Mathematik ist überall

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Transkript:

Mathematik ist überall Vorlesung im Rahmen der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Grundlegung im Sommersemester 015 von Dr. Markus Schulz

Inhaltsverzeichnis 1 Grundlagen 1 1.1 Mengen und Zahlbereiche........................ 1 1. Aussagenlogik............................... 3 1.3 Mathematische Beweisverfahren..................... 6 Der goldene Schnitt 8.1 Definition und Eigenschaften....................... 8. Konstruktionen des goldenen Schnitts.................. 11.3 Fibonacci-Zahlen und goldener Schnitt................. 14.4 Auftreten des goldenen Schnittes und der Fibonacci-Zahlen...... 19 3 Die Mathematik in der Musik 3 3.1 Tonerzeugung............................... 3 3. Tonabstände und Stimmungen...................... 8 3.3 Fourier-Analyse.............................. 3 3.4 Mathematik als Kompositionshilfe.................... 36 4 Graphentheorie 41 4.1 Grundlagen................................ 41 4. Eulersche Graphen............................ 45 4.3 Hamiltonsche Graphen.......................... 47 4.4 Kürzeste Wege.............................. 51 5 Die Mathematik der Finanzmärkte 58 5.1 Ein einführendes Beispiel......................... 58 5. Einperioden-Modelle........................... 60 5.3 Binomialmodelle............................. 65 5.4 Das Black-Scholes-Modell........................ 67 ii

1 1 Grundlagen Ein berühmtes Zitat von Galileo Galilei besagt sinngemäß, dass das Buch der Natur in der Sprache der Mathematik geschrieben ist. Um die Vorgänge in der Natur und die hier geschilderten Anwendungen zu verstehen, müssen wir uns also mit der Sprache der Mathematik vertraut machen. Natürlich wird zumindest in deutschen Sprachraum auch in der Mathematik die deutsche Sprache verwendet. Mathematische Texte weisen jedoch eine spezielle Struktur auf und verwenden besondere Formulierungen und Symbole. Dies ließ schon Johann Wolfgang von Goethe sagen Die Mathematiker sind eine Art Franzosen: redet man zu ihnen, so übersetzen sie es in ihre Sprache, und dann ist es alsobald ganz etwas anderes. Bevor wir uns also mit der Mathematik und ihren Anwendungen beschäftigen können, müssen wir zunächst ein wenig Vokabular lernen. Als Basis unserer Betrachtungen führen wir im ersten Abschnitt dieses Kapitels verschiedene Mengen ein. Neu eingeführte Begriffe werden dabei fett gedruckt. 1.1 Mengen und Zahlbereiche Definition 1.1. Unter einer Menge verstehen wir die Zusammenfassung von wohlunterschiedenen Objekten unserer Anschauung oder unseres Denkens zu einem Ganzen. Ein in einer Menge enthaltenes Objekt heißt auch ein Element der Menge. Ist x ein Element einer Menge M, so schreiben wir x M, ist x keine Element der Menge M, so drücken wir dies durch x / M aus. Besitzt eine Menge keine Elemente, so nennen wir sie die leere Menge und schreiben oder {}. Eine Menge A ist Teilmenge einer anderen Menge B, geschrieben A B, genau dann, wenn jedes Element x von A auch ein Element von B ist. Zwei Mengen können wir auf verschiedene Weisen verknüpfen. Definition 1.. Der Durchschnitt zweier Mengen A und B, geschrieben als A B, besteht aus allen Elementen, die sowohl zu A als auch zu B gehören. Man drückt dies mathematisch so aus: A B = {x : x A und x B}. Die Vereinigung A B zweier Mengen A und B besteht aus allen Elementen, die zu A oder zu B (oder zu beiden) gehören, also A B = {x : x A oder x B}. Die Differenz A\B zweier Mengen A und B bezeichnet die Menge aller Elemente von A, die nicht gleichzeitig zu B gehören. Es gilt also A\B = {x : x A und x / B}. Im nächsten Abschnitt werden wir die mathematischen Symbole für die Verknüpfungen und und oder kennenlernen. Besondere Mengen, die mit eigenen Symbolen bezeichnet sind, sind die verschiedenen Zahlbereiche. Höchstwahrscheinlich sind Sie schon als Kind mit den natürlichen

1 GRUNDLAGEN Zahlen in Kontakt gekommen. Diese Menge wird immer dann benutzt, wenn Dinge zu zählen sind. Wir bezeichnen die natürlichen Zahlen mit N = {1,, 3, 4,...}. Oft nimmt man auch die 0 dazu. Die so entstehende Menge bezeichnen wir mit N 0. Wir können zwei natürliche Zahlen addieren und multiplizieren, ohne aus der Menge herauszufallen. So gilt z.b. 3 + 4 = 7 N und 3 4 = 1 N. Doch schon die Subtraktion zweier natürlicher Zahlen führt manchmal zu Problemen. Beispielsweise gilt 9 5 = 4 N, aber 5 9 / N. Um beliebig subtrahieren zu können, benötigen wir die ganzen Zahlen Z = {..., 4, 3,, 1, 0, 1,, 3, 4,...}. Die eben problematische Aufgabe ist nun lösbar: 5 9 = 4 Z. Wenn zusätzlich auch die Division möglich sein soll, reichen die ganzen Zahlen nicht mehr aus. Dazu müssen wir unseren Zahlbereich auf die rationalen Zahlen { p } Q = q : p Z und q Z\{0} erweitern. Die Zahl 0 ist als Nenner nicht zulässig. Neben der Bruchdarstellung ist auch die Dezimalschreibweise gebräuchlich, also z.b. 5 = 1, 5 oder 1 = 0, 33333.... 4 3 Jedoch kommt man selbst mit dieser relativ umfangreichen Menge nicht immer aus. Beispielsweise gibt es keine rationale Zahl a mit a =. Dennoch gibt es eine (nicht endende) Dezimaldarstellung a = = 1, 414135.... Alle Zahlen der Zahlengerade zusammengenommen ergeben die reellen Zahlen R. Gegenüber den rationalen Zahlen sind alle nichtendenden und nicht-periodischen Dezimalzahlen hinzugekommen, beispielsweise ist auch π = 3, 14159... eine reelle Zahl. Anzumerken ist, dass je zwei reelle Zahlen nach ihrer Größe sortiert werden können, d.h. für zwei reelle Zahlen a und b gilt a b oder a b (oder beides, dann ist a = b). Manchmal beschränken wir uns auch auf folgende Teilmengen der rellen Zahlen: [a, b] ={x R : a x b} (a, b] ={x R : a < x b} [a, b) ={x R : a x < b} (a, b) ={x R : a < x < b} (, b] ={x R : x b} (, b) ={x R : x < b} [a, ) ={x R : a x} (a, ) ={x R : a < x}. Alle derartigen Mengen werden unter dem Oberbegriff Intervalle zusammengefasst. Die reellen Zahlen sind in der Praxis häufig völlig ausreichend, gelegentlich, z.b. wenn man die Gleichung x = lösen will, benötigt man die komplexen Zahlen C = {a + ib : a, b R}. Der Buchstabe i wird auch imaginäre Einheit genannt und ist definiert durch i = 1 bzw. i = 1. Für eine komplexe Zahl mit der Darstellung a + ib bezeichnet man a als Realteil und b als Imaginärteil. Jede reelle Zahl x kann man durch a = x und b = 0 auch als komplexe Zahl auffassen. Insgesamt gelten also die Beziehungen N N 0 Z Q R C.

