Europäischen Union Voraussetzungen: - Erfüllung der Bedingungen aus Art. 49 EUV Art. 49 Abs. 1 EUV: 1 Jeder Europäische Staat, der die in Art. 2 genannten Werte achtet und sich für ihre Förderung einsetzt, kann beantragen, Mitglied der Union zu werden.. 4 Die vom Europäischen Rat vereinbarten Kriterien werden berücksichtigt. Art. 2 EUV: 1 Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören..
Charta der Grundrechte der EU Art. 10 Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (1) Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Dieses Recht umfasst die Freiheit, die Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen. (2). Schrankenregelung: Art. 52 der Charta, u.a.: - Einschränkung muss gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt der Rechte / Freiheiten achten (Art. 52 Abs. 1 S. 1) - Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Art. 52 Abs. 1 S. 2)
Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) Art. 9 Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (1) Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu bekennen. (2) Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.
Schutzbereich: V. Die Religionsfreiheit nach dem EU-Standard personell: natürliche Personen (individuelle Freiheit) sowie Zusammenschlüsse natürlicher Personen, d.h. Kirchen und Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften (kollektive Freiheit) sachlich: Freiheit der inneren Überzeugungen in Glaubensfragen (Glaubensfreiheit), Freiheit, einer Religionsgemeinschaft anzugehören, sie zu wechseln und seine Religion zu bekennen = Abwesenheit von staatlichem Zwang und Indoktrinationen, auch: eigene Rechte und Rechtspersönlichkeit von Religionsgemeinschaften = positive Religionsfreiheit Freiheit, keinen religiösen Glauben zu haben, sich nicht zu bekennen sowie keiner Religionsgemeinschaft anzugehören = negative Religionsfreiheit
Schranken: Die Religionsfreiheit unterliegt der Möglichkeit der Einschränkung. Die einschlägige Grundrechtsnorm legt die Grenzen und Bedingungen für eine Einschränkung fest; z.b. Art. 9 Abs. 2 EMRK: Einschränkungen die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. müssen gesetzlich vorgesehen sein müssen notwendig sein zur Erhaltung der politischen Ordnung und haben den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten (Geeignetheit, Erforderlichkeit, Angemessenheit = Interessenabwägung)
Religionsfreiheit im Spiegel der Rechtsprechung Die europäische Grundrechtsordnung geht von der Universalität der Grundrechte aus, trägt aber der nationalen Identität der Mitgliedstaaten und der Vielfalt der Kulturen und Traditionen der Völker Europas Rechnung (s. auch Art. 22 ChGR, Art. 4 Abs. 2 EUV) Daher erkennt der EGMR den Mitgliedsstaaten des Europarates bei der Frage, welche Einschränkungen zur Verfolgung von der Union anerkannter und dem Gemeinwohl dienender Ziele notwendig ist, einen Beurteilungsspielraum ( margin of appreciation ) zu. Bsp.1: Kopftuchverbot in Türk. Universitäten: wegen des in der TVerf enthaltenen Laizismusprinzips gerechtfertigt (EGMR v. 10.11. 2005, Leyla Sahin) Bsp. 2: Kreuz in Klassenzimmern Italiens als christliches Symbol verboten (EGMR v. 3. 11. 2009, Soile Lautsi; Entscheidung der großen Kammer steht noch aus).
VI. Religionsfreiheit in der türkischen Verfassung Art. 2: Die Republik Türkei ist ein. dem Nationalismus Atatürks verbundener demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat. Art. 24: Abs. 1 Jedermann genießt die Freiheit des Gewissens, der religiösen Anschauung und Überzeugung. Art. 24 Abs. 3: Geschützt wird auch die negative Religionsfreiheit Art. 24 Abs. 4: Die Religions- und Sittenerziehung wird unter Aufsicht und Kontrolle des Staates durchgeführt Art. 24 Abs. 5: Verbot, Religion oder religiöse Gefühle auszunutzen, um die soziale, wirtschaftliche, politische oder rechtliche Ordnung des Staates auf religiöse Regeln zu stützen Art. 136: Errichtung des Präsidiums für Religionsangelegenheiten - Art. 89 PartG: Politische Parteien dürfen die Existenz des Präsidiums nicht in Frage stellen.
