Kinderschutz Handout Fachtagung Luzern 27.09.12. Autoren: Sulamith Rothen, Kaspar Mächler 1
Häufigkeit der Misshandlungsformen Schweizer Kinderkliniken 2010 Schweizer Kinderkliniken 2011 n=14 n=16 0.6% 0.4% 13.3% körperliche Misshandlung 17.1% 29.4% sexueller Missbrauch 29.4% 31.5% 25.2% Vernachlässigung psychische Misshandlung Münchhausen- Stellvertreter-Syndrom 28.4% 24.7% n=923 n=1180 2
Kindeswohl Unter Kindeswohl versteht man den Inbegriff der Voraussetzungen für eine optimale Entwicklung der Persönlichkeit des Kindes in affektiver und intellektueller, körperlicher und psychischer, sozialer und rechtlicher Hinsicht. 3
Kindsmisshandlung Kindsmisshandlung ist die nicht zufällige, bewusste oder unbewusste körperliche und/oder seelische Schädigung durch Personen (Eltern, andere Erziehungsberechtigte, Dritte), Institutionen und gesellschaftlicher Strukturen, die zu Verletzungen, Entwicklungshemmungen oder zum Tode führt. 4
Kinderschutz Unter Kinderschutz werden alle Hilfen und Massnahmen der Intervention wie auch der Prävention verstanden, die dazu dienen, den Schutz von Kindern vor Gewalt in ihren Familien und in ihrem Lebensumfeld zu sichern. Massnahmen zum Schutz von Kindern umfassen den unmittelbaren Schutz des Kindes vor weiterer Gewalt sowie die Unterstützung und Beratung der Eltern. (Kinderschutz-ABC, Stadt Hamburg) 5
Ziel der Kinderschutzarbeit! Anwalt des Kindes sein, dem Kind zu seinem Recht verhelfen! Eltern auf Überforderung und deren Gefahr hinweisen! Betroffene gefährdete Geschwister schützen! Kinder vor weiterer Gewalt schützen! Präventive Arbeit durch Information und Öffentlichkeitsarbeit 6
Kinderschutz - Grundprinzipien! Nie alleine handeln! Langsam führt schneller zum Ziel, das heisst: Schutz des Kindes sofort weitere Schritte sorgfältig bedenken und absprechen! Einschalten von Profis 7
Formen von Kindsmisshandlung Ø Körperliche Misshandlung Ø Vernachlässigung Ø Psychische Misshandlung Ø Sexuelle Ausbeutung Ø Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom 8
Körperliche Misshandlung: Sie beinhaltet jegliche Art von körperlicher Schädigung oder Verletzung, wie zum Beispiel das Kind ohrfeigen, schlagen, würgen, es von etwas runter stossen, schütteln, an die Wand schleudern, Verbrennungen oder Verbrühungen zufügen. 9
Zeichen körperlicher Kindsmisshandlung n Oberflächliche Hautverletzungen: n Tiefe Hautverletzungen: Schürfungen Spuren von Gegenständen Kratzer Stiche Schnitte Blutergüsse Verbrühungen Verbrennungen n Knochenbrüche: Schädel Rippen/Schlüsselbein Extremitäten 10
Was ist bei körperlichen Verletzungen zu beachten: n Alter des Kindes n Lokalisation der Verletzungen n Anamnese 11
Vernachlässigung Nichterfüllen kindlicher Grundbedürfnisse: Essen, Kleidung, Hygiene Mangelnde oder ungenügende Anregung für das Kind Mangelnde Aufsicht und Betreuung des Kindes Missachtung der Gesundheit des Kindes 12
Psychische Misshandlung n Langfristig negativ-destruktive Einstellung der Erziehungspersonen zum Kind n Kontinuierliches Herabsetzen des Kindes: Beschimpfungen, Entwürdigungen, Demütigungen, verbales Terrorisieren n Nachhaltige Verminderung des kindlichen Selbstwertgefühls n Vermittlung einer negativen Erwartungshaltung für die Zukunft n Verhinderung von Kontakt mit Gleichaltrigen, massive Bedrohungen und Einsperren 13