1. Aussagenlogik 3 1. Aussagenlogik Wie in der Sprache bringt es auch in der Mathematik wenig, die einzelnen Wörter zu kennen, ohne zu wissen, wie man sie zu Aussagen zusammenfügt. Deshalb wollen wir nun definieren, was wir unter einer mathematischen Aussage verstehen. Danach werden wir verschiedene Möglichkeiten betrachten, Aussagen logisch zu verknüpfen. Einige der entwickelten Regeln werden im nächsten Abschnitt die Grundlage für verschiedene Beweismethoden bilden. Definition 1.3. Aussagen sind sprachliche Gebilde, von denen objektiv feststeht, dass sie entweder wahr oder falsch sind, die also von zwei möglichen Wahrheitswerten genau einen annehmen. Objektiv festehender Wahrheitswert bedeutet, dass eine Aussage entweder wahr oder falsch ist, unabhängig von der Person, die diese Aussage macht, unabhängig von Ort und Zeitpunkt, an dem bzw. zu dem die Aussage gemacht wird und unabhängig von einer Person, die diese Aussage beurteilt. Beispielsweise ist der gemäß historischer Anekdote überlieferte Satz Alle Kreter lügen keine Aussage, denn spricht ein Kreter diesen Satz aus, so würde er demzufolge die Wahrheit sagen, also nicht lügen, was dem Satz widerspricht. Auch der berühmte Ausspruch des Babiers von Sevilla Ich rasiere alle Männer meiner Heimatstadt, die sich nicht selbst rasieren. gehört in diese Kategorie, denn wer rasiert den Barbier? Lassen Sie uns noch einige weitere Beispiele behandeln: Beispiel 1.1. 1. Dem Satz Heute ist ein wunderschöner Herbsttag. ist kein objektiver Wahrheitsgehalt zuzuordnen, es ist also keine Aussage im mathematischen Sinn.. Der Satz Die Bauarbeiten am Kölner Dom begannen im Jahr 148. ist dagegen eine wahre Aussage. 3. Die Frage Gefällt es Ihnen an der Universität zu Köln? ist wiederum keine Aussage, da man ihr keinen Wahrheitswert zuordnen kann. 4. Der Satz Der Kölner Hauptbahnhof liegt auf der rechten Rheinseite. ist eine falsche Aussage. 5. Der Satz Karl der Große hatte 4 Kinder. ist eine Aussage, obwohl es hier kaum möglich sein dürfte, den Wahrheitswert festzustellen. Es genügt, dass ein eindeutiger Wahrheitswert existiert. Jede Aussage kann auch verneint werden. Formal definieren wir Definition 1.4. Unter der Negation einer Aussage A verstehen wir die verneinte Aussage A, die zu A den gegensätzlichen Wahrheitswert hat: Ist A wahr, so ist A falsch, und ist A falsch, so ist A wahr. Beispiel 1.. Die Negation der Aussage aus. des vorangegangenen Beispiels lautet Die Bauarbeiten am Kölner Dom begannen nicht im Jahr 148. Da nicht rechts gleichbedeutend mit links ist, kann man die Negation von 4. auch formulieren als Der Kölner Hauptbahnhof liegt auf der linken Rheinseite.

4 1 GRUNDLAGEN Zwei Aussagen lassen sich außerdem auf verschiedene Weisen verknüpfen. Bei zwei Aussagen wird eine solche Verknüpfung beispielsweise dadurch definiert, dass man für alle vier möglichen Kombinationen von Wahrheitswerten der Verknüpfung einen Wahrheitswert zuordnet. Dies kann durch Angabe einer sog. Wahrheitstafel geschehen. Definition 1.5. Die Konjunktion zweier Aussagen A und B ist definiert durch A B A B w w w w f f f w f f f f Die Aussage A B ist also nur wahr, wenn sowohl A als auch B wahr sind. Die Verknüpfung entspricht dem sprachlichen und. Definition 1.6. Die Disjunktion zweier Aussagen A und B ist definiert durch A B A B w w w w f w f w w f f f Die Aussage A B ist also wahr, wenn mindestens eine der beiden Aussagen A oder B wahr ist. Die Verknüpfung entspricht dem sprachlichen oder im nichtausschließlichen Sinn. Definition 1.7. Dem sprachlichen Wenn..., dann... entspricht die Implikation, deren Wahrheitstafel wie folgt definiert ist: A B A B w w w w f f f w w f f w Definition 1.8. Die Äquivalenz zweier Aussagen A und B ist definiert durch A B A B w w w w f f f w f f f w Sprachlich drücken wir eine Äquivalenz häufig durch genau dann, wenn aus. Die Aussage A B ist also genau dann wahr, wenn die Aussagen A und B die gleichen Wahrheitswerte besitzen.

1. Aussagenlogik 5 Gerade in der Mathematik kommen häufig Aussagen vor, die von einem Platzhalter x abhängen. Auch Zusammenfassungen solcher Aussagen der Form Für alle x M gilt... oder Es existiert ein x M, so dass gilt... sind allgegenwärtig. Zur Abkürzung definieren wir Definition 1.9. Es sei M eine Menge und A(x) eine Aussage, die von einer Variable x M abhänge. (a) Ist A(x) für alle x M eine wahre Aussage, dann sagt man Für alle x M gilt A(x) oder Für jedes x M gilt A(x) und schreibt kurz x M : A(x). (b) Ist A(x) für mindestens ein x M eine wahre Aussage, dann sagt man Für ein x M gilt A(x) oder Es gibt ein x M mit A(x) und schreibt kurz x M : A(x). (c) Ist A(x) für genau ein x M eine wahre Aussage, dann sagt man Für genau ein x M gilt A(x) oder Es gibt genau ein x M mit A(x) und schreibt!x M : A(x). (d) Ist A(x) für kein x M eine wahre Aussage, dann sagt man Für kein x M gilt A(x) oder Es gibt kein x M mit A(x) und schreibt x M : A(x). Die hier eingeführen Symbole heißen Quantoren. Es können auch mehrere Quantoren miteinander verschachtelt werden. Als Faustregel kann man sich merken, dass bei der Negation aus einem ein wird und umgekehrt. Beispiel 1.3. Ist (x n ) n N eine reelle Zahlenfolge, dann wird durch die Aussage ε > 0 n 0 N n n 0 : x n < ε definiert, dass die Folge gegen Null konvergiert. Formulieren würde man die Aussage z.b. als Für jedes ε > 0 gibt es einen Index n 0 N, so dass alle weiteren Folgenglieder betraglich kleiner als ε sind. Die Negation der Aussage ist ε > 0 n 0 N n n 0 : x n ε. Anwendung findet die mathematische Aussagenlogik v.a. zur Begründung mathematischer Beweisprinzipien und in der Mengenlehre. Die Logik ist also eine wesentliche Grundlage der Mathematik man spricht ja auch immer von der Mathematik als logische Wissenschaft. Darüber hinaus ist die Logik aber auch Grundlage der Computerwissenschaft und künstlichen Intelligenzforschung. Es gibt ganze Programmiersprachen, die auf Fragmnenten der Logik beruhen, z.b. PROLOG (Programming in Logic). Weitere Stichworte sind Logikprogrammierung, maschinelles deduktives Beweisen, regelbasierte Expertensysteme und nichtmonotone Logik. Außerdem wird die Logik in der Philosophie angewandt, um Argumente und Folgerungen zu formalisieren und Argumente auf ihre Gültigkeit zu untersuchen.

6 1 GRUNDLAGEN 1.3 Mathematische Beweisverfahren Mathematische Beweismethoden basieren auf aussagenlogischen Gesetzen. Im Folgenden werden wir nun diejenigen Gesetze kennenlernen, die vielen Beweisen zugrunde liegen und somit häufig angewandte Beweismethoden darstellen. Das erste grundlegende Prinzip erlaubt es uns, den Beweis einer Äquivalenz A B durch den Nachweis der Folgerungen A B und B A zu führen. Formal gilt Proposition 1.1. Für zwei mathematische Aussagen A und B gilt (A B) ((A B) (B A)). Beweis. Die Behauptung beweisen wir mittels folgender Wahrheitstafel: A B A B A B B A (A B) (B A) w w w w w w w f f f w f f w f w f f f f w w w w Ebenfalls sehr wichtig ist der Beweis durch Kontraposition. Statt eine Folgerung A B direkt zu beweisen, beweist man, dass aus B die Aussage A folgt. Proposition 1.. Für zwei mathematische Aussagen A und B gilt (A B) ( B A). Beweis. A B A B B A B A w w w f f w w f f w f f f w w f w w f f w w w w Oft werden Aussagen auch durch die Herleitung von einer anderen bereits verifizierten Aussage bewiesen. Proposition 1.3. Für zwei mathematische Aussagen A und B gilt (A (A B)) B. Beweis. A B A B A (A B) A (A B) B w w w w w w f f f w f w w f w f f w f w Manchmal ist es nicht so einfach, eine Aussage direkt zu beweisen. Häufig hilft es in solchen Fällen, einen indirekten Beweis (oder auch Widerspruchsbeweis genannt) zu führen. Wollen wir beispielsweise A beweisen, dann können wir dies tun, indem wir die Annahme, dass A falsch ist bzw. A wahr ist, zum Widerspruch (B B) führen.