VII. Praktische Probleme 1. Existenz und Aufgaben des Präsidiums für religiöse Angelegenheiten (Diyanet) - Verwaltet 20% des Staatsbudgets (Besoldung Imame, Bau von Moschen im In- und Ausland) - Entscheidet verbindlich über Auslegung des Koran (insoweit weisungsfrei) - Kontrolliert Religionsunterricht und Koran-Kurse - Verfaßt Grundsätze und Empfehlungen für Freitagspredigten - Ist nur für Sunniten zuständig 2. Die Behandlung der Aleviten - Keine finanzielle Unterstützung durch Diyanet - Teilweise Zwang zur Assimilation - Werden kaum im Religionsunterricht behandelt (EGMR: verstößt gegen das elterliche Erziehungsrecht, Urteil v. 11. 10. 2007); mittlerweile Verbesserung der Schulbücher. - Keine Befreiung vom Religionsunterricht - Teilweise gesellschaftliche Diskriminierung; Politik bemüht sich um Verbesserung.
Praktische Probleme 3. Die Behandlung nicht-muslimischer Religionsgemeinschaften - Keine Rechtspersönlichkeit von Glaubensgemeinschaften, neuerdings aber Reform des Vereins- und Stiftungsrechts: Religionsgemeinschaft als Verein zulässig; Stiftungen von religiösen Gemeinschaften können Immobilien erwerben; Praxis noch unbefriedigend. - Seit ca. 1970: Beschlagnahme von Teilen des Kirchenvermögens; im Jahre 2009 wurde Gesetz über die Rückgabe verabschiedet; Umsetzung offen. - Seit ca. 1970: Theologieausbildung an staatlichen Hochschulen monopolisiert: Schließung von kirchlichen Ausbildungseinrichtungen; Zustand hält an. - Nur türkische Staatsangehörige sind für Leistungsaufgaben in Kirchen zugelassen; Arbeitserlaubnis für ausl. Seelsorger erstmals im Jahre 2008. - Missionare werden als Gefahr für die Einheit des Staates angesehen. 4. Die negative Religionsfreiheit - Obligatorische Angabe der Religionszugehörigkeit in Ausweisen - Befreiung vom Religionsunterricht auf Antrag nur für Christen und Juden - Noch immer teilweise starke gesellschaftliche Diskriminierung
VIII. Fazit 1. Derzeit wird die Religionsfreiheit in der Türkei nur unzureichend verwirklicht. Gewisse Fortschritte sind erkennbar. Verbleibende Defizite betreffen: - das Grundproblem einer staatlichen Kontrolle des religiösen Lebens - die rechtliche und gesellschaftliche Diskriminierung der Aleviten - die rechtliche und gesellschaftliche Diskriminierung anderer Religionsgemeinschaften 2. Inwieweit lassen sich diese Defizite rechtfertigen aus - der faktischen Homogenität der türkischen Gesellschaft als muslimisch (nein, aus dem Sein folgt kein Sollen; Pflicht zum Minderheitenschutz), - der Gefahr einer Radikalisierung innerhalb des Islam (fraglich, gibt es keine milderen Mittel?), - der Notwendigkeit einer Einheitsstiftung im türkischen Gemeinwesen (nein, keine Einheit um den Preis der Freiheit)? Für weitere Schritte in Richtung auf die EU ist eine Modernisierung der Türkei auch im Hinblick auf die Verwirklichung der Religionsfreiheit unabdingbar. Das betrifft nicht nur kleinere Religionsgemeinschaften, sondern vor allem die Aleviten und auch die sunnitische Mehrheit.
Literatur Giegerich, Thomas: Religionsfreiheit als Gleichheitsanspruch und Gleichheitsproblem, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), Religionsfreiheit zwischen individueller Selbstbestimmung, Minderheitenschutz und Staatskirchenrecht völker- und verfassungsrechtliche Perspektiven, 2001 S. 241 ff. Köker, Levent: Religion, Education and the Turkish Constitution: A Critical Assessment, n.v. (bei mir erhältlich) Jung, Dietrich: Staat, Nation und religiöse Minderheiten in der türkischen Republik, in: Behr. H, (Hrsg.), Politik und Religion in der EU, 2006 S. 359 ff. Pesch, Andreas: Religionsfreiheit als EU-Beitrittskriterium. Welche Rolle spielt die EU für die Entwicklung religiöser Freiheiten in der Türkei?, in: Liedhegener/Werkner (Hrsg.), Religion, Menschenrechte und Menschenrechtspolitik, 2010 S. 322 ff.