Sexuelle Ausbeutung Sexueller Missbrauch beginnt dort, wo körperliche Nähe nicht dazu dient, Zuneigung auszudrücken, sondern von Erwachsenen lediglich zur eigenen Bedürfnisbefriedigung ausgenutzt wird. (Weber/ Kibben 1991) 14
Sexuelle Ausbeutung Der Begriff der sexuellen Ausbeutung bezeichnet den Einbezug von Kindern oder abhängigen Jugendlichen in sexuelle Handlungen zu einem Zeitpunkt ihrer Entwicklung, zu dem sie den Inhalt und die Bedeutung dieser Handlung nicht vollumfänglich begreifen können oder in sexuelle Handlungen, die soziale Tabus der Rollendefinitionen in der Familie verletzen. (nach Kempe 1978 und Finkelhor 1986) 15
Münchhausen Stellvertreter-Syndrom ( fabricated illness ) Eltern (meist Mütter), die sehr kooperativ und bemüht wirken, - erfinden Symptome, die ihr Kind haben soll (Fieber, Krämpfe, Blutungen etc.) - erzeugen Krankheiten (durch Intoxikation, Kontamination von Infusionen, Strangulation etc.) unnötige Untersuchungen, Behandlungen, Operationen des Kindes 16
Tendenziell gewichtige, starke Faktoren für Kindsmisshandlung Ausgeprägte Belastungsgefühle Eigene Misshandlungs- und Vernachlässigungserfahrung Paarkonflikte/ erlebte Partnerschaftsgewalt Unrealistische Erwartung an das Kind Neg. und verzerrte Wahrnehmung des Kindes Soziale Isolation / Minoritätenstatus Akzeptanz von gewalttätigen Erziehungsformen Ablehnung des Kindes (mangelnde Bindung) 17 Psychische Störungen / Drogenabhängigkeit
Tendenziell schwache Faktoren für Kindsmisshandlung n Fehlende soz. Unterstützung n Armut n Alleinerziehungsstatus n Kinderreiche Familien n Sehr junge Eltern 18
Risikofaktoren Kindesmisshandlung, 1 Monat und 2 Monate Anamnese Ø postpartale Depression Ø Schlaf Ø Schreien Ø Ernährung Antizipatorische Beratung Ø Schlaf 19 Ø Schreien Ø Ernährung Ø shaken baby syndrome Ø postpartale Depression
Risikofaktoren Kindesmisshandlung, 4 Monate n Anamnese Ø postpartale Depression Ø Schlaf Ø Schreien Ø Ernährung Ø häusliche Gewalt 20 n Antizipatorische Beratung Ø Schlaf Ø Schreien Ø shaken baby syndrome Ø Ernährung
Risikofaktoren Kindesmisshandlung, 18 Monate Anamnese Ø Schlaf Ø Ernährung Ø häusliche Gewalt Ø Fremden Antizipatorische Beratung Ø Schlaf Ø Trotzen 21
Bindung/ Bindungstheorie Laut Gloger-Tippelt et al. (2003; zit. in Deegener et al., 2005, S. 348) kennzeichnet der Begriff Bindung in der Theorie ihres Begründers John Bowlby das spezifische, affektive und emotionale Band, das zwischen zwei Menschen besteht und über Ort und Zeit hinweg erhalten bleibt. So hat die Bindung zu primären Bezugspersonen nach Gloger-Tippelt et al. (2003; zit. in Deegener et al., 2005, S. 347-348) für Kleinkinder eine besonders wichtige Funktion, denn sie unterstützt das Überleben des Kindes unter fast allen kulturellen Bedingungen und ist auch biologisch begründet. Die Bindungstheorie setzt sich mit den Grundbedürfnissen des Menschen wie Sicherheit, Schutz und Überleben, angesichts bedrohlicher Erfahrungen, besonders zwischen Eltern und ihren Kleinkindern, auseinander. 22
Klassifikation der kindlichen Bindungsqualität Sichere Bindung: Kinder mit sicherer Bindung wissen, dass ihre Eltern ihnen in Stress- oder Angst-Situationen emotional aktiv zur Seite stehen. 23