1.3 Mathematische Beweisverfahren 7 Proposition 1.4. Für eine mathematische Aussage A gilt ( A (B B)) A, wobei B eine weitere mathematische Aussage bezeichnet. Beweis. Die Aussage B B ist immer falsch. Wir erhalten also die Wahrheitstafel A A B B A (B B) w f f w f w f f Eine besondere Stellung nimmt das Beweisverfahren der vollständigen Induktion ein. Mit ihm ist es möglich, Aussagen der Form Für alle n N gilt... zu beweisen. Das Beweisprinzip basiert auf gewissen sog. Axiomen, also mathematischen Aussagen, die die Grundlage der Mathematik bilden und als wahr angenommen werden. Proposition 1.5. Für n N sei A(n) eine Aussage. Es gelte (1) A(1) ist wahr. () Für alle n N gilt: Ist A(n) wahr, so ist auch A(n + 1) wahr. Dann gilt A(n) für alle n N. Beweis. Der Proposition 1.4 folgend nehmen wir an, dass A(n) nicht für alle n N wahr ist. Dann gibt es darunter eine kleinste natürliche Zahl n 1, die wegen (1) größer als 1 sein muss. Daher gilt A(n) für alle n = 1,..., n 1 1. Da A(n 1 1) also wahr ist, ist nach () auch A(n 1 ) wahr, was der Definition von n 1 widerspricht. Unsere Annahme war also falsch und demzufolge die Behauptung richtig. Das Beweisprinzip funktioniert auch, wenn A(n) für alle n k, k N 0, wahr sein soll. Es erinnert an Proposition 1.3. Ausgehend von der wahren Aussage A(1) wird mittels () darauf geschlossen, dass auch A() wahr ist. Wendet man () nun hierauf an, so folgt, dass auch A(3) wahr ist usw. Ein Beweis mittels vollständiger Induktion besteht immer aus zwei Teilen: dem Induktionsanfang (1) und dem Induktionsschritt (). Wir wollen uns das Beweisprinzip an einem Beispiel anschauen: Beispiel 1.4. Für n N beweisen wir die Summenformel 1 + + 3 + + n = n k = k=1 n(n + 1). Für n = 1 steht auf der linken Seite 1 1 k=1 k = 1, auf der rechten Seite ist A(1) richtig. Sei nun A(n) richtig, also gelte n k=1 k = n(n+1) auch A(n + 1) richtig ist, nämlich n+1 k=1 k = (n+1)(n+). Es gilt = 1. Also. Zu zeigen ist, dass n+1 k = k=1 n k=1 k+(n+1) I.V. = n(n + 1) n(n + 1) + (n + 1) +n+1 = = (n + )(n + 1). Damit ist A(n + 1) hergeleitet und somit die Aussage bewiesen.

8 DER GOLDENE SCHNITT Der goldene Schnitt Im Gegensatz zur symmetrischen Teilung einer Strecke gibt es unzählige Möglichkeiten, eine gegebene Strecke asymmetrisch zu teilen. Unter diesen hat der goldene Schnitt eine besondere Bedeutung. Die auch als Proportio divina bzw. göttliche Proportion bezeichnete Aufteilung übt schon seit Jahrtausenden eine besondere Faszination auf die Menschen aus, auch weil sie als harmonisch empfunden wird. Wie wir später sehen werden, hat der goldene Schnitt zahlreiche Anwendungen in Architektur und Kunst und kommt auch in der Natur vor. In einem engen Zusammenhang zum goldenen Schnitt stehen die sog. Fibonacci-Zahlen, die ebenfalls in der Natur beobachtet werden können und schon bei den alten Griechen und den Indern bekannt waren..1 Definition und Eigenschaften Schon im zweiten Buch der Reihe Elemente formulierte Euklid (365-300 v. Chr.) folgende Aufgabe: Eine gegebene Strecke ist so zu teilen, dass das Rechteck aus der ganzen Strecke und dem einen Abschnitt dem Quadrat über dem anderen Abschnitt gleich ist. Die Elemente sind das älteste mathematische Werk, in dem der goldene Schnitt behandelt wird. Wir wollen ihn jedoch ein wenig anders definieren: Definition.1. Sei AB eine Strecke. Ein Punkt S von AB teilt AB im goldenen Schnitt, falls sich die größere Teilstrecke zur kleineren so verhält wie die Gesamtstrecke zum größeren Teil. Es gibt offensichtlich zwei mögliche Punkte, die AB im goldenen Schnitt teilen, je nachdem, ob die größere Strecke bei A oder B liegt. Wenn nichts anderes gesagt wird, wollen wir den Punkt S so wählen, dass er näher bei B liegt. Bezeichne AS die Länge der Strecke AS. Dann können wir die Definition wie folgt umformulieren: Der Punkt S teilt AB im goldenen Schnitt, falls gilt AS SB = AB AS. Wir bezeichnen die Länge der größeren Strecke mit M und die Länge der kleineren mit m. Hat nun AB die Länge a, so ist dies gleichbedeutend zu a M = M m bzw. am = M. Letzteres entspricht der Formulierung von Euklid. Den Wert des Quotienten M m kann man genau angeben: Satz.1. Ein Punkt S teilt die Strecke AB genau dann im goldenen Schnitt, wenn M m = 1 + 5 1, 6180339.

.1 Definition und Eigenschaften 9 Beweis. Nach Definition teilt S die Strecke AB genau dann im goldenen Schnitt, wenn AB M = M m. Wegen AB = M + m ist dies äquivalent zu ) M + m ( M m = m M ( M ) m + 1 = m ( M ) M m m 1 = 0. Das Polynom x x 1 besitzt die Nullstellen x 1/ = 1± 5 (z.b. durch die p-q-formel ermittelt). Da M und m und somit auch M m positiv sind, folgt M m = 1+ 5. Die im Satz gefundene Konstante bezeichnen wir ab jetzt mit φ. Der Ausdruck goldener Schnitt kann in dreifacher Weise gebraucht werden: als Bezeichnung für den Vorgang der Teilung ( S teilt AB im goldenen Schnitt ), als Bezeichnung für den Teilungspunkt S oder als Bezeichnung für die Zahl φ. Die folgende Proposition gibt einige nützliche Eigenschaften des goldenen Schnittes an. Proposition.. (a) Es gilt φ = φ + 1. Umgekehrt gilt: Ist x eine positive, reelle Zahl mit x = x + 1, so ist x = φ. (b) 1 φ = φ 1 = 5 1 (c) φ + 1 φ = 5. Beweis. zu (a): Teil (a) ergibt sich direkt aus dem Beweis von Satz.1. zu (b): Multipliziert man die Gleichung in (a) mit 1, so erhalten wir φ φ = 1 + 1 φ und damit zu (c): Mit (b) rechnet man 1 φ = φ 1 = 1 + 5 1 = φ + 1 φ = 1 + 5 + 5 1 5 1. = 5. Bemerkung.1. Aus Proposition. folgt u.a., dass sich beliebige positive und negative Potenzen von φ als lineare Ausdrücke in φ, d.h. in der Form aφ + b mit ganzzahligen a und b, schreiben lassen.

10 DER GOLDENE SCHNITT Beispiel.1. Mit Hilfe von Proposition. rechnet man nach: φ 3 +φ = φ φ + 1 φ 1 φ = φ(φ+1)+(φ 1) = φ φ+1 = (φ+1) φ+1 = φ+3. Wir fassen alle wichtigen Eigenschaften des goldenen Schnittes in dem folgenden Satz zusammen: Satz.3. Eine Strecke AB habe die Länge a, und S sei ein Punkt dieser Strecke. Wenn wir mit M die Länge der längeren Teilstrecke und mit m die Länge der kürzeren Teilstrecke bezeichnen, dann sind folgende Aussagen äquivalent: (1) S teilt AB im goldenen Schnitt () M = φ m (3) ( ) M m = M + 1 m (4) a M = φ (5) a m = φ + 1 Beweis. Die Äquivalenz von (1) und () ist Aussage des Satzes.1. Die Äquivalenz von () und (3) folgt direkt aus Teil (a) der Proposition.. (1) (4): Nach Definition des goldenen Schnittes ist (1) genau dann wahr, wenn am = M gilt. Wegen a = M + m folgt daraus am = M a(a M) = M a = M + am ( a ) a = M M + 1. Nach Proposition. ist dies gleichbedeutend zu a M = φ. (1) (5): Wegen M = a m erhalten wir M = am (a m) = am ( a m ) a = m m = a m m + 1 a m m = φ a m = a m m + 1 = φ + 1 Aus Proposition. kann man noch zwei weitere Darstellung der Zahl φ herleiten. Nach Teil (b) der Proposition gilt die Gleichung φ = 1+ 1. Durch dieselbe Gleichung φ können wir das φ im Nenner ersetzen, so dass φ = 1+ 1. Setzen wir dies unendlich 1+ 1 φ oft fort, so erhalten wir für φ den (unendlichen) Kettenbruch 1 φ = 1 + 1 1 + 1+ 1 1+ 1+... 1.

. Konstruktionen des goldenen Schnitts 11 Bemerkenswert ist, dass dieser Kettenbruch nur aus Einsen besteht. Aus Teil (a) der Proposition. folgt außerdem φ = 1 + φ. Ersetzt man hier das φ unter der Wurzel wieder durch dieselbe Gleichung, so erhält man φ = 1 + 1 + φ. Iterativ ergibt sich also für φ die Darstellung φ = 1 + 1 + 1 + 1 +.... In Erweiterung des goldenen Schnittes nennen wir ein Rechteck golden, falls sich die Längen seiner Seiten wie φ : 1 verhalten.. Konstruktionen des goldenen Schnitts Unter Verwendung der Konstante φ aus dem vorangegangenen Abschnitt kann man zu einer vorgegebenen Strecke den goldenen Schnitt berechnen und mit einem hinreichend genauen Lineal (zumindest annähernd) abmessen. Im Falle des goldenen Schnittes sind aber auch Konstruktionen mit Zirkel und Lineal möglich, von denen ich hier einige vorstellen möchte. Dabei unterscheidet man eine innere und eine äußere Teilung. Bei der inneren Teilung wird ein Punkt einer vorgegebenen Strecke konstruiert, der die Strecke im goldenen Schnitt teilt. Im Gegensatz dazu wird bei der äußeren Teilung ein Punkt auf der Verlängerung der ursprünglichen Strecke konstruiert, der die vorhandene Strecke zum (größeren) Teil des goldenen Schnittes macht. Ein klassisches Verfahren der inneren Teilung, das auf Heron von Alexandria (1. Jh. n. Chr.) zurückgeht und wegen seiner Einfachheit sehr beliebt ist, funktioniert folgendermaßen: 1. Man errichte auf der gegebenen Strecke AB im Punkt B eine Senkrechte der halben Länge von AB mit dem Endpunkt C.. Der Kreis um C mit Radius CB schneidet die Verbindung AC in einem Punkt D. 3. Der Kreis um A mit dem Radius AD teilt die Strecke AB im Verhältnis des goldenen Schnittes. Die Konstruktionen im ersten Schritt (Fällen des Lots und Abtragen der halben Länge einer Strecke) erläutere ich hier nicht näher. Die folgende Grafik verdeutlich das Verfahren: C D A S B

1 DER GOLDENE SCHNITT Begründung. Sei a die Länge der Strecke AB. Nach dem Satz des Pythagoras gilt ( a AC = a + BC = a 5a + = ) 5 AC = 4 a. Aufgrund der Konstruktion des Punktes D gilt CD = BC = a. Mit Proposition. folgt dann 5 AS = AD = AC CD = a a 5 1 = a = a φ. Für das Verhältnis der Seitenlängen erhalten wir also AB AS = a a φ = φ. Nach Satz.3 ist dies gleichbedeutend dazu, dass S die Strecke AB im goldenen Schnitt teilt. Die folgende Konstruktion stammt von Euklid und ist somit älter als die soeben vorgestellte. Wir beginnen wieder mit einer gegebenen Strecke AB, die nach dem goldenen Schnitt zu teilen ist. 1. Errichte auf der gegeben Strecke AB im Punkt A eine Senkrechte der halben Länge von AB mit dem Endpunkt C.. Schlage um C einen Kreis mit Radius CB und finde den Punkt D als Schnittpunkt dieses Kreises mit der Verlängerung der Strecke CA über A hinaus. 3. Schlage um A einen Kreis mit Radius AD und finde den Punkt S als Schnittpunkt mit der Strecke AB. Im Punkt S wird die Strecke AB im goldenen Schnitt geteilt. C A B D Begründung. Nach Konstruktion in Schritt 3 und aufgrund der Lage der Punkte A, C und D gilt AS = AD = CD AC.

. Konstruktionen des goldenen Schnitts 13 Aufgrund der Konstruktion in Schritt ist CD = CB. Mit Schritt 1 folgt AS = CB AB. Mit Hilfe des Satzes von Pythagoras ergibt sich CB = AB + AC = AB + AB 4 Mit Proposition. erhalten wir insgesamt also AB AS = φ. ( 5 1 ) AS = AB = AB φ, = 5 4 AB. Als Beispiel für eine äußere Teilung einer gegebenen Strecke AS betrachten wir das folgende erst 198 vom amerikanischen Künstler George Odom entdeckte Konstruktionsverfahren: 1. Konstruiere ein gleichseitiges Dreieck mit Eckpunkten X, Y und Z. Die Seitenlänge des Dreiecks sei a.. Konstruiere den Umkreis, also den Kreis, der durch alle Ecken des Dreiecks verläuft. 3. Halbiere zwei Seiten des Dreiecks in den Punkten A und S. 4. Die Verlängerung der Strecke AS schneidet den Kreis in den Punkten B (Verlängerung über S hinaus) und C (Verlängerung über A hinaus). S teilt die Strecke AB im Verhältnis des goldenen Schnittes. Ist die Strecke AS gegeben, so beginnt man mit der Konstruktion des gleichseitigen Dreiecks mit Grundseite AS, verlängert die anderen Seiten auf die doppelte Länge, konstruiert den Umkreis des entstehenden großen gleichseitigen Dreiecks und kann dann auch hier den Schnittpunkt B der Verlängerung von AS mit dem Umkreis bestimmen. Z C A S B X Y