Klassifikation der kindlichen Bindungsqualität Unsicher-ambivalente Bindung (unsicherwiderstehend): Kinder mit unsicher- ambivalenter Bindung leben in der Ungewissheit ob, und wenn ja, wann sie sich auf ihre Eltern verlassen können. Sie entwickeln Trennungsängste. 24
Klassifikation der kindlichen Bindungsqualität Unsicher-vermeidende Bindung: Kinder mit unsicher- vermeidender Bindung wissen, dass sie von ihren Eltern nur Ablehnung zu erwarten haben. Sie versuchen deshalb auf Zuneigung und fremde Hilfe zu verzichten. 25
Klassifikation der kindlichen Bindungsqualität Unsicher-desorganisierte Bindung: Diese Kinder lassen sich nicht den drei genannten Bindungsmustern zuordnen. Manche sind von einem Elternteil nachweislich misshandelt oder stark vernachlässigt worden. Diese Kinder zeigen eine vielseitige Bandbreite an verwirrtem Verhalten 26
3 Wege im Umgang mit Kindsmisshandlungen 1 2 3 einvernehmlich Kooperation mit Vormundschaftsbehörde Kooperation mit Strafbehörde - Beobachtung - Betreuung - Therapie - Kontrolle - Ermahnung - Beistandschaft - Vormundschaft - Entzug der elterlichen Sorge - Obhutsentzug - Ermittlungen - Gerichtsverfahren - Urteil - ev. Bestrafung des Täters 27
Abgrenzungsschwierigkeiten des elterlichen Verhaltens gut adäquat unerwünscht schädigend zu früh zu viel < > zu spät zu wenig 28
Besondere Herausforderungen im Pflegealltag bezüglich Kinderschutzsituationen Täglich die Möglichkeit, mit Kinderschutzsituationen konfrontiert zu werden Mehr überforderte oder unsichere Eltern Kompetente Fähigkeiten erforderlich, um betroffene Kinder adäquat zu erfassen, einzuschätzen und zu reagieren Sich der Rolle bewusst sein 29
Besondere Herausforderungen im Pflegealltag bezüglich Kinderschutzsituationen Aufmerksamkeit trotz grosser Arbeitsbelastung Eltern oder Familienangehörige als Täter? (Grundhaltung/ Professionalität/ kein Urteil gegenüber Bezugspersonen) Familien gleichzeitig überwachen/ unterstützen (Rollenkonflikt) Risikofaktoren kennen (Gefahr der Stigmatisierung) 30
Kindesmisshandlung je nach subjektivem Einschätzen der Pflegefachperson unterschiedlich bewertet (wo sind die Grenzen?) 5% der misshandelten und 10 % der vernachlässigten Kinder sicher gebunden. 82% desorganisiert gebunden Eltern Mehrheit der Täter Möglicher Rollenkonflikt von Pflegefachpersonen Gute Teamarbeit als Schlüssel für Erfolg in dieser Thematik 31 Wichtige Erkenntnisse für die Rollenausübung in Kinderschutzsituationen
Wichtige Erkenntnisse für die Rollenausübung in Kinderschutzsituationen Schweregrad der körperlichen Verletzung beeinflusst die Absicht zu handeln Schadensverhinderung oder -Begrenzung durch Prävention Risikofaktoren als Hilfe in der Prävention Einheitliches Betreuungskonzept, Chancengleichheit für Kinder Rollenbewusstsein, Wissen der Auswirkungen von Misshandlung, theoretische Kenntnisse und praktische Erfahrungen als Voraussetzung Unterstützung anderer Mitarbeiter als stärkste Motivation 32
Wichtige Erkenntnisse für die Rollenausübung in Kinderschutzsituationen Folgen von Kindesmisshandlung auf Peer- Beziehungen, Selbstwert und Verhalten In der Kindheit misshandelte Elternteile, oft als Opfer körperlicher Gewalt in Partnerschaften oder selbst Täter gegenüber ihren Kindern Schutzfaktoren gegen negative, langfristige Folgen ungünstiger Lebensumstände der Kindheit: mindestens eine gute Beziehung in der Vergangenheit oder Gegenwart 33