14 DER GOLDENE SCHNITT Begründung. Nach Konstruktion ist Y S = SZ = a. Aus den Strahlensätzen ergibt sich dann AS = a. Mit b sei die Länge der Strecke SB bezeichnet. Aus Symmetriegründen ist dann auch AC = b. Die Strecken Y Z und BC bilden zwei Sehnen, die sich in S schneiden. Nach dem Sehnensatz gilt a = SY SZ = SB SC = b(a + b). Division durch b liefert die Gleichung ( a ) a = b b + 1. Nach Proposition. bzw. Satz.3 ist dies äquivalent zu a = φ, nach Satz.3 teilt b S die Strecke AB also im goldenen Schnitt. Bemerkung.. Es gibt eine weitere Begründung, die ohne den Sehnensatz auskommt. Dazu zeichnet man die Höhe auf der Grundseite XY ein. Den Schnittpunkt mit AS bezeichne man mit P. Auch der Mittelpunkt M des Umkreises liegt auf dieser Strecke. Nach den Strahlensätzen ist P S = 1 a. Als Höhe des gleichseitigen Dreiecks XY Z ermittelt man 3 a. Der Umkreisradius beträgt r = 3 3 a. Wendet man den Satz des Pythagoras auf das rechtwinklige Dreieck MP B an, so erhält man P B + P M = MB Umformen liefert die Gleichung ( 1 a + b ) + ( 3 b + ab a = 0. 3 ) ( 3 a a ). = 3 a 3 Die einzige positive Lösung dieser Gleichung ist b = a + 5 a = 5 1 a. Wegen 5 1 = φ teilt S die Strecke AB im goldenen Schnitt. a = b.3 Fibonacci-Zahlen und goldener Schnitt Diesen Abschnitt möchte ich mit einem einführenden Beispiel beginnen. Wir betrachten die Vermehrung von Kaninchenpaaren unter idealisierten Bedingungen. Man macht folgende Annahmen: Jedes Kaninchenpaar wird im Alter von zwei Monaten fortpflanzungsfähig. Jedes fortpflanzungsfähige Kaninchenpaar bringt jeden Monat ein neues Paar zur Welt. Alle Kaninchen leben ewig. Im ersten Monat beginnen wir mit einem neugeborenen Kaninchenpaar. Dieses ist noch nicht fortpflanzungsfähig, so dass auch im zweiten Monat nur dieses eine Kaninchenpaar lebt. Jetzt ist das Paar jedoch fortpflanzungsfähig und bringt ein neues Kaninchenpaar zur Welt. Im dritten Monat sind also insgesamt zwei Kaninchenpaare vorhanden. Das neugeborene Kaninchenpaar kann sich im dritten Monat noch nicht fortpflanzen, das ursprüngliche Paar bringt aber erneut ein Kaninchenpaar zur Welt, so dass im vierten Monat insgesamt drei Kaninchenpaare existieren. Das folgende Diagramm veranschaulicht die Vermehrung der Kaninchenpaare. Dabei steht x für ein nicht fortpflanzungsfähiges Paar und o für ein gebärfähiges Paar.

.3 Fibonacci-Zahlen und goldener Schnitt 15 x o x o o x o x o o x o o x o x o o x o Bezeichne f n die Anzahl der Kaninchenpaare im n-ten Monat. Treiben wir unser Gedankenexperiment weiter, so erhalten wir die Folge f 1 = 1, f = 1, f 3 =, f 4 = 3, f 5 = 5, f 6 = 8, f 7 = 13,... Doch wie geht es dann weiter? Eine Antwort gibt Proposition.4. Für alle n N gilt f n+ = f n + f n+1. Beweis. Wir betrachten die Situation im (n + 1)-ten Monat. Zu diesem Zeitpunkt gibt es nach Definition genau f n+1 Kaninchenpaare. Von diesen sind genau f n Paare gebärfähig, nämlich diejenigen, die schon im n-ten Monat gelebt haben. Im (n + )- ten Monat bringen also genau f n der f n+1 Paare ein junges Paar zur Welt, d.h. es gilt f n+ = Anzahl der Kaninchenpaare im (n + 1)-ten Monat +Anzahl der Paare, die im (n + )-ten Monat geboren werden = f n+1 + f n. Zu Ehren von Leonardo von Pisa (ca. 1170-ca. 140), der auch Leonardo Fibonacci (kurz für filius bonacci Sohn des Bonacci) genannt wurde und die Folge 17 anhand der obigen Aufgabe in seinem Buch Liber Abaci beschrieb, definiert man Definition.. Die Zahlenfolge (f n ) n N mit f 1 = 1, f = 1 und heißt Fibonacci-Folge. f n+ = f n+1 + f n, für alle n N, Die Folge war jedoch schon in der Antike um 100 v. Chr. bekannt, im asiatischen Raum sogar noch früher. Das einführende Beispiel ist zugegebenermaßen unrealistisch: Kein Kaninchen lebt ewig und bringt immer ein Kaninchenpaar zur Welt. Auch gibt es natürliche Wachstumshemmnisse (Futtermangel, Raubtiere), die den Bestand der Kaninchen nicht beliebig anwachsen lassen. Realistischer ist da schon das folgende Beispiel aus der Natur.

16 DER GOLDENE SCHNITT Beispiel.. Eine Drohne (männliche Biene) schlüpft aus einem unbefruchteten Ei einer Bienenkönigin, während aus den befruchteten Eiern die weiblichen Arbeiterbienen und Königinnen schlüpfen. Eine Drohne hat also nur ein Elter, während Königinnen zwei Eltern haben. Anhand des folgenden Diagramms wird klar, dass in der n-ten Vorfahrengeneration genau f n Vorfahren existieren, und zwar f n 1 weibliche und f n männliche. D K K D K K D K D K K D K K D K D K K D K D K K D K K D K D K K D Es gibt jedoch weitere Folgen, die die Rekursionseigenschaft der Fibonacci-Folge besitzen. Definition.3. Eine Folge (a n ) n N reeller Zahlen heißt eine Lucas-Folge, falls für alle n N gilt a n+ = a n+1 + a n. Die Lucas-Folge mit den beiden Anfangswerten a 1 = 1 und a = 1 ist gerade die Fibonacci-Folge. Beispiel.3. Bezeichnet man die Potenzen φ n der Zahl φ mit u n, so gilt nach Proposition. für alle n N u n+ = φ n+ = φ n φ = φ n (φ + 1) = φ n+1 + φ n = u n+1 + u n. Die Folge (u n ) n N ist also ebenfalls eine Lucas-Folge. Gleiches gilt für die Folge (v n ) n N mit v n = ( n, φ) 1 denn nach Proposition. gilt v n+ = = ( 1 ) n+ ( = 1 n ( φ φ) 1 ) ( = 1 n φ φ) 1 φ ( φ) 1 n ( 1 1 ) ( = 1 ) n ( + 1 n+1 = vn + v n+1. φ φ φ) Zwischen der Fibonacci-Folge und einer beliebigen Lucas-Folge besteht folgender Zusammenhang: Proposition.5. Für jede Lucas-Folge (a n ) n N und für jede natürliche Zahl k gilt a k+1 = f k a + f k 1 a 1.

.3 Fibonacci-Zahlen und goldener Schnitt 17 Beweis. Die Aussage beweisen wir mittels Induktion nach k. Für k = gilt nach Definition.3 und Definition. und a +1 = a 3 = a + a 1 = 1 a + 1 a 1 = f a + f 1 a 1 a 3+1 = a 4 = a 3 + a = a + a 1 + a = a + 1 a 1 = f 3 a + f a 1. Wir nehmen nun an, dass die Formel für k 1 und k (k 3) bereits bewiesen sei. Dann folgt a k+1+1 = a k+ = a k+1 + a k = f k a + f k 1 a 1 + f k 1 a + f k a 1 = (f k + f k 1 )a + (f k 1 + f k )a 1 = f k+1 a + f k a 1. Die Formel gilt also auch für k + 1. Mit Hilfe der bisherigen Ergebnisse können wir die berühmte Binet-Formel herleiten, die eine explizite Darstellung der Fibonacci-Zahlen mit Hilfe des goldenen Schnittes erlaubt. Sie ist nach dem französischen Mathematiker Jaques Philippe Marie Binet (1786-1856) benannt, der die Formel 1843 fand. In manchen Quellen wird die Formel korrekterweise auch Moivre-Binet-Formel genannt, da sie bereits im Jahr 1718 durch den französischen Mathematiker Abraham de Moivre (1667-1754) entdeckt wurde. Satz.6 (Binet-Formel). Für alle natürlichen Zahlen n gilt ) n f n = φn ( 1 φ = 1 [( 1 + 5 ) n ( 1 5 ) n ]. 5 5 Beweis. Wegen φ ( 1 φ 5 ) = φ + 1 φ = 1 = f 1 5 ist die Binet-Formel auch für n = 1 richtig. Wendet man Proposition.5 auf die beiden Lucas-Folgen (u n ) n N und (v n ) n N aus Beispiel.3 an, so erhält man für n die Gleichungen φ n = f n φ + f n 1 und ( 1 ) n = fn 1 f n φ φ. Dies sieht man auf folgende Weise ein: Für n = entspricht die erste Gleichung dem Teil (a) von Proposition.. Für n 3 erhalten wir mit Proposition.5 und Proposition. φ n = u n = f n 1 u + f n u 1 = f n 1 φ + f n φ = f n 1 (φ + 1) + f n φ = (f n 1 + f n )φ + f n 1 = f n φ + f n 1. Nach Proposition. gilt 1 φ = φ 1 φ = 1 1 φ = f 1 f φ.

18 DER GOLDENE SCHNITT Die zweite der Gleichungen ist also für n = richtig. Mit Proposition.5 und Proposition. ergibt sich zudem für n 3 ( 1 ) n = v n = f n 1 v + f n v 1 = f n 1 φ φ f n φ ( = f n 1 1 1 ) 1 f n φ φ = f n 1 (f n 1 + f n ) 1 φ = f n 1 f n φ. Durch Subtraktion der beiden Gleichungen folgt für n mittels (c) aus Proposition. ( φ n 1 ) n = fn φ + f ( n φ φ = f n φ + 1 ) = f n 5. φ Bemerkung.3. Erstaunlicherweise heben sich für alle n N die irrationalen Terme gegenseitig auf, so dass die Formel stets ganzzahlige Werte liefert. Nun betrachten wir die Fibonacci-Quotienten f n+1. Die ersten Werte der Folge ( fn+1 f n ) n N lauten 1; 1, 5; 1, 666... ; 1, 6; 1, 65;... Wir erkennen, dass sich die Quotienten der Zahl φ annähern. Tatsächlich gilt: Satz.7. Die Folge ( f n+1 f n )n N f n konvergiert gegen φ. Beweis. Setze x n = f n+1 f n für n 1. 1. Schritt: Es gilt x n = 1 + 1 x n 1 für n, denn. Schritt: Für n gilt 1 + 1 x n 1 = 1 + f n 1 f n = f n + f n 1 f n = f n+1 f n = x n. φ x n = φ x n 1 φ x n 1, denn mit dem ersten Schritt und (b) aus Proposition. folgt 3. Schritt: Für n gilt φ x n = 1 + 1 φ ( 1 + 1 x n 1 ) = x n 1 φ φ x n 1. φ x n φ x φ n. Wegen x n+1 1 folgt aus dem zweiten Schritt nämlich φ x n φ x n 1, φ woraus sich iterativ die behauptete Ungleichung ergibt. Da φ > 1, wird φ x für wachsendes n beliebig klein. Nach der Ungleichung aus φ n dem dritten Schritt konvergiert dann aber (x n ) n N gegen φ.

.4 Auftreten des goldenen Schnittes und der Fibonacci-Zahlen 19.4 Auftreten des goldenen Schnittes und der Fibonacci-Zahlen Im Fruchtstand der Sonnenblume sind die Kerne in spiralförmigen Linien angeordnet. Jeder Kern gehört zu genau einer linksdrehenden und zu genau einer rechtsdrehenden Spirallinie. Abbildung 1: Spiralenförmige Anordnung der Kerne in der Sonnenblume. Quelle: http://members.chello.at Die Anzahlen der linksdrehenden Spirallinien sind keine beliebigen Zahlen, sondern Fibonacci-Zahlen. Auch als Anzahl der rechtsdrehenden Spirallinien erhalten wir eine Fibonacci-Zahl, allerdings nicht die gleiche, sondern eine benachbarte. Das gleiche Prinzip findet man auch bei Gänseblümchen, bei Tannenzapfen, bei Pinienzapfen, beim Kohl und bei der Ananas. Dies hängt damit zusammen, dass das Keimzentrum den jeweils nächsten Samen immer um einen Winkel von etwa 137,5 bzw.,5 (wenn man in der anderen Richtung misst) versetzt entstehen lässt. Es gilt 360, 5 1, 618 und, 5 137, 5 1, 618, Beide Winkel teilen den Vollwinkel also im Verhältnis des goldenen Schnittes, man spricht deshalb auch vom goldenen Winkel. Dieses Verhältnis kann nach Satz.7 gut durch das Verhältnis zweier benachbarter Fibonacci-Zahlen approximiert werden. Pflanzen bevorzugen den goldenen Winkel, weil mit ihm auf kleiner Fläche viele Samen untergebracht werden können. Wir treffen erneut auf die Fibonacci-Zahlen bzw. den goldenen Schnitt, wenn wir die Blattstellungen verschiedener Pflanzen in der Biologie Phyllotaxis genannt betrachten. Bei Ulme und Linde sind die Blätter abwechselnd auf der einen oder der anderen Seite angeordnet, man spricht hier auch von 1 -Phyllotaxis. Bei Buche und Haselnuss bilden benachbarte Blätter einen Winkel von 1 eines Vollkreises. 3 Biologisch ausgedrückt liegt hier 1 -Phyllotaxis vor. Weitere Werte sind: 3 Aprikose, Apfelbaum, Eiche: 5 -Phyllotaxis Pappel, Birnbaum: 3 8 -Phyllotaxis Weide, Mandelbaum: 5 13 -Phyllotaxis Wir erkennen, dass es sich stets um Quotienten von Fibonacci-Zahlen handelt. Wenn wir bedenken, dass eine Drehung um 3 eines Vollwinkels im Uhrzeigersinn einer 8 Drehung um 5 eines Vollwinkels gegen den Uhrzeigersinn entspricht, so handelt es 8

0 DER GOLDENE SCHNITT sich sogar um Quotienten benachbarter Fibonacci-Zahlen, die nach Satz.7 eine gute Näherung an den goldenen Schnitt darstellen. Der goldene Schnitt ist auch bei den Proportionen des Körpers von Bienen zu finden. Abbildung : Der goldene Schnitt bei der Biene. Quelle: www.michael-holzapfel.de Neben dem natürlichen Auftreten des goldenen Schnittes wurde dieses besondere Teilungsverhältnis aufgrund seiner harmonischen Wirkung auch oft in der Architektur angewendet. Vielfach ist jedoch umstritten, ob dies bewusst geschehen ist, da eindeutige Hinweise darauf mitunter fehlen. So ist auch nicht sicher, ob die alten Ägypter den goldenen Schnitt beim Bau der Pyramiden verwendet haben. Hingegen sprechen viele Anzeichen dafür, dass der goldene Schnitt in der griechischen Architektur eine große Rolle gespielt hat, und zwar schon 150 Jahre vor der schriftlichen, systematischen Behandlung durch Euklid. Als Beispiel sei hier der Parthenon genannt, den Perikles zwischen 447 und 43 v. Chr. bauen ließ. Abbildung 3: Der goldene Schnitt am Parthenon. Quelle: www.golden-section.eu Gemäß Bild 3 stehen der Oberbau, der vom Giebel bis zu den Säulen reicht, und der Unterbau, der die Säulen und Stufen umfasst, überraschend exakt im Verhältnis des goldenen Schnittes. Zudem passt die Vorderfront fast exakt in ein goldenes Rechteck (vgl. Bild 4). Auch an Kapitellen und Gebälk verschiedener klassischer Bauten in Athen findet sich der goldene Schnitt. Abbildung 4: Der Parthenon im goldenen Rechteck. Quelle: www.golden-section.eu

.4 Auftreten des goldenen Schnittes und der Fibonacci-Zahlen 1 Seine Blütezeit erlebte der goldene Schnitt in der Renaissance. Als Beispiel für seine Verwendung in dieser Epoche wird häufig das Alte Rathaus in Leipzig angeführt, das in den Jahren 1556/57 im Auftrag des regierenden Bürgermeisters Hieronymus Lotter umgebaut wurde. Abbildung 5: Altes Rathaus Leipzig, Quelle: wikipedia Der Turm des Rathauses teilt das Gebäude (in etwa) im Verhältnis des goldenen Schnittes. Auch an vielen Gemälden, Reliefs und Plastiken wurde der goldene Schnitt nachgewiesen bzw. nachgemessen. Seine Funktion ist einerseits, zur harmonischen Aufteilung des gesamten Kunstwerkes beizutragen; zum anderen dient er dazu, wichtige Details besonders zu betonen. Wie bei den architektonischen Beispielen ist hier jedoch ebenfalls häufig umstritten, ob der goldene Schnitt bewusst angewendet wurde, da keine Aufzeichnungen dazu existieren. Albrecht Dürer (1471-158), der nicht nur Maler sondern auch Mathematiker war, hat den goldenen Schnitt höchstwahrscheinlich als Gestaltungsgrundlage einiger Bilder verwendet. Als Beispiel betrachten wir das Selbstbildnis mit Pelzrock von 1500. Abbildung 6: Albrecht Dürer: Selbstbildnis im Pelzrock, 1500 Quelle: wikipedia