Wichtige Erkenntnisse für die Rollenausübung in Kinderschutzsituationen Viele gesellschaftliche Probleme aufgrund von Erfahrungen von Misshandlung und Vernachlässigung in der Kindheit Kinder von heute die Erwachsenen von morgen! 34
Rolle der Pflegefachpersonen in der Thematik Kinderschutz 35 Erkennen, Einschätzen und Melden von Kindesmisshandlung Beobachtung, Betreuung und Schutz des Kindes Angemessene Programme und Richtlinien einhalten Hilfeentwicklung: Entwicklung von Diensten, gegenseitige Unterstützung in der Rolle, Kontakt zum vorgesetzten Pflegepersonal Zusammenarbeit mit medizinischem Mitarbeiterstab und anderen Mitgliedern des fachübergreifenden Teams Kein Urteil gegenüber Bezugspersonen des Kindes Unterstützung von Familien (Prävention), Bildung und Ausbildung von Klienten
Schlussfolgerungen für die Praxis Pflegefachpersonen haben ein grosses Potenzial in der Thematik Kinderschutz Kinder von heute, die Erwachsenen von morgen Fähigkeit: Kinderschutzarbeit in die Berufsrolle integrieren und differenziert mit den Herausforderungen umgehen Klar definierter Auftrag einer Institution bezüglich Rolle in Kinderschutzsituationen schafft Chancengleichheit für Kinder Prävention als eine der wichtigsten Rolle (Risikofaktoren kennen, welche Misshandlung begünstigen) Regelmässige Evaluation und Reflexion der eigenen Rollenauffassung ist unentbehrlich Weiterführende Forschung bezüglich der Problematik Rollenkonflikt ist nötig 36
Angebote für Kinder / Jugendliche n Elternnotruf n Schulpsychologiescher-Dienst n Schulsozialarbeiter n Schlupfhaus n Mädchenhaus n Kinderschutzgruppen n Kinderarzt 37
Vormundschaftliche Massnahmen nach ZGB: n Erziehungsaufsicht (Art. 307 ZGB) (präventiver Charakter) n Beistandschaft (Art. 308 ZGB) (präventiver Charakter mit Kontrollmöglichkeit)! Obhutsentzug (Art. 308/ 310 ZGB) (massiver Eingriff) Eltern sind zur Zusammenarbeit mit der Vormundschaftsbehörde verpflichtet 38
Notstandshilfe! Art 17 Ziff. 2 StGB Ø Wird angewendet wenn stationäre Einrichtungen Kind gegen den Willen der Eltern zurückbehalten wollen, weil Gefährdung vorhanden, aber Behörden (noch) nicht eingeschaltet sind. Ø Meldung an VB nächster Arbeitstag 39
Geschichte des Kinderschutzes 1871 Society for the Prevention of Cruelty to Children, New York 1887-99 Paris, Genève, Roma, Berlin, London 1900 Kinderschutz - Vereinigung, Zürich 1964 Henry Kempe: erstes multidisziplinäres Kinderschutzzentrum, Denver 1969 erste Kinderschutzgruppe in der Schweiz, Kinderspital Zürich 1975 International Society for the Prevention of Child Abuse and Neglect ISPCAN 1976 erster internationaler Kongress, Genève (P. Ferrier) 40 Zeitschrift Child Abuse and Neglect
Kindsmisshandlung in der medizinischen Literatur 1563 Würtz: Kinderbüchlein, Erwähnung von Kindsmisshandlung 1682 Bonnet: Schädel- und Hirnkontusionen bei Säuglingen als Folge des Fallenlassens oder Schlagens 41 1868 Tardieu: Beschreibung von 32 Kindern mit schweren Verletzungen, bei 70% Kindsmisshandlung als Ursache erkannt 1868- Beschreibung von multiplen Knochenbrüchen bei 1888 Kindern in England; als Folge von Rachitis interpretiert 1946 Caffey: Beschreibung von Knochenbrüchen und Subdural-Hämatomen bei Säuglingen; Ursache nicht erkannt 1962 Kempe: Beschreibung von Kindsmisshandlung, Prägung des Begriffs battered child syndrome 1971 Guthkelch: Erstbeschreibung des Schütteltraumas