DER GOLDENE SCHNITT Auffällig ist, dass der Kopf mit den wallenden Haaren ein gleichseitiges Dreieck bildet. Die Basis dieses Dreiecks, die mit der Spitze des weißen Hemdes zusammentrifft, teilt die Höhe des Gesamtbildes im goldenen Schnitt. Ebenso teilen die senkrechten, das Gesicht begrenzenden Linien die Breite des Bildes annähernd im goldenen Schnitt. In der Sixtinischen Madonna (1514) von Raffaelo Santi (genannt Raffael) (1483-150) lässt sich der goldene Schnitt ebenfalls mehrfach nachweisen. Abbildung 7: Raffael: Sixtinische Madonna, 1514 Quelle: www.michael-holzapfel.de Auch in der Fotografie wird häufig die Aufteilung des Bildes im Verhältnis des goldenen Schnittes empfohlen, um einen harmonischen Gesamteindruck zu erzeugen. In der Musik gibt es zwei Möglichkeiten, wie der goldene Schnitt zur Gestaltung herangezogen werden kann. Zum einen können Tonintervalle gemäß dem goldenen Schnitt gewählt werden. Zum anderen können musikalische Werke aus mehreren Teilen bestehen, deren Längen zueinander im Verhältnis des goldenen Schnittes stehen. Es gibt Untersuchungen, nach denen z.b. Béla Bartók (1881-1945) seine Kompositionen gemäß dem goldenen Schnitt gestaltet haben könnte, dies ist allerdings umstritten. Als Beispiel wird häufig die Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug angeführt. Auffällig ist, dass die gesamte Sonate genau 643 Achtelnoten umfasst und der zweite Satz nach 3975 Achtelnoten beginnt dies entspricht ziemlich genau dem goldenen Schnitt. In neueren Werken werden jedoch bewusst Fibonacci-Zahlen zur Proportionierung benutzt, etwa im Klavierstück IX von Karlheinz Stockhausen oder in der Spektralmusik von Gérard Grisey. Auch im Musikinstrumentenbau selbst findet der goldene Schnitt gelegentlich Verwendung. Insbesondere beim Geigenbau soll er für einen besonders schönen Klang der Instrumente sorgen. Es wird sogar behauptet, dass der berühmte Geigenbauer Stradivari den goldenen Schnitt verwendete, diese Behauptung basiert jedoch nur auf nachträglichen Analysen.

3 3 Die Mathematik in der Musik Mathematik und Musik erscheinen auf den ersten Blick sehr verschieden. Dennoch gibt es zahlreiche Aspekte der Musik, in denen Mathematik eine Rolle spielt. Dies fängt schon damit an, dass Klänge nichts anderes als Schallwellen sind, zu deren Beschreibung die Mathematik herangezogen werden muss. Auch die Abstände zwischen verschiedenen Tönen sind nicht beliebig gewählt, sondern beruhen auf mathematischen Überlegungen. Bei der Festlegung dieser sog. Tonintervalle tritt ein Problem zutage, das historisch durch verschiedene Stimmungen gelöst wurde. Mit diesem Hintergrundwissen wollen wir dann untersuchen, wie man Klänge verschiedener Instrumente mit Hilfe der Mathematik synthetisieren kann. Und auch beim Komponieren selbst kann Mathematik eingesetzt werden. 3.1 Tonerzeugung Bei allen Musikinstrumenten entstehen Töne durch einen Schwingungsvorgang: Bei einer Geige schwingt die Saite, wenn sie gezupft oder gestrichen wird. In einem Klavier oder Flügel entstehen die Töne ebenfalls durch das Schwingen der Saiten, die jedoch diesmal von Hämmerchen angeschlagen werden. Auch in Orgelpfeifen oder Flöten entstehen Töne durch die Schwingung der darin befindlichen Luftsäule. Sogar der Mensch selbst kann beim Singen (mehr oder weniger wohlklingende) Töne produzieren, wenn er seine/ihre Stimmbänder in geeignete Schwingungen versetzt. In diesem Abschnitt wollen wir kurz auf die mathematischen und physikalischen Hintergründe von Schwingungen eingehen. Dabei wird eine Funktion vorkommen, die von zwei Variablen abhängt. Für derartige Funktionen müssen wir einen neuen Ableitungsbegriff einführen. Wir wollen damit beginnen, festzulegen, was wir unter einer Funktion verstehen. Definition 3.1. Eine Funktion ist eine Beziehung zwischen zwei Mengen D und W, die jedem Element x aus dem Definitionsbereich D genau einen Wert f(x) aus dem Wertebereich W zuordnet. Neben der aus der Schule bekannten Notation ist in der Mathematik auch die Notation f : D W, x f(x) gebräuchlich. Weiterhin benötigen wir den Begriff der Konvergenz. Dabei kann man sich eine reelle Folge (x n ) n N als unendlich lange Liste (x 1, x, x 3,...) von reellen Zahlen vorstellen. Definition 3.. Eine reelle Folge (x n ) n N heißt konvergent gegen x R, wenn gilt ε > 0 n 0 N n n 0 : x n x < ε. In diesem Fall schreiben wir lim n x n = x. Anschaulich heißt das, dass es zu jedem ε > 0 einen Index n 0 N gibt, ab dem alle Folgenglieder x n von x um weniger als ε entfernt sind. Die Folgenglieder nähern sich also beliebig nah dem Wert x an. Diese Definition ist uns bereits in Beispiel 1.3 begegnet. Ohne Beweis bemerken wir:

4 3 DIE MATHEMATIK IN DER MUSIK Bemerkung 3.1. Sind (x n ) n N und (y n ) n N konvergente Zahlenfolgen mit lim n x n = x und lim n y n = y, dann gilt auch lim (x n + y n ) = x + y ; n lim (x n y n ) = x y ; n x n lim = x, falls y 0. n y n y Es gibt Funktionen, bei denen eine kleine Änderung im Definitionsbereich nur zu einer geringfügigen Änderung des Funktionswerts führt. Formal definiert man Definition 3.3. Sei D R. Eine Funktion f : D R heißt stetig im Punkt a D, wenn ε > 0 δ > 0 x D : ( x a < δ f(x) f(a) < ε). Eine Funktion f : D R heißt stetig, wenn sie in jedem Punkt a D stetig ist. Da wir uns hier ausschließlich im Reellen befinden, genügt es, sich statt der Definition das folgende Kriterium zu merken: Satz 3.1. Eine Funktion f : D R ist in a D genau dann stetig, wenn für jede Folge (x n ) n N in D, die gegen a konvergiert, die Folge (f(x n )) n N der Funktionswerte gegen f(a) konvergiert. Nun zur Differenzierbarkeit. Anschaulich ist durch zwei Punkte (x 0, f(x 0 )) und (x, f(x)) des Graphen der Funktion f eine Gerade festgelegt, die durch diese Punkte geht. Die Steigung der Geraden ist f(x) f(x 0) x x 0. Diesen Quotienten bezeichnet man auch als Differenzenquotient. Verschieben wir nun x immer näher an x 0, so wird aus der Sekante im Grenzfall eine Tangente an den Punkt (x 0, f(x 0 )), sofern diese existiert. Das bekannteste Beispiel einer in 0 nicht differenzierbaren Funktion ist die Betragsfunktion. Die Steigung der entstehenden Tangente wollen wir als Ableitung der Funktion im Punkt x 0 definieren. Definition 3.4. Sei [a, b] R. Eine Funktion f : [a, b] R heißt in x 0 (a, b) differenzierbar, wenn es eine reelle Zahl A gibt, so dass f(x) f(x 0 ) lim = A. x x 0 x x 0 Der Wert A heißt dann Ableitung von f in x 0 und wird mit f (x 0 ) oder df dx (x 0) bezeichnet. Die Funktion f heißt differenzierbar, wenn sie in allen Punkten x 0 differenzierbar ist. Die Funktion f heißt stetig differenzierbar (in x 0 ), wenn sie (in x 0 ) differenzierbar und f (in x 0 ) stetig ist. Die Funktion f heißt zweimal differenzierbar (in x 0 ), wenn f und ihre Ableitung f (in x 0 ) differenzierbar sind. Man kann zeigen, dass jede in einem Punkt x 0 differenzierbare Funktion auch stetig in x 0 ist. Der folgende Satz fasst einige Rechenregeln für Ableitungen zusammen. Satz 3.. Seien f, g : (a, b) R in einem Punkt x 0 differenzierbare Funktionen und α, β R. Dann sind auch die Funktionen αf + βg, f g und, falls g(x 0 ) 0, die Funktion f g differenzierbar in x 0. Für die Ableitungen gilt (αf + βg) (x 0 ) = αf (x 0 ) + βg (x 0 ), (f g) (x 0 ) = f (x 0 ) g(x 0 ) + f(x 0 ) g (x 0 ) sowie ( f g ) (x0 ) = f (x 0 ) g(x 0 ) f(x 0 )g (x 0 ). g (x 0 )

3.1 Tonerzeugung 5 Einen Beweis finden Sie in Analysisbüchern. Darin schreibt man zunächst die jeweiligen Differenzenquotienten auf, zerlegt sie in eine Summe von Termen und untersucht die einzelnen Summanden auf Konvergenz. Mit Bemerkung 3.1 folgt dann die Konvergenz des Differenzenquotienten und somit die Differenzierbarkeit. Ferner gilt die Kettenregel: Satz 3.3 (Kettenregel). Ist f : (a, b) R differenzierbar in (a, b), J = f((a, b)) = {y R : x (a, b) : y = f(x)} und ist g : J R differenzierbar in J, so ist die Hintereinanderausführung g f : (a, b) R, x g(f(x)) differenzierbar in (a, b) und es gilt die Kettenregel (g f) (x) = g (f(x)) f (x). Beispiel 3.1. Eine konstante Funktion, d.h. eine Funktion mit f(x) = c für alle x R und ein c R, ist differenzierbar mit Ableitung f (x) = 0. Man kann elementar nachrechnen, dass die Funktion f(x) = x differenzierbar ist mit Ableitung f (x) = 1. Durch Induktion nach n folgt daraus mit Satz 3., dass auch f(x) = x n für n N auf R differenzierbar ist mit f (x) = nx n 1. Ebenfalls nach Satz 3. ist dann auch jedes Polynom f(x) = n k=0 a kx k = a n x n + + a 1 x + a 0 differenzierbar mit Ableitung f (x) = n k=1 a kkx k 1 = a n nx n 1 + + a 1. Ohne Beweis stellen wir weitere Ableitungen verschiedener Funktionen zusammen: exp (x) = exp(x), sin (x) = cos(x), cos (x) = sin(x), ln (x) = 1 x. Sei nun eine Funktion f gegeben, die von zwei Variablen x und y abhänge. Für festes y = y 0 können wir f(x, y 0 ) als Funktion von x auffassen, für festes x = x 0 die Funktion f(x 0, y) als Funktion von y. Beide Funktionen können wir nun gemäß Definition 3.4 auf Differenzierbarkeit untersuchen. Dies führt uns zur nächsten Definition. Definition 3.5. Eine Funktion f : [a, b] [c, d] R heißt an einer Stelle (x 0, y 0 ) (a, b) (c, d) partiell nach x (bzw. y) differenzierbar, wenn bei festgehaltenem y = y 0 (bzw. x = x 0 ) die Funktion x f(x, y 0 ) (bzw. y f(x 0, y)) in x 0 (bzw. y 0 ) differenzierbar ist, wenn also f(x 0 + h, y 0 ) f(x 0, y 0 ) h ( bzw. f(x 0, y 0 + h) f(x 0, y 0 ) h für h 0 gegen eine reelle Zahl konvergiert. Der Grenzwert heißt partielle Ableitung nach x in (x 0, y 0 ) (bzw. nach y in (x 0, y 0 )) und wird mit f x (x 0, y 0 ) ( bzw. f ) y (x 0, y 0 ) bezeichnet. Die Funktion f heißt partiell nach x (bzw. nach y) differenzierbar, wenn sie in allen Punkten (x 0, y 0 ) (a, b) (c, d) partiell nach x (bzw. y) differenzierbar ist. Das Zeichen ersetzt in der partiellen Ableitung das d der klassischen Ableitung und wird del gesprochen. )

6 3 DIE MATHEMATIK IN DER MUSIK Beispiel 3.. Bei den folgenden Berechnungen wird das Beispiel 3.1 herangezogen. a) Wir betrachten die Funktion f(x, y) = 6x +5xy 7y +3x+y 13. Als partielle Ableitungen berechnen wir f f (x, y) = 1x + 5y + 3 und (x, y) = 5x 14y +. x y b) Die Funktion f(x, y) = ln(xy ) ist partiell nach x und y differenzierbar mit partiellen Ableitungen f 1 (x, y) = x xy y = 1 x f 1 und (x, y) = y xy xy = y. Hierbei wird u.a. die Kettenregel aus Satz 3.3 verwendet. Wir betrachten nun eine vollkommen elastische und biegsame Saite mit konstanter linearer Massendichte ρ 0 (Masse pro Längeneinheit), die an beiden Enden zwischen den Punkte 0 und L fixiert ist. Die konstante Spannung der Saite sei mit S bezeichnet. Wir lenken nun die Saite vertikal aus ihrer Ruhelage aus und wollen die vertikale Auslenkung u = u(t, x) in Abhängigkeit von Zeit und Ort bestimmen. Dabei nehmen wir an, dass die Auslenkung klein ist, so dass horizontale Bewegungen vernachlässigt werden können. Auch gehen wir davon aus, dass sich die Saite wieder vollständig in ihre Ruhelage zurückbewegen kann, also keine plastischen Veränderungen auftreten. Wir betrachten nun ein kleines Stück [x, x+ x] der Saite. Unsere Herleitung beruht auf dem Newtonschen Gesetz Kraft = Masse Beschleunigung. Die Beschleunigung in vertikaler Richtung ist die zweite Ableitung des vertikalen Weges (also der Auslenkung u) nach der Zeit t, d.h. Beschleunigung = t u(t, x) = u tt(t, x). Also ist (ρ 0 x)u tt (t, x) die Kraft, die auf das Stück der Saite mit Länge x wirkt. Um eine Differentialgleichung für die Auslenkung u(t, x) zu erhalten, werden wir einen Zusammenhang zwischen der Kraft und der Spannung S herleiten. Seien S(x) und S(x+ x) die tangentialen Spannungskomponenten an den Punkten x, x+ x [0, L]. Sei weiter α der Winkel zwischen der tangentialen Komponente S(x) in x und der Horizontalen und β der entsprechende Winkel in x + x. Daraus ergeben sich die horizontalen Spannungskomponenten, die aufgrund der Annahme den konstanten Wert S haben, also S(x + x) cos β = S(x) cos α = S. Die vertikalen Spannungskomponenten können ebenso leicht ermittelt werden, und die Differenz der beiden stimmt mit der Kraft überein, die wir mit Hilfe des Newtonschen Gesetzes bestimmt haben: ( ) S(x + x) sin β S(x) sin α = (ρ 0 x)u tt (t, x). Andererseits erhalten wir tan α = u(t, x) = u x x(t, x) bzw. tan β = u(t, x+ x) = x u x (t, x + x). Dividieren wir Gleichung ( ) durch S, so folgt mit Gleichung ( ) Division durch ρ 0 x S ( ) ρ 0 x S u tt(t, x) = tan β tan α = u x (t, x + x) u x (t, x). und Grenzübergang x 0 liefert den Satz